1. Angekommen im Land der unbegrenzten Widersprüche
Vor etwas mehr als einem Monat
sind Juliane und ich in den USA angekommen, für mich dem Land der unbegrenzten Widersprüche. Zeit und Gelegenheit, eine
erste Bilanz zu ziehen. Und auf besonderen Wunsch tue ich das hier und jetzt auf
meinem Blog. Und das wird länger, darum zur besseren Lesbarkeit, Schwarz auf
Weiß:
Mein erster Eindruck, ich bin in
einem fremden Land auf einem anderen Kontinent gelandet, in dem wirklich alles
viel größer, breiter, höher und weiter ist. Das ist nicht bloß Gerede, das ist tatsächlich
so. Schon als ich im Rollstuhl über den Flughafen in Newark geschoben worden
bin wie einer unserer zwei riesigen Rollkoffer, fühlte ich mich wie ein
Klein-Gulliver im Land der Riesen. Ich strandete buchstäblich in der Neuen Welt, in der wirklich alles bis
auf das Toilettengehen anders funktioniert. Und sogar das nur mit gewissen
Abstrichen, denn dass ich im Fall der Fälle nach einem Restroom oder Bathroom
suchen muss, das ist ja bekannt. Aber dass ich nach einem Badezimmerläppchen (bathroom
tissue) zu fragen habe, wenn es mir nach Toilettenpapier verlangt, das war
mir neu.
Ich war auch davon überzeugt, Autofahren
zu können. Von der vorletzten bis zur letzten gesetzlichen Überprüfung meines,
vor dem Abflug verkauften PKWs war ich damit 50.000km gefahren. Der fabrikneue
Mietwagen made in USA hat mich rasch
vom Gegenteil überzeugt und meinen diesbezüglichen Dünkel für immer gebrochen. Zündschlüssel
gab es keinen. Der kleine metallische Freund wurde von der Industrie 4.0 wegrationalisiert.
Ich drückte die Start-Taste, der Motor rührte sich nicht. Ich trat die Bremse,
drückte abermals den Knopf, der Motor sprang an, und der Wagen bewegte sich…
nicht. Mein Seufzen, Fluchen und Weinen weckte das Mitleid im Ford, und er bewegte sich doch. Ich
probierte das Bremspedal, und Juliane und ich hingen in den Gurten. Und ich
sah, dass es nicht gut war, wie gewohnt mit dem zweiten freien Fuß zu bremsen. Unter
den wachsamen Augen etlicher, bestens amüsierter Polizisten und ihrer nicht
weniger gut von meinen Fahrkünsten unterhaltenen Drogenhunden drehte ich ein
paar Runden auf dem eingezäunten Parkplatz, bevor ich mich in den öffentlichen
Straßenverkehr wagte.
Der Verkehr gestaltete sich auf
den Highways und in den Straßen sehr viel ruhiger und disziplinierter als ich
es von daheim gewohnt war. Ich bin auf der Suche nach der korrekten Abbiegung
oder der richtigen Auf- bzw. Abfahrt in Situationen geraten, die auf vergleichbarem
mitteleuropäischem Gelände wilde (Droh-) Gebärden und Hupkonzerte ausgelöst
hätten. Indes mein angstschweißnasser und schuldbewusster Blick in den
Innenspiegel offenbarte mir entspannte Damen und Herren, die entweder in der
Nase bohrten, fröhlich den Song im Radio mitträllerten, oder den Ausblick und die
Abendsonne genossen. Und kommt es doch einmal vor, dass im Verkehr gedrängelt
und gehupt wird, was wirklich selten geschieht, dann sind es die aufgewühlten
Fahrer mittleren Alters derselben ausländischen Fabrikate, die auch auf unseren
mitteleuropäischen Straßen für muntere Kurzweil sorgen. Sie wissen schon, die mit
der eingebauten Vorfahrt... Begegnungen wie diese helfen einem aber dabei, sich
schnell heimisch zu fühlen und das anfängliche Fremdeln zu überwinden. Manche
Dinge bleiben eben überall gleich.
So auch der Besuch bei IKEA. Der sah
als corporate designter Unort gleich aus wie überall und nirgends. Es spielte
keine Rolle, ob sich die heiligen Hallen des allmächtigen Möbelhauses in New
Haven, Vösendorf bei Wien; in Frankfurt am Main oder Gigritzpatschen am Neckar
befanden. Am gewohnten Ort fanden wir alles, nur uns nicht zurecht. Wir kauften
Gardinen und Vorhangstangen, die Schrauben zum Befestigen waren natürlich nicht
in der Verpackung enthalten. Nun gehen es hier die Menschen mit der Pflege von
Haus und Garten ein wenig entspannter an – ein böser, sein Eigenheim liebender
Europäer wöllte es vielleicht sogar schlampig nennen. Deshalb fanden wir
glücklicherweise in den Fensterrahmen unserer Wohnung die 27 Holzschrauben von
drei oder vier verschiedenen, nicht mehr funktionalen Gardinenstangensystemen.
Diese schraubten wir von Hand heraus und befestigten unsere neuen damit vor den
Fenstern. Durch ein paar gewaschene Vorhänge sah die Welt nämlich gleich
freundlicher aus. Auch wenn das Wetter selbst eine Etüde in Grau gab.
Auf der Suche nach bunter Exotik,
leistbaren Lebensmitteln und frischen Zutaten fuhren wir zu einem beliebten und
ortsüblichen Supermarkt. Wir kauften bei ALDI.
Die Kassiererin stammte aus München. Wir plauderten eine Weile. Auf Deutsch und
unter den wachsamen Augen einiger Kunden, die sich plötzlich fremd im eigenen
Land fühlten. Aber zum Glück nicht, jedenfalls nicht spürbar, bedroht. So
fanden wir zwar keine, aber boten jede Menge fremdländischer Exotik. Und unser,
beinahe unnötig zu sagen: riesiger Kühlschrank war befüllt.
Wohnen Sie am Meer, haben Sie
gesagt. Davon, dass es hier, an der Küste Neuenglands, im Frühjahr die meiste Zeit
regnet, kein Wort. Mir war bald klar, wie das Land von den britischen Siedlern
seinen Namen bekam: Die Welt und das Land waren neu, aber das Wetter, das war
miserabel wie daheim! Die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass der Wäschetrockner
nur halb beladen werden kann, sofern man seine Wäsche trocken haben möchte. Und
nicht etwa stockfleckig. Ich habe schon einen Waschlappen eingebüßt, weil ich ihn
zum Trocknen an den Haken über dem Waschbecken und nicht an die Wäscheleine
gehängt habe.
Rebel without a cause... |
Aber das ergibt ein falsches
Bild. Die Menschen sind freundlich, hilfsbereit und warm. Sie sind jederzeit
höflich. Und selbst, wenn ihre Höflichkeit nicht „ehrlich gemeint“ sein sollte –
was jetzt vielleicht die Eine oder der Andere einwenden möchte –, so ist sie
mir lieb, denn sie behandeln mich jederzeit mit Respekt. Als Schmiermittel der
Gemeinschaft funktioniert die amerikanische Höflichkeit, beinahe jeder gesellschaftliche
Kontakt klappt reibungslos. Z.B.: Als Person mit Behinderung hatte ich bisher
noch niemals das Gefühl, zu langsam, im Weg oder eine Attraktion zu sein. Und
sobald sich die Sonne zeigt, passen sich Klima und Landschaft den Menschen an.
Die Jungen haben sofort das Bedürfnis, die Sonnenstrahlen auf so viel entblößter
Haut wie möglich zu spüren. Allen voran die Studentinnen und Studenten von Yale.
Zwischen den hochgeknöpften Colleges und Schools im gotischen Tudorstil laufen
die Burschen und Mädchen für unsere Begriffe „nackt“ herum. In Shorts, Leggings
und Flipflops. Ganz egal, welche Temperatur das Thermometer misst. Sie tragen
die Sommerhitze im Herzen und hüpfen in den ersten Sonnenstunden aus dem Gewand.
Wer hier an der Uni eine Kopftuchdiskussion vom Zaun bräche, der würde sich
lächerlich machen.
Die Yale-Bulldogs, die weiblichen
und männlichen Collegeabsolventen, sind sportlich. Egal wann auch immer ich
unterwegs war, oder bloß aus dem Fenster geschaut habe, irgendwo waren immer
Joggerinnen und Läufer unterwegs. Manchmal, wenn ich auf den Arm der Gattin
und/oder meinen Stock gestützt einen steilen Hügel – davon gibt es eine Menge –
hinauf schnaufte, entgleisten mir am Anfang gelegentlich die Gesichtszüge, und
ich starrte die Hobbysportler an. Ein paar von ihnen verwechselten meine
Motivation. Diese öffentliche Zurschaustellung körperlicher Schönheit und Fitness
ging mir auf die Nerven. Warum eigentlich? Ich kam recht schnell darauf. Es war
weder Lust, noch Genervtsein. Es war schlicht und ergreifend der Neid.
Fortsetzung folgt…