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Samstag, 20. Oktober 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 39)


Teil 39: Mein persönlicher Exorzismus vor Halloween


Nach einer längeren, zum Teil unfreiwilligen Pause, ein neuer Blogbeitrag. Die Zeit vergeht viel zu schnell. Vor kurzem war es noch Sommer, schweißtreibend und feucht, und schon ist der Herbst fast wieder vorbei. Vor den Fenstern der Indian Summer, sonnig und bunt bei Tag, aber schon ordentlich kalt in der Nacht. Die Squirrels sind geschäftig, der Himmel ist blau, und die Blätter fallen langsam zu Boden. Schon kann ich durch die hohen Baumkronen die Hausdächer vor dem Horizont dahinter erkennen. Bei Sonnenuntergang brennen die Himmel. Unweigerlich muss ich bei ihrem Anblick an die Ghost Rider in the Sky denken. Nicht mehr lange, und der Winter ist da. Und noch viel beeindruckender: Juliane und ich haben das Gefühl, soeben erst in den USA angekommen zu sein und unsere Koffer ausgepackt zu haben, aber schon im März 2019 wird unser Aufenthalt in Connecticut zu Ende gehen. Ein zwiespältiger Gedanke, bis dahin ist nicht mehr so lange hin. Seit unserer Ankunft in New Haven ist viel mit und in uns passiert, Bemerkenswertes und Erinnerungswürdiges hat sich in unseren Leben zugetragen. Vieles davon habe ich hier mit meinen Leserinnen und Lesern geteilt. Danke!
Doch unsere Zeit in den USA ist noch nicht vorbei, und ein neuer Lebensabschnitt steht uns bevor. Ideale Voraussetzungen, um ein altes Übergangsfest mitzufeiern, eine Rite de Passage. Letztes Jahr haben wir gelernt, dass wenn wir Halloween-Stimmung haben wollen, wir sie uns am besten selbst machen. Die Umstände haben sich in den USA wie damals schon berichtet so sehr verändert, dass es all das, was mir aus TV, Film und Comic über Halloween bekannt war, in der freien Wildbahn nicht mehr gab. Jedenfalls nicht in New Haven. Einige Berichte von Zwischenfällen haben sich wie so oft bei diesen Dingen als Schauermär und Urban Legend herausgestellt, aber an einigem ist leider doch etwas dran, und so ziehen keine verkleideten Kinder mehr abends durch New Haven und fordern: Trick or Treat! In unserer Nachbarschaft gibt es vereinzelt aufwendig und lustig geschmückte Häuser. Das Lachen blieb mir beim Vorfahren öfters im Halse stecken, denn ein paar Häuser im nahegelegenen Problemviertel Dixwell wurden rundherum mit Tatortbanderolen umwickelt. Mit Scherzartikeln! Aber auf den ersten Blick und mit bestimmten Erwartungen: Schock! Auf anderen Veranden lehnen lebensgroße Särge samt Inhalt, versteht sich. Unsere unmittelbaren Nachbarn halten sich dagegen doch sehr zurück. Kaum dass ein kleines Kürbisgesicht aus einem Fenster grinst. Intellektuelle Spaßbremsen, wäre ich fast versucht zu sagen. Ganz anders Juliane, die bat mich heuer um einen Kürbiskopf. Ich machte mich also bereit, mit krummen Fingern und scharfer Klinge zur kreativen Tat zu schreiten. Das auszuhöhlende Gemüse wurde auch brav von Peapod geliefert, unserem Lebensmittelzusteller. Bei meinem ersten Versuch, den riesigen Plutzer vom Tisch zu heben und in die Küche zu tragen, hat er mich um ein Haar niedergestreckt. Das renitente Nachtschattengewächs war so schwer, dass es mich von den Füßen riss. 
Dieser Anschlag auf meine männliche Würde durfte nicht unbeantwortet bleiben. Zufrieden beobachtete ich, wie er von meiner Frau mühelos in meine Küche getragen wurde. Wo ich ihn ganz Halloween-mäßig skalpierte und mittels einem Löffel sein Innenleben herausschälte. Mit zwei Löffeln, um ganz ehrlich zu sein. Einer ging mir zu Bruch. Besondere Spannung kam auf, als sich gelegentlich meine Finger verkrampften und mir mein Werkzeug, von dem unerwarteten und heftigen Zucken beflügelt, um die Ohren flog. Doch nichts hielt mich zurück. Der Kürbis wurde niedergerungen! Zum Zeichen meines Sieges über die widerständige und eingeborene Vegetation füllen jetzt etliche Gefrierbeutel mit Kürbisfleisch unser Gefrierfach. Die orangerote Pracht wird auf längere Sicht so manchen Suppentopf füllen. Auf den Gewaltakt folgte der künstlerische Teil. Michelangelo-artig las ich die Form und Oberfläche meines Werkstückes. Zwar keines Marmorblocks, aber eines mächtigen Kürbisses. Und wie der titanische Künstler – zu Lebzeiten und wiederum ganz in der Halloween-Tradition stehend auch „la terrifica“ (das Schrecknis) genannt – es uns gelehrt hat, befreite ich das im Inneren des Kürbis Verborgene ans Licht und schälte sein Gesicht heraus. Mit langen spitzen Zähnen schielte es mich endlich an. Mich, seinen Schöpfer, von Kopf bis Fuß mit Kürbisschnitzeln bedeckt, mir schmerzenden Fingern und Gelenken und ziemlich verschwitzt. Zufrieden legte ich mein Werk der Gattin zu Füßen. Unsere Halloween-Laterne war bereitet. Doch schon nach wenigen Tagen wurde mir klar, dass wir uns ein wenig zu früh gefreut hatten. Erst verzog sich unser neuer Mitbewohner etwas, das heißt, er geriet aus der Form. Und als unser Kürbisfreund schließlich aussah als hätte er vergessen, morgens die Dritten, sein Gebiss, in den Mund zu stecken, begann er ein Düftchen zu verbreiten. Dieses fruchtig-herbe Aroma überzeugte Juliane, dass es für unseren Mitbewohner an der Zeit war, hinaus auf den Balkon zu übersiedeln. Dort bekommt er immer noch jeden Abend eine Kerze angezündet, trotzdem wirkt nun mehr wie ein stummes Denkmal für die Vergänglichkeit alles Irdischen. Das ist ja zu Halloween auch nicht ganz verkehrt. Trotzdem wird er demnächst ein frischeres Brüderlein oder Schwesterlein bekommen. Bestellt ist der neue Kürbis schon. Und der reckenhafte Bildhauer in mir ist bereit, sich die Schürze umzubinden und mit der Klinge in der Hand für seine Holde gegen die Tücken des Fruchtfleisches anzukämpfen. Juliane hat sich schließlich eine Kürbislaterne und kein glühendes Dörrobst als Dekoration unseres Heims gewünscht.
Unser zweites und vielleicht auch letztes Halloween in den Vereinigten Staaten sollte ein bisschen mehr dem Klischee entsprechen, bevor wir nach Europa zurückkehren. Das haben wir mit Halloween gemeinsam, wir kehren nach Mitteleuropa zurück und erscheinen nach allen erfahrenen Veränderungen fremd an unserem Ursprung. In Österreich gibt es ja immer noch sehr viele, die Halloween als ungebetenen Fremden wahrnehmen. Das Fest, heißt es da, hätte bei „uns“ nichts verloren. Vergessen wird, dass eine der drei Wiegen der europäischen Zivilisation neben Athen und Rom im heutigen Oberösterreich liegt: Hallstatt. In Irland werden österreichische Touristen darum gerne als Cousins begrüßt. In England, in unmittelbarer Nähe des legendären Stonehenge, wurde der Bogenschütze von Amesbury anhand seines Zahnschmelzes eindeutig als Alpenländer identifiziert. Der Helm vom Pass Lueg ziert bis heute jede Packung der französischen Zigarettenmarke Gauloises. Den trägt auch das Reiterstandbild für den legendären Römerfeind Vercingetorix in Clermont-Ferrand. Im Verlauf der Geschichte, vor allem aufgrund einiger unschöner Erfahrungen mit den Herren Napoleon und Bismarck, wandten sich die Nachkommen der keltischen Urbevölkerung von dem Avernerfürsten Vercingetorix ab und dem Cherusker Arminius aka Hermann zu. Die Hallstadtkultur ist der Ursprung der großen keltischen Nationen. Halloween begann seine Reise als keltisches Samhain-Fest. In Irland wurde es endlich zu Halloween. Dort war es sicher und überlebte. Europa erlebte ja bekanntlich erst die Völkerwanderung, dann bekam es die Freuden und Segnungen des Christentums zu schmecken: Aus dem rauschhaften Samhain wurde Allerheiligen und Allerseelen. Unsere Vorfahren tauschten das illuminierende Getränk gegen den Schimmer der Grabkerzen. Die pustete Martin Luther mit langem Atem aus und – Voila! –, da ist er, der Reformationstag. Nix mehr Halloween.
Aber als ungefähr zur selben Zeit als in Mitteleuropa die Denkmäler für Vercingetorix und Hermann errichtet wurden, in Irland die große Hungersnot wütete, kam wieder Bewegung in den Rundkurs. Weil alle Kartoffeln ungenießbar wurden, beschlossen unzählige Iren dorthin zu gehen, woher die vermaledeiten Knollen kamen: Nach Amerika. Im Gepäck hatten sie ihren römisch-katholischen Glauben und Halloween. Das machte die Puritaner schaudern, die hatten endlich alle christlichen und auch jeden sonstigen Feiertag als heidnisch gestrichen. Jedoch ihr Election Day Cake stellte keine wirkliche Konkurrenz für Trick and Treat dar. Der mächtige Cú Chulainn trat dem allmächtigen Dollar in den Hintern. Halloween packte Uncle Sam an seiner Schlecksucht und bei der Freude am Verkleiden. Heute gibt es wirklich rein gar nichts, vom Café Latte bis zum Eyeliner, dass es nicht auch in der Geschmacksrichtung oder der Duftnote Pumpkin Spice zu kaufen gibt.
Die Dinge die bis dato in der Welt geschahen, die brauche ich niemanden erzählen. Als ich ein Kind war, kannte ich Halloween eigentlich nur aus dem Lustigen Taschenbuch. Und ich wunderte mich, warum sich Donald Ducks Neffen im Herbst und nicht zu Fasching verkleideten. Und dass es nicht die Kostüme der üblichen Cowboys und Prinzessinnen waren, das fand ich ziemlich schick. In meiner Schulzeit gab es offiziell nur eine Faschings- und eine Krampus- Party. Erst während des Studiums erlebte ich die ersten Halloweenpartys. Es dauerte seine Zeit, bis sich das Fest etablierte. Mein Neffe und meine Nichte zogen schon mit anderen Kindern und verkleidet um die Häuser. Und heute haben sie in Niederösterreich an Halloween mehr Spaß als ich in Connecticut. Das finde ich eigentlich ziemlich unfair, ich könnte mich so einfach verkleiden. Ein paar Rollen Klopapier um den dünnen Leib gewickelt und fertig ist die Mumie. Im Gesicht schau ich eh aus wie Ramses mit Nikolausbart. Ja, aber soll nicht. Kann man nichts machen.
Halloween überflügelt in Europa also wieder seinen christlich-synkretistischen Nachfolger Allerheiligen und Allerseelen. In Mexiko gab es bei der Ankunft der katholischen Spanier ebenfalls einen geschwinden Kompromiss: Dia de Muertos, den Tag der Toten. Denn am selben Tag wie die Kelten ihr Samhain, feierten die Azteken ihre Göttin der Unterwelt Mictecacihuatl. Der Umstand, dass zwei uralte und vom atlantischen Ozean getrennte Kulturen am exakt denselben Tag mehr oder weniger das gleiche Fest begingen, der gibt mir schon zu denken.
Ich erwarte die Nacht der Toten und Dämonen daher mit Respekt. Einem solch mächtigen Festtag ging traditionellerweise eine Reinigung von Körper und Geist voran. Und eine solche habe ich vollzogen, allerdings keineswegs freiwillig. Buddha als auch Jesus waren sich als religiöse Lehrer einig, alles Käse die Askese. Beide nach vierzig Tagen des Fastens und einer Begegnung mit ihrem ganz persönlichen Satan aka Mara. Ich war daher so frei, bisher den Teil mit dem Fasten und Kasteien zu überspringen. Das klappte bisher ganz ordentlich. Ich bin ja nicht ohne Grund Lutheraner. Leider bin ich aufgrund meiner Erkrankung gezwungen, ziemlich schwere Medikamente zu nehmen. Und eines davon war nun der Meinung, meine spirituellen Reise um die von mir bisher so großzügig umschiffte Facette zu bereichern. Eine lange Geschichte kurz: Solche Nebenwirkungen habe ich noch nicht erlebt. Die wöchentliche Dosis Methotrexate kann einem wirklich den Tag versauen. Unter Umständen, die ich hier nicht weiter erläutern werde, machte ich mich bereit, meinem Schöpfer gegenüber zu treten. Mara, die Verkörperung des Todes, war so freundlich mir seine Aufwartung am Krankenbett zu machen. Umsichtig wie er so ist, welch nette Geste, hatte er auch seine drei Töchter mitgebracht: Lust, Unzufriedenheit und Gier. Die drei Weibsgestalten peitschten meine Gedanken derart, dass Juliane mich mehrmals umziehen und das Bett überziehen musste. Als ich endlich soweit war, nicht meinem Schöpfer, sondern meinem Arzt unter die Augen zu treten, fuhren wir ins Krankenhaus. Dort wurde ich untersucht und geröntgt. Wieder zuhause, hungrig wie ein Wolf nach drei oder vier Tagen ohne feste Nahrung, dann der Anruf: Ich durfte zwei weitere Tage nichts essen. Da lag ich also wieder in meinem Bett, und die Gedanken rasten wie Güterzüge zwischen meinen Ohren hindurch. Das Donnern der Räder wich bald dem Dröhnen der Pauken. Zimbeln klingelten. Drei Frauen tanzten herein. Schimären zwar, aber allerliebst anzuschauen. Leider keine Samhain-Dämoninnen, sondern die drei Grazien, Maras Töchter, schwangen die Beine und kreisten mit den Hüften. Immerhin pfiff da nicht schon der Buttenhansel selbst. Nun gut, wie alles ging auch das vorbei. Beim frühmorgendlichen Anruf im Krankenhaus zwei Tage später wusste natürlich niemand irgendwas über meine kleine Hungerkur. Viele automatische Anrufberatersysteme und zahlreiche Versprechen eines Rückrufes später, saßen Juliane und ich im Auto und fuhren ins Krankenhaus. Stand ich einmal leibhaftig vor ihnen, hatten sie ein Problem. Ich weiß nicht, irgendwie habe ich das Gefühl, es gibt eine gewisse Gruppe Leute, die ihre Mitmenschen wie Bazillen und Viren beurteilen. Sie ignorieren alle Anrufe und Emails, und sie hoffen scheinbar, die störenden Menschen und ihre lästigen Anliegen gingen einfach so weg wie ein grippaler Infekt. Ich war aber kein Schnupfen. Ich war ein Bär, ein zottiges und vor allem hungriges Vieh aus dem tiefen und finsteren Wald. Ich will hier auch gar nicht länger herumjammern, zuletzt waren dann alle ganz nett und hilfsbereit. Eine X-Ray-Untersuchung und wenige Arztgespräche später saß ich wieder daheim. An meinem Esstisch und vor mir das, was hierorts einem europäischen Brot am nächsten kam. Dazu französische Marmelade, irische gesalzene Butter und südamerikanischer Kaffee. So schmeckte das Leben. Die Nacht der Toten konnte kommen. Ich war bereit.

Fortsetzung folgt...