Bisher erschienen:

Bisher erschienen:

Samstag, 27. Mai 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 3)



3. Sinnesfreuden im Land der unbegrenzten Widersprüche


Das US-amerikanische Holzhaus ist eine feine Sache. Es sieht hübsch aus, es bewohnt sich gemütlich, und ich fühle mich in unserem niemals alleine. Immer ist etwas los, immer gibt es etwas zu hören. Von draußen wie von drinnen. Im Hinterhof scheppern die Aludosen und Glasflaschen in die Müllcontainer. Kleine Kinder spielen barfuß in den Gärten (gefühlt auch bei elf Grad und Nieselregen). Die Vögel singen in den Bäumen. Eichhörnchen huschen zwischen den Ästen und über das Gras. Die Blätter im Wind flüstern leise „Impeachment“. Der Regen trommelt auf das Dach und plätschert durch die Dachrinnen. Die Heizung knackt, die Installationen tönen, der Wasserhahn tropft und manchmal gurgelt der Abfluss. Der Luftdruck lässt die Rohre singen. Als anfangs der Badewannensiphon gejammert hat, habe ich einen Schreck bekommen. Inzwischen schaue ich nicht einmal mehr hin, wenn es irgendwo knarrt und ächzt. Ein altes Haus gibt Laut, es schwingt und bewegt sich. Besonders wenn es aus Holz gebaut ist. Als Mitbewohner in dem gut hundertjährigen Mehrparteienhaus ist man nicht nur bei jeder Aktivität live dabei, sondern mitten drin. Es ist immer der obere Nachbar, von dem die Live-Übertragung kommt. Wir haben diese Hypothese in Gesprächen mit Freunden überprüft. Geräusche und Lärm dringen scheinbar immer von oben nach unten. Der Krach folgt einem noch nicht aufgeschriebenen Naturgesetz. Inzwischen bewege ich mich achtsamer. Es gleicht sich alles aus im Leben, Juliane macht im Wohnzimmer Step Aerobic. Von ober uns höre ich jeden Schritt. Nicht nur von den zwei jungen Leuten, Yalies mit SUV in der Garage und Golfbag auf dem Flur, auch von ihrer Katze. Einem Kater, denke ich. Weil er nicht springt und auf Samtpfoten landet wie es die Weibchen, geschmeidige Alleinerzieherinnen und Ernährerinnen machen, sondern sich bohnensackartig zu Boden fallen lässt, wie ich es von meinem getigerten Stubenmacho zuhause gewohnt bin. Mitreißend, wenn der dreiste Mietz spätnachts durch das obere Apartment galoppiert. Allerliebst, wenn er frühmorgens seine Spielzeugkugel über die Dielen treibt. Doch des Katers unschuldige Kurzweil ist nichts gegen das Liebesspiel seiner Besitzer. Wenn sich die beiden liebhaben, haben wir alle was davon. Während des Unsäglichen schneidet ihre Stimme durch das ganze Haus wie ein Lötkolben durch Butter. Und, ich weiß nicht, welche Inszenierung des zweisamen Aktes die da oben auf den Brettern unterm Dach aufführen, ich will es auch gar nicht wissen, es schwingt die ganze Holzkonstruktion vom Dachfirst bis zum Keller. Mir ist beim spätabendlichen Schreiben der Kaffee aus der Tasse auf den Schreibtisch geschwappt.
Unser anfängliches Problem, an leistbares Essen und frische Zutaten zu kommen, haben wir gelöst. Dank der Krankenschwestern im Yale New Haven Hospital. Die Nurses waren und sind unsre allerbesten Tippgeber, wenn es um Alltagsbewältigung geht. Wir lassen uns inzwischen den Einkauf liefern. Da wir kein Auto besitzen (aber eine Garage mit der Wohnung mieten, was ich irgendwie komisch finde), erschlägt die Lösung gleich zwei Vögel mit einem Stein. In der Car Culture kommen wir ohne Auto nirgends hin, weder zum Supermarkt, noch in ein Outlet. Die gesamte Stadt und ihr Umland sind auf PKWs ausgerichtet. Aber ein zuverlässiges Auto anzuschaffen, wäre für uns weder wirtschaftlich noch ökologisch. Also bringt uns der Pea Pod-LKW auf seiner Tour durch die Nachbarschaft die Lebensmittel und was wir sonst noch alles brauchen. Die Lieferanten halten vor dem Haus, laden auf die Veranda aus und schaffen alles nach oben. Ich bin ihnen dabei leider keine Hilfe. Aber wie bereits notiert, Amerikaner sind unglaublich freundlich und hilfsbereit. Noch niemals kam es mit den Fahrern zu der berühmten peinlichen Pause vor dem Verabschieden, weil sie auf Trinkgeld gewartet hätten. 
Ich dachte zunächst, dieser Service erleichtert mir auch das Umweltgewissen. Weil ich nicht selbst herumkutschiere und auf einer LKW-Fahrt mehrere Familien beliefert werden. Aber da hatte ich die Rechnung ohne die Amerikaner und ihren originellen Sinn fürs Verpacken gemacht. Der gesamte Einkauf wird nämlich nicht in eine große Schachtel oder ein paar wenige Säcke gepackt. O nein! Stattdessen werden einer, manchmal zwei, maximal drei Artikel in ein Plastiksackerl oder einen Plastebeutel gesteckt. Das Resultat hat Juliane Plaste-Gau getauft. Das beschreibt den riesigen Haufen Plastikfolie ganz genau. Immerhin brauchen wir so keine Müllsäcke für die Abfalleimer mehr zu kaufen. So benutzen wir die Plastiktaschen wenigstens zweimal.
Was wir bei aller Liebe und Mühe noch immer nicht begriffen haben, warum wir jedes Stück Fleisch, das wir bestellen, faschiert bekommen. Auf dem Foto war es ein wunderschönes Steak, geliefert wurde eine Tasse Rinderhackfleisch. Auch der Bison kam in der Assiette, und landete als Fleischbällchen im Rohr. Das Schreckgespenst Chlorhuhn ist mir dafür noch nie begegnet. Die Hühner sind zwar riesige Viecher, aber nicht spürbar gechlort. Das Leitungswasser schmeckt wie ein missglückter Sprung vom Beckenbrand, aber nicht das Fleisch. Es empfiehlt sich, einen Wasserfilter für das Trinkwasser anzuschaffen, und die Spaghetti mit abgekochtem Wasser aus dem Teekessel zu garen. Ansonsten schmeckt das Nudelgericht schnell ziemlich mineralisch. Das Gemüse, frisch oder tiefgefroren, hat keinerlei Beigeschmack. Das Grünzeug ist sauteuer, aber es schmeckt. Seltsam ist, dass es neben anderen Gläsern auch „rohen Honig“ zu kaufen gibt. In den USA muss alles Essbare pasteurisiert sein. Dass Bienenhonig frei von allen Inhaltstoffen und kaputt ist, sobald er erhitzt wird, spielt keine Rolle. Und obwohl uns der große Al Bundy lehrt, „dass es falsch ist, Franzose zu sein“, sind alle exquisiten Rezepte entweder uralt, französisch, oder am besten beides. Alles andere, was im Zusammenhang mit TTIP über das Essen in den USA propagiert wurde, kann ich nur Märchen nennen. Ich habe es sogar geschafft, in einem von Süditalienern geführten Laden ein ganzes Stück Tafelspitz für ein Abendessen zu bekommen. Nachdem Juliane dem Fleischer genau erklären konnte, welches Teil vom Rind es ist und was ich vorhabe, damit zu machen.
In God we trust. Das gilt seit den Tagen der Pilgerväter in den USA. Auch beim Kochen. Oder besser gesagt, beim Braten. Das Brat- und Backrohr meines Herdes ist riesig. Wäre die Küche öffentlich zugänglich, ich würde ein Vorhängeschloss vor die Klappe machen, damit niemand in dem Ding übernachtet. Die Herde sind so groß, haben mir die Krankenschwestern erklärt, weil auf und in ihnen das berühmte Thanksgiving-Essen gekocht wird. Um eine mehrköpfige Familie sattzubekommen, brauchen die Köche Platz (es sind immer mehrere). Raum für einen gewaltigen Vogel und Kochstellen für die Töpfe mit den Beilagen. Das sich daraus ergebende Einbaugerät ist doppelt bis dreimal so breit und tief wie ein vergleichbarer Europäer. Und jedes kleine Hühnchen vom heimischen Hof bekäme Minderwertigkeitskomplexe neben dem amerikanischen Huhn. (Den durchschnittlichen Truthahn hielten sie für ein Monster.) Ich dachte, so ein Huhn ist in einer halben Stunde gebraten. Hätte das arme Tier noch gekonnt, es hätte mich herzlich ausgelacht. Nachdem man den Braten nämlich mit Gewürzen bestrichen hat, kommt er in den Bräter, einen geschlossenen Metallbehälter. Der kommt ins Rohr, und da bleibt er die nächsten zwei bis vier Stunden. Braten ist eine Sache des Gottvertrauens. Sobald es duftet, ist das Essen fertig.
Jetzt habe ich so viel vom Essen erzählt. Abschließend noch eine kurze Bemerkung zum Wein: Bei jeder Veranstaltung wird ein Buffet gereicht, Geld spielt in Yale beim Catering keine Rolle. Juliane sagt, das Angebot ist in den letzten Jahren viel besser geworden. Es gibt echten Käse aus Milch anstelle des gummiartigen Analogkäses. Der zumeist kalifornische Rebensaft, der zu den Häppchen ausgeschenkt wird, ist hochpreisig und angepriesen, aber für einen österreichischen Gaumen ungenießbar. Schmeckt für jemanden, der trockene Weine gewöhnt ist, wie abgelaufener Traubensaft mit extra Zucker.
Und darum geht es mir jetzt wie Falco (America, 1985):
„Was in mir sitzt ist weiß gespritzt
Das ist mir völlig klar
Obgleich ich Whiskey tschechern tu
Seitdem in USA ich war…“

Fortsetzung folgt...


Freitag, 19. Mai 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 2)



2. Ein- und Überleben im Land der unbegrenzten Widersprüche


Viele kennen, denke ich, den Fahrenden Ritter (engl.: Knight Bus) aus den Harry Potter-Büchern. Den wie ein herrenloser Ritter herumvagabundierenden violetten Bus, den nur Hexen und Zauberer im Notfall rufen und benutzen. In den Büchern fährt der exklusive Bus chaotisch kreuz und quer, springt wie das im Original namensgebende Rössel im Schach querfeldein (> engl.: Knight). Der Fahrende Ritter ist im Harry Potter-Universum ein Teil der magischen Welt, für normale Sterbliche bleibt er unsichtbar. Seine Entsprechung in der Wirklichkeit hat das fiktive magische Verkehrsmittel im Yale Shuttle. Auf jeden Fall fühlt es sich für Neuankömmlinge so an. Die Busse sind natürlich nicht unsichtbar, mitfahren darf aber nur, wer einen Ausweis der Yale Universität hat. Gehört man dazu, dann ist das dichte und regelmäßige Verkehrsnetz aus mehreren Linien gratis. Um zu wissen, wo die Busse halten und wann sie fahren, braucht man keinen Zauberstab in die Höhe zu halten, aber eine entsprechende App auf dem Smartphone. Die Haltestellen sind auf der Straße gar nicht, oder nur selten markiert. Gelegentlich verrät eine größere Menschenansammlung, wo die Shuttles halten werden. Eine bunte Gruppe, die sich, die Augen fest auf die Smartphones in den Händen geheftet, nicht miteinander unterhält. Das Yale Shuttle zu benutzen ist eine Kunst, die Übung braucht. Hat man erst den Bogen raus, ist es eine feine Sache. Davor, das heißt vor dem Download und dem Verstehen der App, kommt es vor, dass die Busse trotz Winkens an einem vorbeifahren, weil z.B. nicht mehr der Nachmittags-, sondern bereits der Abendfahrplan gilt, mit unterschiedlichen Haltestellen. Dann gelten auch andere Routen, das heißt man entdeckt neue Viertel und Regionen, Orte, wo man gar nicht hin wollte. Auch schön und informativ, aber leider falsch. Ebenfalls sehr beliebt, man wartet auf den Bus in der Gegenrichtung, was bei einem Rundkurs nur in eine Fahrtrichtung etwas länger dauert. Da kommt Godot eher als der Shuttlebus. Aber hat man diese anfänglichen Hürden erst genommen, steht New Haven dem staunenden Gast offen.
Mein erster Eindruck von New Haven war ein farbenfroher. Das lag nicht alleine an den Linien des Yale Shuttles: Yellow, Orange, Red, Purple, Blue und Green. Das Straßenbild war bunt. Jede und jeder von denen, die hier studierten oder lebten, kam von irgendwoher anders. Es hat mich bewegt in einer Diskussionsveranstaltung zu hören, dass die Stadt, im Vergleich zu New York oder Brooklyn, als sehr segregated, als getrennt, wahrgenommen wird. Ich war nicht blind, mir war aufgefallen, dass alle Bus- und Taxifahrer, beinahe jeder Kellner und die Mehrheit der Hausbesorger, Straßenkehrer und Kassiererinnen Afroamerikaner oder Hispanisch waren. Die Gärtner, die das Grundstück, auf dem wir wohnen, frühlingssauber machten, waren auch Farbige. Genau wie die übrigen in unserer Wohngegend. Juliane hat auch bemerkt, dass es in den Filialen derselben Kette in unterschiedlichen Stadteilen verschiedene Waren zu kaufen gibt. Gab es in Universitätsnähe dieselben Pflegeprodukte in der Drogerie wie daheim, standen ein paar Querstraßen weiter Zahnpasta und Mundwasser mit Schmerzmittel in den Regalen. Spazierten wir an den mächtigen Universitätsgebäuden vorbei und an ihren Satelliten, d.h. an den Apartmenthäusern, Lokalen, Boutiquen und Läden, begegneten wir Obdachlosen, die uns um Kleingeld baten. Auf dem Weg zur chinesischen Reinigung kamen wir an einem Hotel vorbei, dessen Gäste so elegant und sehenswert waren, dass die Fassade des Restaurants und die Fenster der Gästezimmer als Schaufenster gestaltet waren. Und in derselben Gasse, nur ein Haus weiter, an einem zerlumpten Penner, der sich Würmer aus dem Fuß zog.
Als Europäer sahen wir die ökonomischen Gründe, z.B. den getrennten Zugang zu Einkommen, Bildung und Gesundheitswesen. Ich fand (und finde) es unappetitlich von Rasse zu sprechen. Ich bin weder Hund noch Pferd. Und obwohl ich eben kein Pelztier bin, ging – und geht – es mir gegen den Strich, seit meiner Einreise in Dokumenten meine Rasse anzugeben. Caucasian? Come on! Weder meine persönliche, noch meine familiäre Geschichte hat etwas mit dem Kaukasus-Gebirge zu tun. Ich bin auch kein blasser Hartkäse eines Hirtennomaden. Ich kannte ihn bisher nur aus den düsteren Kapiteln der Geschichte, hier gehört der Begriff Rasse für mich zum Alltag. Über eine Heritage Community, ein gemeinschaftliches geschichtliches Erbe, verfüge ich nur, wenn meine Familie auf Ausgrenzung und Ausbeutung zurückblickt. Aber dann bin ich in der Minderheit. Erst absolutes kulturelles Vergessen lässt mich zur Mehrheit gehören. Und „wir Weißen“ waren einmal so herablassend, Außereuropäer und Autochthone als „geschichtslose Wilde“ zu beschreiben.
Bei meiner Ankunft in New Haven war ich tagelang körperlich völlig fertig. Ich hatte das Gefühl, mein Tank mit Lebensenergie hatte irgendwo ein Loch. Und während es aus dem Leck rieselte, versuchte Juliane hartnäckig meine Therapie bzw. die Fortsetzung meiner Behandlung zu organisieren. Dank der zupackenden Hilfe ihres Gastgebers vom German Department war ich so ziemlich der erste Patient, der bereits zwei Tage nachdem die Ärzte im New Haven Hospital überhaupt von ihm gehört hatten, schon im Behandlungszimmer saß. Was dieser Professor für mich getan hat, grenzt an Telefonterror. Ich hatte schon drei Mal Photopherese hinter mir, als der Überweisungsbrief in Englisch aus Wien eintraf.
Eindrücklicher hätte die Aufnahme nicht stattfinden können, heftiger der Unterschied zwischen zwei Gesundheitssystemen nicht auffallen können. Ich kam auf die Station, wurde mit Handshake begrüßt und wartete vielleicht fünf Minuten, wenn es hochkommt, zehn. Dann führte ich ein ausführliches Vieraugengespräch mit dem Arzt, und im nächsten Augenblick hing ich an der Maschine. Eine Krankenschwester betreute, nein: umsorgte mich vom Beginn bis zum Ende meiner Bestrahlung. Nur mich, niemanden sonst. In zwei Behandlungszimmern standen jeweils drei bequeme Stühle, keine Krankenbetten. Bisher sind wir insgesamt nur zwei bis drei Patienten pro Tag gewesen, obwohl das Einzugsgebiet des Spitals ganz Connecticut und auch die angrenzenden Staaten umfasst. Vom Hersteller des Bestrahlungsgerätes habe ich als Willkommensgeschenk einen Seesack bekommen mit allem drin, was ich nach der Therapie brauche: Sonnenbrille, Sonnencreme, Venenball und Decke. Wenn mir während der Behandlung kühl wird, bekomme ich eine vorgeheizte Decke. Und das Beste, mein Arm bekommt eine lokale Betäubung vor dem Einstich. Wäre es nicht so eine ernste Sache, es fühlte sich an wie ein Besuch im Spa. Aber als Juliane ein entzündetes Auge hatte, und wir wie von zuhause gewohnt einfach mal so nebenbei den Arzt fragen wollten, was zu tun sei, musste erst ihre Krankenversicherung gecheckt werden. Da bekamen wir einen Eindruck davon, wie es sein muss, wie die Mehrheit der Bevölkerung keine Health Care zu haben. Und wir kamen überein, dass wir dafür gerne daheim unsere Abgaben entrichten und auch mal eine längere Wartezeit in Kauf nehmen.
Nach all diesen ersten Eindrücken von unserem (Über-)Leben in den USA muss ich es leider offen schreiben, selbst wenn ich dabei wie Urstrumpftante Aloisia rüberkomme, wir haben uns in Europa zu sehr daran gewöhnt, Vieles für selbstverständlich oder als Anspruch zu verstehen, was außerordentlich, hart erkämpft und großartig ist. Und ich gelobe jedes Mal, wenn ich mich mit Julianes Hilfe über die Stufen in ein Yale Shuttle hieve, jeder und jedem gegen das Schienbein zu treten, die ich noch einmal über die Wiener Linien raunzen höre, wo ich bequem alle drei bis sechs Minuten in einen fabrikneuen Niederflurbus einsteigen kann. Einmal auf dem Weg ins Krankenhaus sind wir in einem Busveteranen gesessen, der Laute aus dem Getriebe von sich gab, dass wir glaubten, er würde an Ort und Stelle liegen bleiben. Ich begegnete hier Menschen im Job und bei der Arbeit in einem gesegneten Alter, in dem gewisse Leute bei uns im Park sitzen und über die faule Jugend lästern. Hier kostet einfach alles Geld, und das muss jede und jeder alleine verdienen. Ohne Hilfe oder Unterstützung. Das ist nicht erstrebenswert und toll, und es ist auf keinen Fall gerecht.
Demokratie war und ist dieser Tage ein großes Thema. Dem alten Rom sehr ähnlich, droht die Diktatur die Republik abzulösen, die Loyalität zu einer einzelnen Person das allgemeine Recht abzuschaffen. Nicht nur in den USA. Und besonders bitter, für viele Menschen in der Gesellschaft hat sich in zweihundert Jahren rein äußerlich nichts geändert, außer dass sie jetzt für ihre Arbeitsleistung Steuern zahlen müssen. Und während ich als Gast im Yale Shuttle an den Kathedralen des Wissens im Tudorstil und den vollgepackten Einkaufswägen der Sandler und Penner vorbeifahre, frage ich mich, wann eine gemeinsame Entscheidungsbasis für die Demokratie geschaffen wird? Nämlich, Gesundheit und Bildung für alle.
Und trotz allem habe ich das Gefühl, schon jahrelang in New Haven zu leben. Alles sieht so vertraut aus. Die Architektur, die Holzhäuser und das Straßenbild. Sogar die Melodie des Eiswagens, der kurz darauf langsam vorbeifährt. Woher nur, fragte ich mich, kannte ich das alles? Und die Antwort war so einfach wie auch irgendwie erschreckend: Aus dem Fernsehen und aus Kinofilmen! Diese Welt ist mir aus der Freizeitunterhaltung so sehr vertraut geworden, dass ich versucht war zu glauben, längst ein Teil von ihr zu sein.



Fortsetzung folgt…

Samstag, 13. Mai 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 1)



      1. Angekommen im Land der unbegrenzten Widersprüche


Vor etwas mehr als einem Monat sind Juliane und ich in den USA angekommen, für mich dem Land der unbegrenzten Widersprüche. Zeit und Gelegenheit, eine erste Bilanz zu ziehen. Und auf besonderen Wunsch tue ich das hier und jetzt auf meinem Blog. Und das wird länger, darum zur besseren Lesbarkeit, Schwarz auf Weiß:

Mein erster Eindruck, ich bin in einem fremden Land auf einem anderen Kontinent gelandet, in dem wirklich alles viel größer, breiter, höher und weiter ist. Das ist nicht bloß Gerede, das ist tatsächlich so. Schon als ich im Rollstuhl über den Flughafen in Newark geschoben worden bin wie einer unserer zwei riesigen Rollkoffer, fühlte ich mich wie ein Klein-Gulliver im Land der Riesen. Ich strandete buchstäblich in der Neuen Welt, in der wirklich alles bis auf das Toilettengehen anders funktioniert. Und sogar das nur mit gewissen Abstrichen, denn dass ich im Fall der Fälle nach einem Restroom oder Bathroom suchen muss, das ist ja bekannt. Aber dass ich nach einem Badezimmerläppchen (bathroom tissue) zu fragen habe, wenn es mir nach Toilettenpapier verlangt, das war mir neu.
Ich war auch davon überzeugt, Autofahren zu können. Von der vorletzten bis zur letzten gesetzlichen Überprüfung meines, vor dem Abflug verkauften PKWs war ich damit 50.000km gefahren. Der fabrikneue Mietwagen made in USA hat mich rasch vom Gegenteil überzeugt und meinen diesbezüglichen Dünkel für immer gebrochen. Zündschlüssel gab es keinen. Der kleine metallische Freund wurde von der Industrie 4.0 wegrationalisiert. Ich drückte die Start-Taste, der Motor rührte sich nicht. Ich trat die Bremse, drückte abermals den Knopf, der Motor sprang an, und der Wagen bewegte sich… nicht. Mein Seufzen, Fluchen und Weinen weckte das Mitleid im Ford, und er bewegte sich doch. Ich probierte das Bremspedal, und Juliane und ich hingen in den Gurten. Und ich sah, dass es nicht gut war, wie gewohnt mit dem zweiten freien Fuß zu bremsen. Unter den wachsamen Augen etlicher, bestens amüsierter Polizisten und ihrer nicht weniger gut von meinen Fahrkünsten unterhaltenen Drogenhunden drehte ich ein paar Runden auf dem eingezäunten Parkplatz, bevor ich mich in den öffentlichen Straßenverkehr wagte.
Der Verkehr gestaltete sich auf den Highways und in den Straßen sehr viel ruhiger und disziplinierter als ich es von daheim gewohnt war. Ich bin auf der Suche nach der korrekten Abbiegung oder der richtigen Auf- bzw. Abfahrt in Situationen geraten, die auf vergleichbarem mitteleuropäischem Gelände wilde (Droh-) Gebärden und Hupkonzerte ausgelöst hätten. Indes mein angstschweißnasser und schuldbewusster Blick in den Innenspiegel offenbarte mir entspannte Damen und Herren, die entweder in der Nase bohrten, fröhlich den Song im Radio mitträllerten, oder den Ausblick und die Abendsonne genossen. Und kommt es doch einmal vor, dass im Verkehr gedrängelt und gehupt wird, was wirklich selten geschieht, dann sind es die aufgewühlten Fahrer mittleren Alters derselben ausländischen Fabrikate, die auch auf unseren mitteleuropäischen Straßen für muntere Kurzweil sorgen. Sie wissen schon, die mit der eingebauten Vorfahrt... Begegnungen wie diese helfen einem aber dabei, sich schnell heimisch zu fühlen und das anfängliche Fremdeln zu überwinden. Manche Dinge bleiben eben überall gleich.
So auch der Besuch bei IKEA. Der sah als corporate designter Unort gleich aus wie überall und nirgends. Es spielte keine Rolle, ob sich die heiligen Hallen des allmächtigen Möbelhauses in New Haven, Vösendorf bei Wien; in Frankfurt am Main oder Gigritzpatschen am Neckar befanden. Am gewohnten Ort fanden wir alles, nur uns nicht zurecht. Wir kauften Gardinen und Vorhangstangen, die Schrauben zum Befestigen waren natürlich nicht in der Verpackung enthalten. Nun gehen es hier die Menschen mit der Pflege von Haus und Garten ein wenig entspannter an – ein böser, sein Eigenheim liebender Europäer wöllte es vielleicht sogar schlampig nennen. Deshalb fanden wir glücklicherweise in den Fensterrahmen unserer Wohnung die 27 Holzschrauben von drei oder vier verschiedenen, nicht mehr funktionalen Gardinenstangensystemen. Diese schraubten wir von Hand heraus und befestigten unsere neuen damit vor den Fenstern. Durch ein paar gewaschene Vorhänge sah die Welt nämlich gleich freundlicher aus. Auch wenn das Wetter selbst eine Etüde in Grau gab.
Auf der Suche nach bunter Exotik, leistbaren Lebensmitteln und frischen Zutaten fuhren wir zu einem beliebten und ortsüblichen Supermarkt. Wir kauften bei ALDI. Die Kassiererin stammte aus München. Wir plauderten eine Weile. Auf Deutsch und unter den wachsamen Augen einiger Kunden, die sich plötzlich fremd im eigenen Land fühlten. Aber zum Glück nicht, jedenfalls nicht spürbar, bedroht. So fanden wir zwar keine, aber boten jede Menge fremdländischer Exotik. Und unser, beinahe unnötig zu sagen: riesiger Kühlschrank war befüllt.
Wohnen Sie am Meer, haben Sie gesagt. Davon, dass es hier, an der Küste Neuenglands, im Frühjahr die meiste Zeit regnet, kein Wort. Mir war bald klar, wie das Land von den britischen Siedlern seinen Namen bekam: Die Welt und das Land waren neu, aber das Wetter, das war miserabel wie daheim! Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass der Wäschetrockner nur halb beladen werden kann, sofern man seine Wäsche trocken haben möchte. Und nicht etwa stockfleckig. Ich habe schon einen Waschlappen eingebüßt, weil ich ihn zum Trocknen an den Haken über dem Waschbecken und nicht an die Wäscheleine gehängt habe.
Rebel without a cause...
Aber das ergibt ein falsches Bild. Die Menschen sind freundlich, hilfsbereit und warm. Sie sind jederzeit höflich. Und selbst, wenn ihre Höflichkeit nicht „ehrlich gemeint“ sein sollte – was jetzt vielleicht die Eine oder der Andere einwenden möchte –, so ist sie mir lieb, denn sie behandeln mich jederzeit mit Respekt. Als Schmiermittel der Gemeinschaft funktioniert die amerikanische Höflichkeit, beinahe jeder gesellschaftliche Kontakt klappt reibungslos. Z.B.: Als Person mit Behinderung hatte ich bisher noch niemals das Gefühl, zu langsam, im Weg oder eine Attraktion zu sein. Und sobald sich die Sonne zeigt, passen sich Klima und Landschaft den Menschen an. Die Jungen haben sofort das Bedürfnis, die Sonnenstrahlen auf so viel entblößter Haut wie möglich zu spüren. Allen voran die Studentinnen und Studenten von Yale. Zwischen den hochgeknöpften Colleges und Schools im gotischen Tudorstil laufen die Burschen und Mädchen für unsere Begriffe „nackt“ herum. In Shorts, Leggings und Flipflops. Ganz egal, welche Temperatur das Thermometer misst. Sie tragen die Sommerhitze im Herzen und hüpfen in den ersten Sonnenstunden aus dem Gewand. Wer hier an der Uni eine Kopftuchdiskussion vom Zaun bräche, der würde sich lächerlich machen.
Die Yale-Bulldogs, die weiblichen und männlichen Collegeabsolventen, sind sportlich. Egal wann auch immer ich unterwegs war, oder bloß aus dem Fenster geschaut habe, irgendwo waren immer Joggerinnen und Läufer unterwegs. Manchmal, wenn ich auf den Arm der Gattin und/oder meinen Stock gestützt einen steilen Hügel – davon gibt es eine Menge – hinauf schnaufte, entgleisten mir am Anfang gelegentlich die Gesichtszüge, und ich starrte die Hobbysportler an. Ein paar von ihnen verwechselten meine Motivation. Diese öffentliche Zurschaustellung körperlicher Schönheit und Fitness ging mir auf die Nerven. Warum eigentlich? Ich kam recht schnell darauf. Es war weder Lust, noch Genervtsein. Es war schlicht und ergreifend der Neid.

Fortsetzung folgt…