Bisher erschienen:

Bisher erschienen:

Montag, 31. Dezember 2018

Samstag, 20. Oktober 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 39)


Teil 39: Mein persönlicher Exorzismus vor Halloween


Nach einer längeren, zum Teil unfreiwilligen Pause, ein neuer Blogbeitrag. Die Zeit vergeht viel zu schnell. Vor kurzem war es noch Sommer, schweißtreibend und feucht, und schon ist der Herbst fast wieder vorbei. Vor den Fenstern der Indian Summer, sonnig und bunt bei Tag, aber schon ordentlich kalt in der Nacht. Die Squirrels sind geschäftig, der Himmel ist blau, und die Blätter fallen langsam zu Boden. Schon kann ich durch die hohen Baumkronen die Hausdächer vor dem Horizont dahinter erkennen. Bei Sonnenuntergang brennen die Himmel. Unweigerlich muss ich bei ihrem Anblick an die Ghost Rider in the Sky denken. Nicht mehr lange, und der Winter ist da. Und noch viel beeindruckender: Juliane und ich haben das Gefühl, soeben erst in den USA angekommen zu sein und unsere Koffer ausgepackt zu haben, aber schon im März 2019 wird unser Aufenthalt in Connecticut zu Ende gehen. Ein zwiespältiger Gedanke, bis dahin ist nicht mehr so lange hin. Seit unserer Ankunft in New Haven ist viel mit und in uns passiert, Bemerkenswertes und Erinnerungswürdiges hat sich in unseren Leben zugetragen. Vieles davon habe ich hier mit meinen Leserinnen und Lesern geteilt. Danke!
Doch unsere Zeit in den USA ist noch nicht vorbei, und ein neuer Lebensabschnitt steht uns bevor. Ideale Voraussetzungen, um ein altes Übergangsfest mitzufeiern, eine Rite de Passage. Letztes Jahr haben wir gelernt, dass wenn wir Halloween-Stimmung haben wollen, wir sie uns am besten selbst machen. Die Umstände haben sich in den USA wie damals schon berichtet so sehr verändert, dass es all das, was mir aus TV, Film und Comic über Halloween bekannt war, in der freien Wildbahn nicht mehr gab. Jedenfalls nicht in New Haven. Einige Berichte von Zwischenfällen haben sich wie so oft bei diesen Dingen als Schauermär und Urban Legend herausgestellt, aber an einigem ist leider doch etwas dran, und so ziehen keine verkleideten Kinder mehr abends durch New Haven und fordern: Trick or Treat! In unserer Nachbarschaft gibt es vereinzelt aufwendig und lustig geschmückte Häuser. Das Lachen blieb mir beim Vorfahren öfters im Halse stecken, denn ein paar Häuser im nahegelegenen Problemviertel Dixwell wurden rundherum mit Tatortbanderolen umwickelt. Mit Scherzartikeln! Aber auf den ersten Blick und mit bestimmten Erwartungen: Schock! Auf anderen Veranden lehnen lebensgroße Särge samt Inhalt, versteht sich. Unsere unmittelbaren Nachbarn halten sich dagegen doch sehr zurück. Kaum dass ein kleines Kürbisgesicht aus einem Fenster grinst. Intellektuelle Spaßbremsen, wäre ich fast versucht zu sagen. Ganz anders Juliane, die bat mich heuer um einen Kürbiskopf. Ich machte mich also bereit, mit krummen Fingern und scharfer Klinge zur kreativen Tat zu schreiten. Das auszuhöhlende Gemüse wurde auch brav von Peapod geliefert, unserem Lebensmittelzusteller. Bei meinem ersten Versuch, den riesigen Plutzer vom Tisch zu heben und in die Küche zu tragen, hat er mich um ein Haar niedergestreckt. Das renitente Nachtschattengewächs war so schwer, dass es mich von den Füßen riss. 
Dieser Anschlag auf meine männliche Würde durfte nicht unbeantwortet bleiben. Zufrieden beobachtete ich, wie er von meiner Frau mühelos in meine Küche getragen wurde. Wo ich ihn ganz Halloween-mäßig skalpierte und mittels einem Löffel sein Innenleben herausschälte. Mit zwei Löffeln, um ganz ehrlich zu sein. Einer ging mir zu Bruch. Besondere Spannung kam auf, als sich gelegentlich meine Finger verkrampften und mir mein Werkzeug, von dem unerwarteten und heftigen Zucken beflügelt, um die Ohren flog. Doch nichts hielt mich zurück. Der Kürbis wurde niedergerungen! Zum Zeichen meines Sieges über die widerständige und eingeborene Vegetation füllen jetzt etliche Gefrierbeutel mit Kürbisfleisch unser Gefrierfach. Die orangerote Pracht wird auf längere Sicht so manchen Suppentopf füllen. Auf den Gewaltakt folgte der künstlerische Teil. Michelangelo-artig las ich die Form und Oberfläche meines Werkstückes. Zwar keines Marmorblocks, aber eines mächtigen Kürbisses. Und wie der titanische Künstler – zu Lebzeiten und wiederum ganz in der Halloween-Tradition stehend auch „la terrifica“ (das Schrecknis) genannt – es uns gelehrt hat, befreite ich das im Inneren des Kürbis Verborgene ans Licht und schälte sein Gesicht heraus. Mit langen spitzen Zähnen schielte es mich endlich an. Mich, seinen Schöpfer, von Kopf bis Fuß mit Kürbisschnitzeln bedeckt, mir schmerzenden Fingern und Gelenken und ziemlich verschwitzt. Zufrieden legte ich mein Werk der Gattin zu Füßen. Unsere Halloween-Laterne war bereitet. Doch schon nach wenigen Tagen wurde mir klar, dass wir uns ein wenig zu früh gefreut hatten. Erst verzog sich unser neuer Mitbewohner etwas, das heißt, er geriet aus der Form. Und als unser Kürbisfreund schließlich aussah als hätte er vergessen, morgens die Dritten, sein Gebiss, in den Mund zu stecken, begann er ein Düftchen zu verbreiten. Dieses fruchtig-herbe Aroma überzeugte Juliane, dass es für unseren Mitbewohner an der Zeit war, hinaus auf den Balkon zu übersiedeln. Dort bekommt er immer noch jeden Abend eine Kerze angezündet, trotzdem wirkt nun mehr wie ein stummes Denkmal für die Vergänglichkeit alles Irdischen. Das ist ja zu Halloween auch nicht ganz verkehrt. Trotzdem wird er demnächst ein frischeres Brüderlein oder Schwesterlein bekommen. Bestellt ist der neue Kürbis schon. Und der reckenhafte Bildhauer in mir ist bereit, sich die Schürze umzubinden und mit der Klinge in der Hand für seine Holde gegen die Tücken des Fruchtfleisches anzukämpfen. Juliane hat sich schließlich eine Kürbislaterne und kein glühendes Dörrobst als Dekoration unseres Heims gewünscht.
Unser zweites und vielleicht auch letztes Halloween in den Vereinigten Staaten sollte ein bisschen mehr dem Klischee entsprechen, bevor wir nach Europa zurückkehren. Das haben wir mit Halloween gemeinsam, wir kehren nach Mitteleuropa zurück und erscheinen nach allen erfahrenen Veränderungen fremd an unserem Ursprung. In Österreich gibt es ja immer noch sehr viele, die Halloween als ungebetenen Fremden wahrnehmen. Das Fest, heißt es da, hätte bei „uns“ nichts verloren. Vergessen wird, dass eine der drei Wiegen der europäischen Zivilisation neben Athen und Rom im heutigen Oberösterreich liegt: Hallstatt. In Irland werden österreichische Touristen darum gerne als Cousins begrüßt. In England, in unmittelbarer Nähe des legendären Stonehenge, wurde der Bogenschütze von Amesbury anhand seines Zahnschmelzes eindeutig als Alpenländer identifiziert. Der Helm vom Pass Lueg ziert bis heute jede Packung der französischen Zigarettenmarke Gauloises. Den trägt auch das Reiterstandbild für den legendären Römerfeind Vercingetorix in Clermont-Ferrand. Im Verlauf der Geschichte, vor allem aufgrund einiger unschöner Erfahrungen mit den Herren Napoleon und Bismarck, wandten sich die Nachkommen der keltischen Urbevölkerung von dem Avernerfürsten Vercingetorix ab und dem Cherusker Arminius aka Hermann zu. Die Hallstadtkultur ist der Ursprung der großen keltischen Nationen. Halloween begann seine Reise als keltisches Samhain-Fest. In Irland wurde es endlich zu Halloween. Dort war es sicher und überlebte. Europa erlebte ja bekanntlich erst die Völkerwanderung, dann bekam es die Freuden und Segnungen des Christentums zu schmecken: Aus dem rauschhaften Samhain wurde Allerheiligen und Allerseelen. Unsere Vorfahren tauschten das illuminierende Getränk gegen den Schimmer der Grabkerzen. Die pustete Martin Luther mit langem Atem aus und – Voila! –, da ist er, der Reformationstag. Nix mehr Halloween.
Aber als ungefähr zur selben Zeit als in Mitteleuropa die Denkmäler für Vercingetorix und Hermann errichtet wurden, in Irland die große Hungersnot wütete, kam wieder Bewegung in den Rundkurs. Weil alle Kartoffeln ungenießbar wurden, beschlossen unzählige Iren dorthin zu gehen, woher die vermaledeiten Knollen kamen: Nach Amerika. Im Gepäck hatten sie ihren römisch-katholischen Glauben und Halloween. Das machte die Puritaner schaudern, die hatten endlich alle christlichen und auch jeden sonstigen Feiertag als heidnisch gestrichen. Jedoch ihr Election Day Cake stellte keine wirkliche Konkurrenz für Trick and Treat dar. Der mächtige Cú Chulainn trat dem allmächtigen Dollar in den Hintern. Halloween packte Uncle Sam an seiner Schlecksucht und bei der Freude am Verkleiden. Heute gibt es wirklich rein gar nichts, vom Café Latte bis zum Eyeliner, dass es nicht auch in der Geschmacksrichtung oder der Duftnote Pumpkin Spice zu kaufen gibt.
Die Dinge die bis dato in der Welt geschahen, die brauche ich niemanden erzählen. Als ich ein Kind war, kannte ich Halloween eigentlich nur aus dem Lustigen Taschenbuch. Und ich wunderte mich, warum sich Donald Ducks Neffen im Herbst und nicht zu Fasching verkleideten. Und dass es nicht die Kostüme der üblichen Cowboys und Prinzessinnen waren, das fand ich ziemlich schick. In meiner Schulzeit gab es offiziell nur eine Faschings- und eine Krampus- Party. Erst während des Studiums erlebte ich die ersten Halloweenpartys. Es dauerte seine Zeit, bis sich das Fest etablierte. Mein Neffe und meine Nichte zogen schon mit anderen Kindern und verkleidet um die Häuser. Und heute haben sie in Niederösterreich an Halloween mehr Spaß als ich in Connecticut. Das finde ich eigentlich ziemlich unfair, ich könnte mich so einfach verkleiden. Ein paar Rollen Klopapier um den dünnen Leib gewickelt und fertig ist die Mumie. Im Gesicht schau ich eh aus wie Ramses mit Nikolausbart. Ja, aber soll nicht. Kann man nichts machen.
Halloween überflügelt in Europa also wieder seinen christlich-synkretistischen Nachfolger Allerheiligen und Allerseelen. In Mexiko gab es bei der Ankunft der katholischen Spanier ebenfalls einen geschwinden Kompromiss: Dia de Muertos, den Tag der Toten. Denn am selben Tag wie die Kelten ihr Samhain, feierten die Azteken ihre Göttin der Unterwelt Mictecacihuatl. Der Umstand, dass zwei uralte und vom atlantischen Ozean getrennte Kulturen am exakt denselben Tag mehr oder weniger das gleiche Fest begingen, der gibt mir schon zu denken.
Ich erwarte die Nacht der Toten und Dämonen daher mit Respekt. Einem solch mächtigen Festtag ging traditionellerweise eine Reinigung von Körper und Geist voran. Und eine solche habe ich vollzogen, allerdings keineswegs freiwillig. Buddha als auch Jesus waren sich als religiöse Lehrer einig, alles Käse die Askese. Beide nach vierzig Tagen des Fastens und einer Begegnung mit ihrem ganz persönlichen Satan aka Mara. Ich war daher so frei, bisher den Teil mit dem Fasten und Kasteien zu überspringen. Das klappte bisher ganz ordentlich. Ich bin ja nicht ohne Grund Lutheraner. Leider bin ich aufgrund meiner Erkrankung gezwungen, ziemlich schwere Medikamente zu nehmen. Und eines davon war nun der Meinung, meine spirituellen Reise um die von mir bisher so großzügig umschiffte Facette zu bereichern. Eine lange Geschichte kurz: Solche Nebenwirkungen habe ich noch nicht erlebt. Die wöchentliche Dosis Methotrexate kann einem wirklich den Tag versauen. Unter Umständen, die ich hier nicht weiter erläutern werde, machte ich mich bereit, meinem Schöpfer gegenüber zu treten. Mara, die Verkörperung des Todes, war so freundlich mir seine Aufwartung am Krankenbett zu machen. Umsichtig wie er so ist, welch nette Geste, hatte er auch seine drei Töchter mitgebracht: Lust, Unzufriedenheit und Gier. Die drei Weibsgestalten peitschten meine Gedanken derart, dass Juliane mich mehrmals umziehen und das Bett überziehen musste. Als ich endlich soweit war, nicht meinem Schöpfer, sondern meinem Arzt unter die Augen zu treten, fuhren wir ins Krankenhaus. Dort wurde ich untersucht und geröntgt. Wieder zuhause, hungrig wie ein Wolf nach drei oder vier Tagen ohne feste Nahrung, dann der Anruf: Ich durfte zwei weitere Tage nichts essen. Da lag ich also wieder in meinem Bett, und die Gedanken rasten wie Güterzüge zwischen meinen Ohren hindurch. Das Donnern der Räder wich bald dem Dröhnen der Pauken. Zimbeln klingelten. Drei Frauen tanzten herein. Schimären zwar, aber allerliebst anzuschauen. Leider keine Samhain-Dämoninnen, sondern die drei Grazien, Maras Töchter, schwangen die Beine und kreisten mit den Hüften. Immerhin pfiff da nicht schon der Buttenhansel selbst. Nun gut, wie alles ging auch das vorbei. Beim frühmorgendlichen Anruf im Krankenhaus zwei Tage später wusste natürlich niemand irgendwas über meine kleine Hungerkur. Viele automatische Anrufberatersysteme und zahlreiche Versprechen eines Rückrufes später, saßen Juliane und ich im Auto und fuhren ins Krankenhaus. Stand ich einmal leibhaftig vor ihnen, hatten sie ein Problem. Ich weiß nicht, irgendwie habe ich das Gefühl, es gibt eine gewisse Gruppe Leute, die ihre Mitmenschen wie Bazillen und Viren beurteilen. Sie ignorieren alle Anrufe und Emails, und sie hoffen scheinbar, die störenden Menschen und ihre lästigen Anliegen gingen einfach so weg wie ein grippaler Infekt. Ich war aber kein Schnupfen. Ich war ein Bär, ein zottiges und vor allem hungriges Vieh aus dem tiefen und finsteren Wald. Ich will hier auch gar nicht länger herumjammern, zuletzt waren dann alle ganz nett und hilfsbereit. Eine X-Ray-Untersuchung und wenige Arztgespräche später saß ich wieder daheim. An meinem Esstisch und vor mir das, was hierorts einem europäischen Brot am nächsten kam. Dazu französische Marmelade, irische gesalzene Butter und südamerikanischer Kaffee. So schmeckte das Leben. Die Nacht der Toten konnte kommen. Ich war bereit.

Fortsetzung folgt...

 

Sonntag, 30. September 2018

Freitag, 14. September 2018

"Gedanken für den Tag", ab 17.9.2018 auf Ö1


Hier der Link zur Ö1-Homepage: https://oe1.orf.at/programm/20180917/526830

Und zur Sendereihe: https://oe1.orf.at/gedankenfuerdentag

[Hier stehen dann auch alle Sendungen zum Nachhören bereit.]

Montag, 3. September 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 38)


Teil 38: Hexenjagd


Das so genannte Kommunikations- und Informationszeitalter lässt mich sprachlos zurück. In all dem babylonischen Stimmenwirrwarr – Oder ist es ein regulierter und begradigter Strom? – weiß ich schön langsam nicht mehr, was ich sagen bzw. schreiben soll. Oder ob ich überhaupt noch Worte setzen möchte? Wo doch schon alles gesagt ist und gewusst wird. Ist es sinnvoll, dem anhaltenden Schwirren weiteres Gebrumm hinzuzufügen?
Mich überkommen große Zweifel, dass mich mein Schwarm versteht. Nicht etwa weil ich so schlau, und die andern so dumm sind. (Dieser Gedanke erscheint dieser Tage vielen am wahrscheinlichsten und darum auch am glaubwürdigsten. Gerade weil das so ist, und der Einfallsreichtum der Feindseligen erfahrungsgemäß beschränkt ist, wird dieser vielfältige Trugschluss oft und gerne dem Gegenüber zum Vorwurf gemacht oder zur Intrige und üblen Nachrede genutzt.) Aber nein, sondern weil ich erschüttert und verwirrt bin, ob ich jemals wieder den richtigen Ton treffen werde, dass meine Stimme in dem Kanon da draußen klar und verständlich gehört werden kann. Kanon, weil ich deutlich verschiedene Tonlagen denselben Text zeitversetzt und unter unterschiedlichen Vorzeichen absingen höre.
Das liegt natürlich auch daran, dass ich eine Existenz führe, die mich mit einem Bein in der Neuen und mit dem andern in der Alten Welt stehen lässt. In der Grätsche wie die historisch falsche aber eindrückliche Vorstellung des Kolosses von Rhodos über der Hafeneinfahrt der griechischen Insel. Oder wie der venezianische Markuslöwe, der mit seinen Vorderpfoten auf dem Festland und mit den Hinterpfoten auf dem Meer steht. Zu allem Überfluss hat dieses Wappentier auch noch Flügel, so dass überhaupt nicht mehr klar ersichtlich ist, welches der drei sein Element ist, Wasser, Erde oder Luft. Armes verwirrtes Katzentier. Woher soll ich dann wissen, welche inzwischen meine geistige Heimat ist, Europa oder die USA?
Meine „speziellen Bedürfnisse“ haben meine Sichtweise noch weiter verschoben, sie haben mich noch weiter aus dem Mittelwert gerückt. Hier wie dort auch. Andererseits haben sie meinen Blick geschärft. Es wäre verleugnend, wenn ich die in mir wachsende Enttäuschung übersehen oder verschweigen würde. Könnten wir, d.h. die Bewohner der so genannten westlichen Welt, alle Vorzüge und guten Eigenschaften der Vereinigten Staaten und Europas tatsächlich zu einer Kultur vereinen, wir lebten in der perfekten Welt. Stattdessen werden Argumentationslinien und Gedankenmuster übernommen, die in der sich über Jahrhunderte entwickelten geistigen und wirtschaftlichen Umwelt des jeweils anderen Kontinents keinen Lebensraum hätten. Gäbe es da nicht eine ebenfalls geschichtlich begründete intellektuelle und emotionale Leere, die diese endemischen Geistesunkräuter als ökologische Nischen ausnutzen könnten. Ich lebe im Heiligen Land der First Church of Income, und es ist bei Gott kein Garten Eden. Und es war nicht die Schlange, die den Hain verwüstete, Adam und Eva haben sich selbst in die Rabatten gekackt.
Ich habe auf die harte Tour gelernt, durch langes vergebliches Warten, dass das, was viele Reisende für Freundlichkeit halten, bloße Scharade ist. Der angekündigte Rückruf, ein leeres Versprechen. Und das mit großer Geste gegebene Versprechen, sich um etwas zu kümmern, der Verheißung entspricht, dass das Christkind die Geschenke bringt. Die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen gilt nur während der Bürozeiten. Und im Job macht ja jede und jeder einmal einen Fehler. An dieser Stelle verständiges Zuzwinkern und sich den Ellenbogen verschmitzt grinsend in die Seite stupsen. Schön wäre es, gälte dasselbe auch für die Konsequenzen. Herrlich, wenn alle Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen und Kranken- und Sozialversicherung hätten, sobald in den Regierungsgebäuden die Stechuhr erklingt und das Licht ausgeht. Entweder man macht und hilft sich selbst, oder alles bleibt ungetan. So kommt es, dass man ständig allem und jedem hinterher ist. Wie ein Hund, der die vorbeifahrenden Autos jagt. Bleibt ein Köter dabei auf der Strecke, drüber springen und weiterhetzen. Ständig mit Musik im Ohr, dem Soundtrack des Lebens, kommt einem diese aufgezwungene und atemlose Existenz auch noch interessant vor. Weil der liebe Gott das so wollte, der allmächtige Dollar oder Euro.
Einige Ereignisse der letzten Zeit haben meine Wahrnehmungen und Überzeugungen auf harte Proben gestellt. Aus meiner isolierten Lage lebe ich weltabgewandt, der Gesellschaft (oder den Gesellschaften, der europäischen und amerikanischen) stets als Zuschauer zugewandt. Wie ein berühmter Schriftsteller, ich glaube, es war Frederic Morton, in etwa formuliert hat: Ich bin der Mann, der im Ballsaal tanzt und sich dabei durch das Schlüsselloch zusieht. Ich weiß, vielen ergeht es so wie mir. Und aus Angst, das Falsche zu sagen, schweigen einige für immer. Wie ein „wohlerzogenes“ Kind, das sich aus Angst vor der Reaktion der Eltern auf seine Bedürfnisse selbst verleugnet. Weil sie oder er gefallen will. Oder anders ausgedrückt: Kein Missfallen erregen und keine unberechenbare Reaktion heraufbeschwören möchte. Und das Schweigen, das Mundtotsein, wird nicht als Schüchternheit erkannt, sondern als Arroganz gedeutet. Das Verhalten als verrückt. Man möchte es zurecht rücken. Und geht das nicht, am liebsten ganz aus den Augen verlieren.
Anständig und menschlich ist man naturgemäß immer selbst. Die Entmenschlichung des Gegners ist ein seit jeher bewährtes Kampfmittel. Und so kommt es dann, dass der Karikaturist einer Propagandazeitung einer nationalsozialistischen Arbeiterpartei und der Werbemittelhersteller einer linken städtischen Bürgerpartei unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten auf dasselbe Sujet kommen, den politischen Gegner, das Objekt ihres (noch nicht einmal geleugneten) Hasses darzustellen oder besser gesagt zu diffamieren. Aber auch hier gilt die sprichwörtliche Ansicht, dass wenn zwei das Gleiche tun, es noch lange nicht dasselbe ist. Genannte Ursachen sind Unwissenheit, Naivität und fehlende Ressourcen. Aber in einer Zeit, die mehr als jemals zuvor an Programmierung, Genetik und damit wieder an Prädestination glaubt, erscheint auch dieses Dogma, genau wie diese Ausreden, mehr und mehr hinterfragwürdig. Schon im Bürgerlichen Gesetzbuch schützt Unwissenheit nicht vor Strafe. Auffällig ist auch, dass beim Hinweisen auf gewisse, ganz ähnlich geartete Textstellen in einschlägigen Liederbüchern der politischen Antipode, beinahe wortgleich dieselben Rechtfertigungen von den dort Beschuldigten ins Feld geführt werden: Unwissenheit, Naivität und mangelnde Ressourcen. Aber wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe! Tatsächlich? Allen, fast identischen Ausdrücken muss schließlich derselbe Quellcode, d.h.: eine bestimmte Weltsicht bzw. Menschenwahrnehmung, zugrunde liegen, oder jedenfalls ein nur wenig abweichender. Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Oder: An ihren Früchten wirst Du sie erkennen!
In Yale beginnt das neue Semester, und das behütete und aufwendig gehegte akademische Spalierobst kehrt in seine Gärten zurück. Aber auch der fruchtbare Boden dieser besonderen Gated Community wurde zwischenzeitlich von heftigen, unerwarteten Erdstößen erschüttert und aufgewühlt. Ein mittleres Erdbeben breitete sich aus New York City aus, dessen Ausläufer bis nach New Haven und weit darüber hinaus zu spüren waren. Und es waren und sind nicht die süßesten Früchte, die diese Umstände an den Trag bringen. Weder an den frischen grünen Trieben, noch an den tiefer verwurzelten Hölzern.
Am Beginn standen Polizeinotrufe weißer Bürgerrechtlerinnen und anderer Studenten wegen afroamerikanischer oder farbiger Kommilitonen. Diese hatten sich solcher Unglaublichkeiten schuldig gemacht wie einem Nickerchen in einem der Aufenthaltsräume eines Dormitorys, oder dem Fragen nach dem Weg in einer der weitläufigen Bibliotheken. Die Logik der Anrufer: Ist dein Gesicht im Farbton dunkler als ein reifer Cheddar-Käse, dann bist du eine collegefremde, weil bildungsferne Person. Am Ende stand ein Culture Clash der interkontinentalen Art für Juliane und mich.
Semesterende und -beginn bedeuten Kommen und Gehen, Umzüge allerorts. Unsere bisherigen Nachbarn zogen aus, neue besiedelten unseres und die Nachbarhäuser. So weit so gut. Aber nicht nur verlangt das Leben in den USA scheinbar stets nach einem Soundtrack, sondern dieser muss offenbar auch das kulturelle Erbe widergeben. Und Cultural Heritage, darüber verfügen nur Minderheiten und Randgruppen. Die etablierte Mehrheit lebt geschichtslos. Das ist im Wesentlichen aber bedeutungslos, denn der Krach war ganz gegenwärtig. Jeder Musik kann man sich nicht entziehen, und überschreitet sie ohne dazu eingeladen zu sein eine gewisse Lautstärke, dann wird sie als Lärm empfunden. Egal ob es sich dabei um eine gute alte europäische Sonate in F-Dur, den üblichen kommerziellen westlichen Globalisierungsbrei oder um südamerikanische Klänge handelt.
Mit unseren Latino-Nachbarn konnten wir uns schnell verständigen. Weder die Musikuntermalung der Basteleien am Harley Davidson-Motorrad und der Gartenarbeit (wenigstens wurde sie erledigt, und endlich die Müllhalden im Hinterhof entsorgt), noch ein Kindergeburtstag im Garten, der bis Mitternacht dauerte, störte uns. Trotz erster Verwirrung erschien das Konzept, die Kinder auch bis spätnachts wach zu halten, am nächsten Morgen als überaus sinnvoll. Die lieben Kleinen der Partygeber waren nämlich nicht schon frühmorgens wach und wollten unterhalten sein und spielen, sondern waren genauso erschöpft und müde wie die Erwachsenen. Der Familienvater konnte am Vormittag schon ungestört mit dem Aufräumen beginnen, was er gewissenhaft tat. Er kehrte sogar den Gehsteig. Nur, dass er dabei natürlich Musikuntermalung brauchte. Sollte so sein. So sauber war es um dieses Haus noch nie. Aber als der Radio alleine im Garten stand und lauthals aus den Boxen plärrte, schaute ich aus dem Küchenfenster und sah meine Gattin über die Wiese in den Nachbarsgarten stapfen. Nach einem kurzen höflichen aber bestimmten Gespräch war die Sache erledigt. Von dieser Seite unseres Hauses kam nie wieder ein Anlass zur Klage oder Beschwerde. Und Musik zu vernünftigen Tages- und Nachtzeiten ist keiner.
Ganz anders dagegen schaute es lange Zeit nach der anderen Seite aus. Dort zog eine Liebhaberin der gepflegten Rap Musik ein. In meinen Ohren Sprechgesang mit Werkstattgeräuschen unterlegt. Vom Text verstand ich immer entweder abwechselnd: Bitch, Dick, Money oder Fuck. Besonders fein war ein Refrain, der sich aufgrund seiner hämmernden Wiederholung unauslöschlich bei mir einprägte. Er lautete einmal (und ich entschuldige mich): „Suck the cock! Suck the sugar cock!“ Und danach: „Shoot the Cop! Shoot the Cop!” Allerliebst! Vor allem um Zwei Uhr morgens. Und so laut, dass du glaubst die Boxen stehen nicht im Nachbarhaus, sondern neben deinem Bett. Als dann auch noch das Smartphone klingelte, die liebe Nachbarin abhob, sich lauthals unterhielt, dazu begeistert kreischte und auch noch den Lautsprecher des Telefons anmachte, wurde meine Frau ungemütlich. Zunächst bat Juliane durch das geöffnete Fenster um Ruhe, britisch und gesittet. Aber als hätte sie nur darauf gewartet, antwortete unsere Nachbarin unmittelbar und wie aus der Pistole geschossen: „Shut up, bitch!“ Sie wollte ihr Gespräch auch gleich unverändert und im selben Habitus fortsetzen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass europäische Aggression sich nicht auf bloßes Posieren beschränkte. Kurz gesagt, ich habe meine Frau noch nie so entschlossen gehört. Juliane erwiderte die ihr entgegengebrachte Freundlichkeit mit einer Deutlichkeit, die keinen Zweifel offen ließ. Und für diese Nacht war dann auch Ruhe. Aber das Ausloten der Belastbarkeit der anderen Mieter ringsum ging weiter.
Des Minenfeldes zu meinen Füßen bewusst, erkundigte ich mich bei einer Bekannten mit einschlägiger beruflicher Erfahrung, was ich in dieser Situation unternehmen könnte. Ich wurde glaubhaft gewarnt, dass Juliane als weiße und blonde Frau nicht hinüber gehen sollte, um das Gespräch zu suchen. Das, so versicherte mir meine Gesprächspartnerin, funktionierte bei Spanischsprachigen, aber nicht in diesem Fall. Zu gefährlich. Zu viele Ressentiments. Welche denn, fragte ich mich, aber nahm den Rat an. Wir Europäer hatten mit der US-amerikanischen Sklaverei nichts am Hut. Leibeigenschaft und damit de facto auch die Sklaverei waren seit dem 18. Jahrhundert dank Joseph II. in Österreich und dem Heiligen Römischen Reich verboten, also auch in Sachsen. Ab Elf Uhr nachts, riet man mir weiter, könnten wir die Polizei rufen. Diese Leute (!), sagte meine Bekannte, fürchteten sich vor der Polizei. Mit dem Nachsatz: Wir alle fürchten uns vor der Polizei.
Na toll! Rief ich beim nächsten Mal die Polizei wegen „dieser Leute“, bedeutete das doch automatisch, zurück zum Start. Also zurück zum Rassismus-Skandal. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass das auch durchaus so beabsichtigt bzw. überlegt war. Keiner der Nachbarn traute sich, wegen der Lärmbelästigung die Cops zu rufen. Aus Angst, dafür an den Pranger gestellt zu werden.
Inzwischen ist jedoch Ruhe. Und ich frage mich, ob das Experiment beendet wurde, oder ob es ein Mitbewohner oder eine andere Mieterin geschafft hat, das Problem auf andere Weise in den Griff zu bekommen. Das Resultat ist jedenfalls dasselbe, ein ruhiges und friedliches Zusammenleben ist wieder möglich. Dass besagte Nachbarin auch nach wiederholtem Hinweis durch die Eigentümer immer noch in der Garage unserer (weißen) Vermieter parkt, ist mir aber inzwischen egal. Ich habe keine Lust, weiter in dieser Angelegenheit den Hausmeister oder den ABV zu mimen. Den Skandal soll sich bitte jemand anderer aufhalsen. Das System funktioniert!

Fortsetzung folgt…