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Montag, 13. November 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 19)

Teil 19: I am Austrian, I will not be Heil-ed!


Jetzt habe ich es auch endlich gesehen, Rodgers & Hammerstein´s: The Sound of Music! Das Musical, das für die Mehrheit der US-Amerikaner wie nichts anderes für Österreich steht. Zusammen mit meiner Frau aus Dresden. Ich musste 39 Jahre alt werden und nach New Haven gehen. Und wie so oft in den USA entwickelte sich der Abend völlig anders als von uns Europäern erwartet.
Natürlich wusste ich, dass es sowas wie The Sound of Music gibt. Sowohl als Film als auch als Bühnenstück. Ich hatte auch von der von Trapp-Familie und ihrer Flucht vor dem Anschluss gehört. Als ich 1995 anlässlich der 50-Jahr Feier der UNO und UNESCO in New York gewesen bin, wurde ich oft danach gefragt. „Ob Österreich immer noch so ist?“, wollten viele wissen. Nicht nur von mir und nicht bloß damals. Ich habe viele getroffen, die von der Fragerei nach Film und Musical schon ziemlich genervt waren. In New Jersey hat mir eine Studentin aus Oberösterreich erzählt, längst aufgegeben zu haben und stets zu antworten, dass sie im Sommer im Dirndl mit dem Haflinger zur Schule geritten ist, und im Winter mit den Schiern hingefahren ist. Da ich oft und gerne in Salzburg bin, kannte ich auch die geführten Touren für englischsprachige Touristen. Täglich werden mehrere Busladungen begeisterter Fans an die Spiel- und Drehorte von The Sound of Music gekarrt. Und das war es dann auch. Ich dachte an ein süßliches Klischee. Ein bisserl Jodeln und Hopsen im Dirndl und der Krachledernen über saftige Weiden. Punkt und aus. Was geht mich das an?
Jede Menge Merchandising...
Zweiundzwanzig Jahre später wohne ich in New Haven in Connecticut und treffe Inger, eine Krankenschwester aus Dänemark, die nicht nur unglaublich gerne Schifährt, sondern dafür auch regelmäßig die Trapp Family Lodge in Vermont besucht. In unserer Begegnung versteckten sich für mich also gleich mehrere Überraschungen: Erstens erfuhr ich, dass es in unserer unmittelbaren Umgebung ein Schigebiet gibt. Zweitens, dass es von Exil-Österreichern betrieben wird. Und drittens, dass es hier zigtausende Fans des alpinen Skiweltcups gibt, die auch alle brav zu den Rennen pilgern. Nicht ganz grundlos, u.a. Mikaela Shiffrin besuchte die Burke Mountain Academy in Vermont. Ich bin selbst Schi-Fan, aber wurde dafür in Österreich von den üblichen Verdächtigen gerne belächelt. Weil das ja außer „uns“ niemanden interessiert. Eine Meinung, die wohl ungeprüft (Stichwort: Einschalt- und Übertragungsquoten) von gewissen Nachbarn übernommen wird, die sich in letzter Zeit bis auf ein paar erfolgreiche Ausnahmen aus Bayern kaum oder nur schlecht auf den Rennbretteln halten können. Jedenfalls bestimmt hierorts die Trapp Family das Bild von Österreich. Auf den ersten Blick ist das für mich eine amüsante Schimäre aus westösterreichischer und bayrischer Folklore. Die Brauerei stellt dafür ein „Wiener“ Bier her, das wirklich wie das Ottakringer Original schmeckt. Klingt alles wie business as usual. Stünde da nicht die Flagge der k. u. k. Kriegsmarine im Büro des zu internationalen Filmruhm gelangten ehemaligen österreichischen U-Bootkapitäns und Familienpatriarchen von Trapp. Und dieses Detail lieferte den fixen Punkt, der unseren harmlosen Theaterabend aus den Angeln hob.
Es war Inger, die mich informierte, dass dieses Wochenende im Shubert-Theater New Haven eine Produktion von The Sound of Music lief. Sie wusste ja, dass ich Österreicher bin. Und ich wäre es nicht, wenn ich ihr gegenüber nicht schon einmal die Schlacht von Helgoland (Österreich vs. Dänemark 1866) und mein berufliches und privates Interesse an der österreichischen Marine erwähnt hätte. Weil ich zugegebenermaßen keinen Schimmer von dem Stück (oder dem Film) hatte, meinte sie, ich müsste mir das unbedingt ansehen. Die Gattin war von der Vorstellung, fröhliches Trällern im Alpenglühen zu bestaunen, zunächst nicht wirklich begeistert. Aber Inger und ich erinnerten sie daran, dass es beim Eheversprechen „in guten wie in schlechten Zeiten“ hieß. Juliane ließ sich hernach auch nicht lange bitten und checkte uns die Karten. Und voller Erwartung eines fröhlich heiteren Stelldicheins mit der leichten Muse bestiegen wir unseren Uber und fuhren vor dem Theater vor.
Das Shubert in New Haven sieht für meine europäischen Begriffe weniger wie ein Theater als vielmehr wie ein Kinocenter aus. Hohe Glastüren, mannshohe Plakate, Spannteppich und mehrere Bars die Popcorn, Snacks und Getränke in Plastikbechern verkauften. All das durfte selbstverständlich in den Zuschauerraum mitgenommen werden. Juliane und ich tranken vor der Vorstellung jeweils einen Piccolo Sekt und ein Bourbon-Cola. Aus dem Plastikbecher mit dünnem schwarzem Strohhalm versteht sich. Der dünne Trinkhalm weist das Getränk als alkoholisch aus. Das war allerdings der Teil, der mir als Europäer völlig wurscht blieb.
Ganz und gar nicht egal war uns die Steigung der Zuschauerränge. Der Blick stürzte quasi auf die Bühne. Ganz zu den Alpen passend überlegten Juliane und ich eine Seilschaft zu bilden. Unter Zittern und Stöhnen kletterten wir zu unseren Sitzplätzen. Unser exotisches Idiom weckte das Interesse einer Billeteurin, die uns erzählte, wie sehr sie The Sound of Music liebte. „Edelweiss“ wäre das Lieblingslied ihres Vaters gewesen, und sie müsse dabei jedes Mal weinen. Das erschien mir ein wenig prosaisch. Noch.
Der erste Akt erfüllte all unsere Erwartungen. Jodeldüüh, Herzeleid und Heißa hopsasa. Wir fragten uns, ob das wirklich ein Stück über den Anschluss 1938 war. Die Darstellung der ehrwürdigen Mütter aus dem Kloster Nonnberg brachte mich zum Schmunzeln, weil meine Tante bei ihnen im Internat gewesen ist. Der bemitleidenswerten und rebellischen Seele war hinter den Klostermauern selten zum Singen zumute. Zum Glück war das Klofenster nicht vergittert. Aber egal, die sieben Kinder spielten allerliebst. Die Sänger waren hochprofessionell. Und das Publikum war außer Rand und Band. Eine Stimmung wie im Fußballstadium. Popcorn und Begeisterung vor und nach jeder Nummer.
Dann kam die Pause. Der nette Barkeeper erinnerte sich an mich. Aus irgendeinem Grund war er der Meinung, dass ich vor dem zweiten Akt einen dreifachen Bourbon in meinem Cola brauchte. Dafür berechnete er auch bloß einen Dollar mehr. God bless him! Der Rest der Pause verlief wie immer und überall. In der Herrentoilette hallende Leere, vor der Damenvariante eine endlose Schlange. Mein Angebot, schnell ins feindliche Lager zu wechseln, lehnte Juliane aber wohlweißlich ab. Es gibt Dinge, da verstehen US-Amerikaner bei aller zur schaugestellten Lockerheit einfach keinen Spaß.
Im zweiten Teil des Musicals blieb uns das Lachen im Hals stecken. Die Stimmung verdüsterte sich zusehends. Ich war verblüfft, im Hochzeitsanzug des Kapitäns von Trapp die authentische Uniform eines k. u. k. Korvettenkapitäns zu erkennen. Dann geschah auf der Bühne das Unausweichliche, die Nazis übernahmen die Kontrolle. Auch hier alle Uniformen korrekt. Als sie die Trapp-Familie bei den Kaltzberger Festspielen auf die Bühne zwingen, verhüllten fünf riesige Blutfahnen die Bühne. Vor den Hakenkreuz-Fahnen sang Vater Trapp dann „Edelweiss“. Wenn ein Wiener bei „Edelweiss“ zu weinen anfängt, dann bedeutet das zwei Dinge: Erstens, dass die Inszenierung wirklich gut ist. Und zweitens, dass es um Österreich im Moment nicht gut steht. Juliane war völlig fertig, Sie fühlte sich von den riesigen Fahnen auf der Bühne bedroht. Sie hatte die Dinger noch nie live und in der Größe erlebt, in Deutschland sind sie verboten.
Viele US-Amerikaner halten „Edelweiss“ bis heute für ein traditionelles österreichisches Lied oder sogar für die Nationalhymne, es wurde aber für The Sound of Music komponiert. Das Symbol ist jedoch authentisch. Das Edelweiß war das Symbol nicht nur der Gebirgsjäger, sondern auch der so genannten „Vaterländischen“. Christlich Sozialer und nicht selten katholisch-monarchistischer Widerstand. Dass beim Einzug in den Nationalrat an bestimmten Revers die blaue Kornblume durch das Edelweiß ersetzt wurde, ist kein Zufall, sondern Inszenierung. Eine deren Bedeutung mir erst durch die Inszenierung von The Sound of Music in den USA bewusst gemacht wurde. „Edelweiss“ ist das Abschiedslied an das Österreich, das die Trapp-Familie kannte und liebte. Und dass ich das Stück oder den Film so überhaupt nicht kannte, das hinterließ einen fahlen Beigeschmack auf meiner Zunge. Die gleichen Menschen sind erschüttert, dass wieder Deutschnationale im Nationalrat sitzen, deren Bildungspolitik erneut dazu geführt hat.

Mein Lieblingssatz aus dem Stück lautet jedenfalls für jetzt und allezeit: „I am Austrian, I will not be Heil-ed!“

Fortsetzung folgt...

Da wird das Bühnen-Salzburg eingepackt und in die nächste Stadt gebracht...

Samstag, 4. November 2017

Aus aktuellem Anlass...

Möchte ich mich entschuldigen. Bei allen Wählerinnen und Wählern, die ich nach bestem Wissen und Gewissen überzeugt habe, Peter Pilz in der Nationalratswahl ihre Stimme zu geben. Weil er sein Mandat nicht antritt. Für viele muss sich das jetzt anfühlen, als wären sie um ihre Stimme betrogen worden. Dafür möchte ich mich entschuldigen!
Meine Meinung in aller Kürze: Wenn die angejahrten Vorwürfe der bisher nicht in der Öffentlichkeit aufgetretenen Mitarbeiterin vor einem entsprechenden Gremium verhandelt wurden, es eine Einigung und Verurteilung gegeben hat, dann braucht es heute niemanden, der moralinsauer mit dem Finger darauf zeigt und urteilt. Die dafür zuständige Instanz hat nämlich bereits geurteilt und einen Schlussstrich gezogen. So funktioniert unser Rechtssystem. Für alle.
Und einmal mehr als Kassandra: Wer auch immer diese Kampagne angeleiert hat, sie oder er wird daraus keinen Nutzen ziehen. Die Wählerinnen und Wähler von Peter Pilz werden nicht reumütig zu Rot oder Grün zurückkehren. Die Selbstvernichtung der politischen Linken ist um eine Facette reicher.

Ich bin persönlich sehr enttäuscht. Trotzdem glaube ich, dass es wichtig ist, sich weiter politisch zu engagieren.

Donnerstag, 2. November 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 18)

Teil 18: Happy Halloween! Angst und Schrecken in finsterer Nacht.


Heute ist Allerseelen und unser erstes Halloween in den USA ist auch schon wieder vorbei. Auch der fünfhundertste Jahrestag der Reformation. Auf beides habe ich mich lange gefreut, auf „Luther 2017“ mehrere Jahre. Auf Halloween in den USA sogar noch länger, seit ich die „Treehouse of Horror“-Specials der Simpsons (1-28) verfolgt habe. Letztere, nämlich die Macher der Simpsons, versprachen mir, dass nachdem die kleinen Quälgeister mit ihren erbeuteten Süßigkeiten ins Bett gebracht sein würden, die großen Dämonen von der Leine gelassen, und das Halloween für Erwachsene beginnen würde. Lügner, schamlose!
In einer Universitätsstadt hatte ich mir von Halloween einiges erwartet. Besonders bei um die 20 Grad Celsius Außentemperatur und Indian Summer. Ideale Bedingungen zum Verkleiden und Ausgehen. Doch nichts, rein gar nichts war los. Bis auf ein paar erwartungsfrohe alte Säcke wie mich und ein paar junggebliebene Hexen. Ich bin mit einem Sack Schokolade neben der Tür gesessen, um auf „trick or treat“ zu warten. Aber das Gruseligste dieses Abends war das Lauschen auf das Schweigen der Türklingel, das Rauschen der Bäume und die Stille der Nacht vor den Fenstern. Okay, zwei oder drei Nachbarskinder krähten fröhlich aus dem offenen Fenster, und irgendwelche Besoffenen aus einem angrenzenden Viertel bekamen sich in die Haare. Das waren aber die ganz alltäglichen Typen, und sie waren auch nicht verkleidet. Die schauen zwar wie Zombies aus, sind aber keine. Wie an jedem anderen Wochentag waren spätestens um Mitternacht ringsum alle Lichter aus und alle im Bett. Bis zirka Drei Uhr morgens, dann nämlich stehen die oberen Nachbarn zum traditionellen Holzschuhtanz auf, den sie Nacht für Nacht für ihre unteren Mitbewohner aufführen. Ist man den einen die Klampfe würgenden Studenten los, zieht kurz darauf der nächste ein. Wir sind hier so unglaublich locker, individuell und gar nicht spießig. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass zumindest in New Haven am Abend von Halloween genau die Friedhofstille Einzug gehalten hat, die sich manche Traditionalisten nach Mitteleuropa zurück wünschen, wo inzwischen Partys mit sexy Hexen und schaurigen Untoten gefeiert werden. Für die Teilnahme müsste ich mich nicht einmal schminken, nicht nur bin ich krankheitsbedingt scheckig, ich bin auch grün vor Neid. Wirklich alles in der Welt scheint einem Kreislauf, einem Auf-und-Ab und Hin-und-Her unterworfen.
Halloween ist die irische Variante des keltischen samuin oder Samhain-Fests. Die keltische Kultur nahm in Hallstatt im Salzkammergut ihren Anfang, mit den Hallstatt-Kelten. Von dort verbreiteten sich Sprache, Brauchtum und Glauben bis auf die britischen und irischen Inseln. Und von dort weiter in die USA. Trotzdem habe ich mir neulich eine Dokumentation über die Hallstatt-Kelten (!) angesehen, in dem kein einziges Wort über den Ort Hallstatt zu hören und kein einziges Bild von Hallstatt zu sehen war. Nichts, keine Situla von Kuffern, kein Kultwagen von Strettweg, keine Schnabelkanne vom Dürrnberg. Auch kein Bogenschütze von Amesbury (Stonehenge). Die interviewten französischen und deutschen Archäologen haben sich vielmehr gewundert, mit welchem kostbaren Gut diese Vorfahren wohl gehandelt haben mochten, um derart wertvolle Luxusgüter z.B. von den Griechen zu erwerben. – *Räusper* - Hall bedeutet Salz! In Hallstatt im SALZkammergut ist die der Kultur namensgebende Saline. Ob dieses Auslassen – ich glaube nicht, dass es Unwissen ist – mit der heutigen modernen und weltoffenen Gesellschaft in Österreich zu tun hat? Wie dem auch sei! An Halloween/Samhain waren die Tore der Unter- bzw. Anderswelt geöffnet, alle Toten, Geister und Dämonen hatten zwei Nächte Ausgang. Wenn ich bedenke, dass die präkolumbianischen Azteken in exakt denselben Nächten (und von Europa unbeeinflusst) ihr Fest mit genau demselben Inhalt begangen haben, heute heißt es: Dia de Muertos – dann bekomme ich Gänsehaut.
Während in Europa dank Imperium Romanum, germanischen Wirtschaftsflüchtlingen (aka Völkerwanderung) und katholischer Kirche das lebensbejahende Totenfest in ein stilles, grabsteinschrubbendes und Kerzen anzündendes Allerheiligen verwandelt wurde, steppten in den USA die Hexen und in Mexiko die Skelette. Durch den alleinseligmachenden Einfluss der First Church of Income und der Anbetung des allmächtigen Dollars dreht sich das jetzt alles wieder um. Das heißt, während meine Nichte und mein Neffe in Österreich eine Halloweenparty feierten, verabredeten sich die Yale-Studenten zum Lernen, Laufen und Früh-zu-Bett-Gehen. Jobqualifikation und Selbstoptimierung. Die einzige offizielle Halloweenveranstaltung der Uni fand zu Mittag statt. Wenigstens einer Stifterstatue an einem College hat ein Tapferer einen Kürbis aufgesetzt. Es war zum Haare-Raufen.
Die Kinder, auf die ich gewartet hatte, durften nicht mehr von Haus zu Haus gehen. Ihre Eltern, erzählte man mir, verabredeten sich nach dem Kindergarten oder der Schule. Man traf sich in einem Parkhaus, parkte Kofferraum an Kofferraum, und die verkleideten Kleinen marschierten von einem Auto zum nächsten. Aus den offenen und dekorierten Laderäumen bekamen sie ihre Tüten und Säcke mit Naschereien gefüllt. Die Geister und Gespenster blieben unter ihresgleichen. Was zunächst nach Arroganz klingt und so manche Klassenkämpfer aufschreckt (mein innerer hat auch gleich aufgejault), hat leider nachvollziehbare soziale Gründe. In letzter Zeit wurden vermehrt Nadeln, Rasierklingen und sogar Gifte in den Süßigkeiten entdeckt. Ungleichheit, Neid und Ungerechtigkeit im Zeichen der Freiheit und der Leistungsgesellschaft tragen Früchte. Was für so viele Generationen von US-Amerikanern für selbstverständlich galt und die Gemeinschaft gestärkt hat, ist inzwischen zu gefährlich.
Und dann ist der Horror unserer Tage Wirklichkeit geworden, hat alle Feierstimmung gedämpft. Wie beabsichtigt, nehme ich an. In Manhattan hat ein Anschlag stattgefunden. Acht Menschen, die genau wie Juliane und ich den herrlichen Herbsttag bei einem Spaziergang genossen haben, wurden ermordet. Und ich kann dazu nur schreiben, dass ich inzwischen erschöpft bin. Vielleicht hätte ich ein anderes Buch als Feierabendlektüre wählen sollen als Michel Houellebeqs „Unterwerfung.“ Ganz bestimmt hätte ich nicht die Kommentare auf Facebook lesen sollen, die schalen Witzchen und unpassenden Vergleiche. Und vor allem hätte ich nicht den Nachrichten über die Hintergründe des Attentats und der Reaktion Präsident Trumps zuhören sollen. Der Kongress soll demnächst über die Abschaffung der Greencard-Lotterie, der „diversity lottery“, abstimmen. Ich möchte hysterisch auflachen wie ein Besessener: Vielfältiger, bunter und bereichert sollte unsere westliche Kultur werden. Was wir bekommen haben sind Angst auf die Straße zu gehen, Grenzkontrollen im Schengen-Raum und Einwanderungsstopps in die Neue Welt. Fromm und keusch bleiben wir zuhause, schlucken unsere Werte hinunter, ballen die Fäuste in der Tasche und verhüllen unsere Sexualität. Aus Entdeckern und Eroberern sind Leisetreter geworden.
Gruselig und schauderhaft sind auch die Tagesdecken in US-amerikanischen Motels und Hotels. Niemals auf den Gedanken kommen, sich mit einem dieser jauchigen Lappen zuzudecken! Haut- bzw, Körperkontakt empfehle ich tunlichst zu vermeiden. Ein warnender Hinweis ist für den geübten Beobachter schon die Tatsache, dass diese kunststoffhaltigen und steifen Gewebe nur das untere Drittel oder Viertel des Bettes bedecken. Das rührt daher, dass sich US-Amerikaner unter Tags in Schuhen aufs Bett legen. Jedenfalls auf ein Hotelbett. Ein Schauermärchen, das mir mein seliger Großvater noch über „die Russen“ in ihren dreckigen Stiefeln erzählt hat. Die moderne Highheels- und Turnschuh-Variante ist unter anderem den reality shows des privaten US-Bildungsfernsehens zu entnehmen.
Im neu renovierten Badezimmer eines Motels hatte ich dann eine Begegnung der dritten Art mit einer fremden, aber legendären Spezies. Ich öffnete die Tür und drehte das Licht auf. Da saß sie mit aufgestellten Fühlern und schreckgeweiteten Facettenaugen: die Küchenschabe. Dass die Kleine ebenso, wenn nicht noch mehr, von meinem Anblick entsetzt gewesen ist wie ich von ihrem, war deutlich spürbar. Da stand ich nun, in aller Allmacht über Leben und Tod in meinen Hausschuhen vor ihr. Draufsteigen, oder nicht? Ich hatte weder Lust, dieses unschuldige Leben zu nehmen, noch eine Unzahl von unter den Flügeln mitgebrachten Nachkommen und potentiellen Rächern über den Fußboden zu verteilen. Die Kleine hatte mir nichts getan. Und dass sie in den üblichen Verstecken und Ritzen wohl keinen Platz mehr gefunden hatte, verhieß auch nichts Gutes. Schlafende Riesen soll man nicht wecken. Ich drehte also das Licht wieder ab. Wie erwartet traf ich meine Küchenschabe kurz darauf auf dem Flur. Das Laufen auf dem neu verlegten Laminat fiel ihr nicht leicht. Endlich verschwand sie via Sesselleiste ins Nachbarzimmer. Ich hoffe für sie, dass in den dunklen Ritzen und Spalten dort noch mehr Platz war. So etwas kommt eben raus, wenn man seine Wände aus Holz und Papier baut.
Und für alle, die das europäische Modell der öffentlich-rechtlichen Sender abschaffen möchten, noch ein zweckdienlicher Hinweis: Bei dem Versuch, mir „Treehouse of Horror XXVIII“ auf FOX anzusehen, musste ich fünf Werbeunterbrechungen mit jeweils vier bis maximal fünf Werbeclips über mich ergehen lassen. Und die sind länger und penetranter als in Europa, trust me. Bei all den angepriesenen Smartphones, Onlinebanking-Optionen und Versicherungen blieb die größte Herausforderung, der halbstündigen Handlung zu folgen.
Der ganz alltägliche Terror offenbarte sich vor jedem Arztbesuch. Hier lauert ein Wust von Organisation auf die Arglosen. Das Gesundheitssystem ist sauteuer, organisieren darf sich jede und jeder alles selbst. Zuerst checkt man sich selbst einen Termin, danach erfährt man, ob der Arzt mit der Krankenversicherung einen Vertrag hat. Davor liegen jedoch die Rechnung auf dem Tisch, und die Patienten auf dem Spannteppich. Kommt man dort, zu Füßen der Sprechstundenhilfe, langsam wieder zu sich und hat den Anblick der Kostenstellen verdaut, kommt das Bezahlen. Fachkundiges Personal hebt einen auf, dreht auf den Kopf und schüttelt die letzten Nickels, Dimes und Quarters aus den Taschen. Dann strauchelt man heimwärts und versucht, die Arzt- und/oder Behandlungskosten ersetzt zu bekommen. Viel Glück dabei!
Auf der Straße scheppern derweil liebevoll mit Aufklebern zusammengehaltene Rostlauben vorbei, aus deren Fenstern es dröhnt. Schallwellen rütteln an meinen Ohren, die wie Werkstattgeräusche und rhythmisches Keuchen und Grunzen klingen. Wohl um die Motor- und Auspuffschäden zu übertönen. Zunächst bin ich irritiert, dann erinnere ich mich, das soll Hip Hop sein. Hier sind alle Autofahrer sehr sportlich, auf Asphalt fährt die Mehrheit Slicks. Die gibt es beim Gebrauchtreifenhändler des Vertrauens zu erwerben. Der Einsatz profilloser Reifen verleiht einer Taxifahrt in strömendem Regen erst den letzten, erfrischenden Kick. Um sich das Elend der lizensierten Taxiunternehmen zu ersparen, bestellt man sich am besten einen Lohnsklaven – *Sorry!* – Uber. Als nächstes röhrt dann einer ohne Helm auf dem Motorrad vorbei. Er ist ja schon einundzwanzig und kann tun, was er will. Klar, wer keine Krankenversicherung hat, der braucht auch keinen Helm.

Last but not least habe ich meine erste „flash flood warning“ auf das Handy bekommen. Bei dem Alarmgeräusch mitten in der Nacht habe ich mir beinahe in die Hose gemacht. Zum Glück waren nur andere, tiefer gelegene Stadtteile von der Springflut direkt betroffen. So etwas wie „hard rain“ habe ich noch nicht erlebt. Tropisch anmutende Verhältnisse in Neuengland. Sturm und Regenfall, der innerhalb von Minuten die Kanalisation überfordert und Straßenzüge unter Wasser setzt. Die riesigen Bäume trotzten dem Wind, ohne größere Schäden. Aber in einem Holzhaus ist man auch bei Naturereignissen dieser Art nicht nur dabei, sondern mittendrin. Ich lag im Bett, starrte an die Decke und hörte den Regen peitschen, die Äste knarzen und den Sturmwind heulen. Das klang unheimlich und fremd, bis die oberen Nachbarn ihre Holzschuhe anzogen, und ich wieder ein warmes und heimeliges Gefühl bekam. Genug des Schreckens. Halloween ist vorbei.

Fortsetzung folgt...