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Dienstag, 31. Juli 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 36)


Teil 36: Hybris ist es nur, wenn es schiefgeht! / Gettysburg, PA (Teil 1)


Ich habe mir mit dem Verfassen dieses Beitrages über Julianes und meinen Aufenthalt in Gettysburg in Pennsylvania vom 10. bis zum 13. Juli viel Zeit gelassen. Zum einen, weil wir in der Zwischenzeit lieben Besuch aus Europa hatten, zum anderen, weil dieser Text einige „heiße Eisen“ berühren wird, und ich von dem Erlebten sehr bewegt, ja erschüttert, worden bin. Das führte dazu, dass dieser Text auch etwas länger geworden ist.
Ich verstand bisher nicht wirklich, weshalb ich eine so tiefe Verbundenheit zu dieser kleinen Stadt in Pennsylvania gespürt habe und nach wie vor verspüre. Und ich muss mich an dieser Stelle bei meiner Frau bedanken, dass sie mir meinen Jugendtraum erfüllt hat und mit mir insgesamt vierzehn Stunden auf diesem US-Bürgerkriegs-Schlachtfeld verbracht hat, das in der Geschichte der USA so eine maßgebliche und richtungsweisende Bedeutung hat. Sie ist zweimal mit mir den Autowanderweg gefahren und ist buchstäblich mit mir über Stock und Stein geklettert. Was an sich schon für viele kein Spaß wäre, aber in meinem gegenwärtigen Zustand und den herrschenden feuchtheißen Außentemperaturen keine allzu große Freude zu werden versprach. Es aber dennoch war. Wie dem auch sei, Juliane überraschte mich mit dem Geschenk einer durchorganisierten Reise. Und wäre Juliane nicht auch historisch interessiert, die landschaftliche Schönheit Pennsylvanias, vor allem des Gettysburg National Military Parks, entschädigte uns beide für vieles, auch die in Kauf genommenen Mühen. Ich selbst habe Gettysburg auf drei Ebenen erlebt: Auf zwei bewussten, der historischen und der gegenwärtigen Erfahrung. Und auf einem daraus resultierenden unbewussten Erkenntnisniveau, das mich erschreckt hat. Dazu später mehr, und eines nach dem anderem.
Danach gefragt, hätte ich bisher geantwortet, meine Verbundenheit mit dem US-amerikanischen Bürgerkrieg im Allgemeinen und mit der Schlacht von Gettysburg im Besonderen hätte 1993 begonnen. Im gut und leicht beeinflussbaren Alter von fünfzehn Jahren. Ich hatte mir den viereinhalbstündigen Film „Gettysburg“ im US-amerikanischen Original angesehen. Auf Videokassette, vom damals noch mit Kabelfernsehen erhältlichen Fernsehsender „TNT Classic Movies“ mit dem Videorekorder aufgenommen. (Wer sich an die Neunziger erinnert, weiß, der Sender kam abends nach „TNT Cartoon Network“. Und es gab noch 300 Minuten Leerkassetten in den Läden zu kaufen.) Und weil sich dieses Monumentalwerk niemand sonst mit mir ansehen wollte, gemeinsam mit meiner Mutter. Heute ist mir klar, dass diese Konstellation kein Zufall war. Jedenfalls blieben uns beim Zusehen Augen und Münder offen: Colonel Chamberlains (USA) gebildete Entschlossenheit erregte Gänsehaut (Little Round Top). Der letzte und entscheidende Angriff der Konföderierten (Pickett´s Charge) jagte mir einen Schauder nach dem anderen über den Rücken. Bei der letzten Bitte von General Armistead (CSA) brach ich in Tränen aus, weil der Schauspieler in meinen Augen aussah und sich benahm wie mein Onkel (der Mutterbruder, in der Rückschau auch kein Zufall). Der letzte Kommentar General Longstreets blieb mir im Gedächtnis: „Yankees ain´t comin´. Too bad!“ Kurzes und schmerzliches Fazit: Am Ende des Streifens saßen zwei erschöpfte und emotional zerrüttete Nervenbündel auf der Couch im Wohnzimmer.
Fünfundzwanzig Jahre später, nachdem ich alles, was ich seither über das Thema in die Hände bekommen hatte, gelesen und angesehen hatte, schenkte mir meine Frau eine dreitägige Reise an diesen für mich persönlich und die USA (und auch weltgeschichtlich) besonderen Ort. Die Gewissheit, Gettysburg endlich mit eigenen Augen zu sehen, das Schlachtfeld wahrhaftig unter den Sohlen zu spüren, machte mir bei aller Freude auch Angst. Weniger wegen der Melancholie der erfüllten Wünsche, sondern vielmehr aufgrund der Furcht vor den Folgen der realen Manifestation einer meiner größten Wünsche und Fantasien. Ein wesentlicher Aspekt meiner Reaktion waren meine Diagnose und Prognose. Kurz: Mich beschlich das Gefühl, Fahrgast im Zug meines Lebens zu sein und eine oder zwei Haltestellen vor der Endstation angekommen zu sein. „Letzter Halt: Gettysburg!“
Nun, der Tod ist Wiener, darum weiß er, wie man lebt! Ich hatte schon die eine und andere Gelegenheit, mich mit dem „Gevatter“ vertraut zu machen, also behielt ich meine Bedenken zunächst besser für mich. Es gab keinen vernünftigen Grund, Juliane mit derartigen Hirngespinsten zu beunruhigen. Mit gemischten Gefühlen erwartete ich den Tag unserer Abreise. Als er da war, bestieg ich ohne Zögern und voller Vorfreude den Amtrak-Zug nach Philadelphia. Wenngleich auch aus genannten Gründen etwas einsilbig. Und dank der Klimaanlagen in den Garnituren fühlte ich mich rasch wie der gleichnamige Frischkäseaufstrich im Kühlregal. Anhaltendes Zähneklappern klärt die Gedanken. Alle Bedenken aus dem Vorfeld der Reise waren wie fortgewischt. Ich reiste mit Jacke, Schal, Mütze und unter einer Fleece-Decke. Und schön langsam wurde ich wirklich böse, dass ich dank der künstlichen Innenraumtemperaturen in den USA im Sommer mehr friere als im Winter. Da meine Finger und Zehen dank des Morbus Raynaud unmittelbar mit Blutleerheit und Absterben auf Frost und Klimaschwankungen reagieren, ist das keine Freude. Durch Beobachtung einiger ebenso frierender Mitreisender beiderlei Geschlechts habe ich während dieser Zugfahrt gelernt, dass es im Durchgang zwischen den Waggonen, bei den Ein- und Ausstiegen, ungekühlte Bereiche zum Aufwärmen gibt. Dort versammelten sich die wackeren Krieger von Olaf Blaulippe zum Ting. Blaulippig, weil wir natürlich alle für sommerliche Temperaturen weit über dreißig Grad Celsius angezogen waren, aber in den Zugabteilen Temperaturen wie im Winter vorfanden. Unnötig zu erwähnen, dass es auch eine Vielzahl von Zeitgenossen gab, die (alle) Eigenschaften von Walrössern in sich vereinten und diese Zustände als „nice and cool“ bezeichneten. Europäer seid gewarnt! Hört ihr solches, zieht euch warm an!
Von Philadelphia ging unsere Reise weiter nach Harrisburg. Auf dem wirklich schönen Bahnhof von Philadelphia fanden wir auf einer anachronistischen Anzeigetafel aus Udine in Italien unseren Anschlusszug. Eine solche analoge Anzeigetafel mit klappernden rotierenden Täfelchen habe ich zum letzten Mal vor mehr als zwanzig Jahren in Aktion gesehen. Sie funktionierte vorzüglich. Allerdings ließen uns uniformierte Bahnmitarbeiter nicht hinunter auf den angegebenen Bahnsteig. Stiege und Rolltreppe waren mit Stoffbändern abgesperrt wie vor einem geschlossenen Check-In-Schalter eines internationalen Flughafens. Es dauerte eine Weile, bis Juliane und ich verstanden, dass wir uns in einer Warteschlange anzustellen hatten. Da wir möglichst nahe an der Rolltreppe warten wollten, stellten wir uns erst am falschen Ende an. Eine Dame erregte sich erst gut hörbar, dass so viele Leute die Warteschlange ignorierten. Dann kam sie zu uns und fragte honigsüß, ob wir auch „priority“ gebucht hätten. Hatten wir nicht, wir reisten beim Ein- und Aussteigen auf Bahnhöfen klassenlos europäisch. Unseren Fehler einsehend begaben wir uns unters Volk am anderen Ende. Kurz vor der planmäßigen Abfahrt des Zuges öffnete der Bahnmitarbeiter die Schranken, und die Fahrgäste strömten in Klassen getrennt auf den Bahnsteig hinunter. Es waren Momente wie diese, in denen ich denke, in einer Feudalgesellschaft oder mindestens Oligarchie zu leben. Wozu die schöne Revolution von 1776, derer wir vor einer Woche gedachten, um sich dann Wappen wie Wirtshausschilder zu erfinden, an die Häuser zu pappen und in einem auf Geldbesitz basierendem Erbsystem zu leben? Jedoch es gab immer wieder erfrischende Charaktere wie unseren afroamerikanischen Uniformierten auf dem Treppenkopf, die ihre Holzschuhe in die Maschine warfen und das System sabotierten: Auf dem Perron lief alles zusammen, alles durchmischte sich, jede stand neben jedem, indes noch kein Zug auf dem Gleis. Der fuhr erst ein paar Minuten später ein. Der Zug nach Harrisburg leerte sich erst völlig, dann konnten wir alle gemeinsam einsteigen. Philadelphia war die Endstation einer Bahnlinie, Harrisburg die andere. Die Illusion gegenüber seinen Mitreisenden privilegiert zu sein, hatte sicher eine Menge gekostet, währte aber nur kurz. Ich hoffe, dass dieses Gefühl es wert war. Der Komfort der Coach Class der Amtrak-Züge übertrifft meiner Ansicht und Erfahrung nach die Annehmlichkeiten der Ersten Klasse in jedem ICE oder Railjet. Es ist mir daher nicht nachvollziehbar, weshalb ich Business oder „priority“ buchen sollte.
Im Vergleich zu der großen und repräsentativen Bahnhofshalle von Philadelphia präsentierte sich Harrisburg klein und überschaubar. Ein netter historischer Bahnhof aus genieteter Stahlkonstruktion und ölfarbengestrichenem Holz. Hübsche Schnitzereien imitierten dekorative Stuckatur. Zwei große offene Kamine an beiden Seiten der Wartehalle bezeugten, dass die Winter in Pennsylvania kalt werden konnten. Harrisburg am schönen Fluss mit dem fast unaussprechlichen Namen Susquehanna River (Aus wessen Sprache der wohl kommt?) war das Ende unserer Zugverbindungen. Gettysburg verfügte zwar über einen kleinen historischen Bahnhof, aber über keine aktive Zuglinie mehr. Bei der Planung unserer Anreise hatte Juliane erfahren, dass es von Harrisburg nach Gettysburg nur noch eine kurze Taxifahrt war. Der auch nach eineinhalb Jahren USA immer noch unverständige Europäer denkt dabei an eine Autofahrt von fünfzehn Minuten, vielleicht zwanzig. Weit gefehlt, die Taxianreise dauerte fast eine Stunde. Der auch hier einsetzende Konkurrenzkampf mit Uber führte immerhin dazu, dass uns unser Taxifahrer nicht das Weiße aus dem Auge schälte. Der Fahrpreis gestaltete sich moderat. Der Kleinbus war ein wenig abgenutzt, gelegentlich grüßte uns lautstark und mit Getöse das Getriebe, aber der Fahrer war ein echtes Original. Bis er uns vor der Türe unseres Hotels absetzte, waren wir gemeinsam tanken (wobei er den Taxameter ausschaltete) und erfuhren, dass er in Gettysburg aufgewachsen war, in New Orleans gelebt hatte, für BMW in der Produktion gearbeitet hatte und in seinem Keller Motorräder renovierte. Diese wuchtete er ohne Lenker die Kellertreppe nach oben ins Freie, sobald seine Arbeit an ihnen getan war. Er lud unsere Koffer aus, rauchte noch eine Zigarette und fuhr dann zurück nach Harrisburg, wo eine vorab gebuchte Nachtfuhre auf ihn wartete.
Wir wohnten in einem ansehnlichen und sauberen typischen Kettenhotel am Stadtrand. In unserem Zweibettzimmer erwarteten uns zwei Queen-Size Betten, nach unseren Maßstäben also Doppelbetten. Die Fenster ließen sich wie üblich nicht öffnen. Immerhin war die Aircondition „ökologisch“ eingerichtet, sie aktivierte sich mittels Sensor, sobald Menschen im Raum waren. Stand der Raum leer, schaltete sie sich ab. Das verstand ich als Fortschritt. An der Tür erschreckte mich der Hinweis, dass dieses Zimmer im Normalfall, d.h. ohne Angebot, 500 Dollar die Nacht kostete. Unabhängig davon, ob eine Person oder vier darin übernachteten. Mit solchen Preisen verbanden sich für unsereins gewisse Erwartungen. Spannend am nächsten Morgen zu erleben, dass das Frühstück in Pappbechern und auf Styroportellern angerichtet wurde. Bedienen musste man sich selbst. Ein Frühstücksbüffet ist ja an sich eine feine Sache, aber wiederverwendbares und ästhetisch ansprechendes Porzellangeschirr und Metallbesteck wäre in mancherlei Hinsicht wünschenswert, nicht bloß angesichts der Zimmerpreise. Tischdecken gab es auch hier nicht. Sie sind in den wenigstens Lokalen und Restaurants vorhanden. Egal, ich verspeiste meine so genannten Frühstückscerealien aus dem Müslispender, ein hartgekochtes Ei, ein kaffeearomatisiertes Heißgetränk und einen Grapefruitsaft. Juliane verspeiste etwas Obst und nahm zwei Äpfel vom Buffet mit, die wir später noch verschenken wollten. An jene, die uns selbstaufopfernd Gutes taten. An der Wand hing ein Großbildfernseher und breitete eine Decke aus Nachrichten, Werbung und Diskussionsrunde über den Frühstücksraum. Und obwohl eine entsprechende Warnung gut lesbar an der Mikrowelle befestigt war, stellte eine Frau, mutmaßlich ein entschiedener Beyoncé-Fan (man bekommt einen Blick dafür), ihr hartgekochtes Ein hinein. Ein lauter Knall, und ihr Begleiter putzte geflissentlich die Bescherung aus dem Gerät. Juliane und ich machten uns per Uber auf dem Weg in die Stadt.
Es ist schwierig für mich in Worte zu fassen, was es für mich bedeutete, endlich die Stadt und die als Nationalpark historisch erhaltene Landschaft mit eigenen Augen zu sehen, wo vom 1. bis zum 3. Juli 1863 die beiden bedeutendsten Armeen des US-amerikanischen Bürgerkrieges aufeinandergetroffen waren. Die Army of Northern Virginia der Konföderierten Staaten von Amerika unter Robert E. Lee und die Army of the Potomac der USA unter George Gordon Meade. Diese Begegnung bedeutete den entscheidenden Wendepunkt. Der bedingungslose Widerstand der Unionstruppen vor allem unter Ulysses S. Grant im Westen der USA kann unter Umständen darüber hinweg täuschen, dass der Sezessionskrieg bis zum 3. Juli 1863 zugunsten des Südens verlief. Die Army of Northern Virginia war eine für konföderierte Verhältnisse besser ausgerüstete und bislang ungeschlagene Invasionsarmee auf ungebremstem Vormarsch. Die Army of the Potomac war eine gut ausgebildete, gut ausgerüstete und völlig demoralisierte Verlierertruppe. Die vereinigte Presse hasste sie. Ihre furchtbare Niederlage bei Chancellorsville war erst ein Monat her, und sie hatte Rückzug um Rückzug schon mehrere Oberkommandeure verschlissen. Deren Karrieren waren tot wie das in der ebenfalls „Karriere“ genannten militärischen Gangart zu Schanden gerittene Pferd. Lee war mit seinen „Rebellen“ über sie hinweggefegt. Antietam, wo an einem Tag mehr Amerikaner starben als während des D-Days 1945 in der Normandie, war bloß ein blutiges erschöpftes Patt. Und dieses Gemetzel war erst die Ouvertüre für die Dinge, die da kommen sollten. Nachdem US-Präsident Abraham Lincoln seinen General Joseph „Fighting Joe“ Hooker gefeuert hatte, als er Lee und seine Army of Northern Virginia mit seinen Leistungen erfolgreich zur Invasion auf Unionsgebiet ermutigt und entfesselt hatte, berief er nach vielen fruchtlosen Bewerbungsgesprächen den nunmehr fünften Oberkommandeur ins Amt: George Gordon „Old Snapping Turtle“ Meade. Das vereinte Offizierskorps war sich einig, den ungeliebten Posten sollte der US-Präsident der „alten Schnappschildkröte“ umhängen. Das war fünf Tage vor der Schlacht von Gettysburg. Und da sage noch einer, in der ersten Woche im neuen Job könnte man nichts Bemerkenswertes leisten.
Es ist viel darüber diskutiert worden, weshalb dieser Krieg geführt worden ist. Vor allem von konföderierter Seite wurde und wird bestritten, dass der eigentliche Kriegsgrund die Sklaverei bzw. deren Abschaffung gewesen war. Es ist zweifelsohne richtig, dass der Sklaven besitzende und ausbeutende Süden die Baumwolle produzierte, die im Norden industriell verarbeitet und weitergehandelt wurde. Viele Unternehmer aus dem Norden bereicherten sich im Sklavenhandel. Die Profiteure des Menschenhandels und der Ausbeutung saßen und verdienten auf beiden Seiten der Mason-Dixon-Linie. Aber im Norden formierten sich die Abolitionisten, die für ein Verbot der Sklaverei auch endlich in den USA eintraten. Im Vorfeld des Bürgerkriegs kam es zu mehreren, heute Großteils unbekannten bewaffneten Aufständen, z.B. in Kansas und in Harpers Ferry (unter John Brown, 1856 und 1859). Falls die eine und der andere einmal mehr die Religiösen für den Krieg verantwortlich machen möchten, so ist dies durchaus möglich, da unter den Abolitionisten zahlreiche, eigentlich die Mehrheit durch ihren christlichen Glauben motiviert waren, die menschenverachtende Praxis zu verbieten. Ein weiteres interessantes Detail: Abraham Lincoln war Präsidentschaftskandidat und Mitglied der damals neu gegründeten Republikaner. In wem jetzt noch immer der Funken des Zweifels glimmt, dem empfehle ich die Antrittsrede des Vizepräsidenten der Konföderierten Staaten Alexander Hamilton Stephens, in der „Corner Stone” Speech in Savannah, Georgia, 21. März 1861, stellte er unmissverständlich klar:
„Our new government is founded upon exactly the opposite ideas; its foundations are laid, its cornerstone rests, upon the great truth that the negro is not equal to the white man; that slavery, subordination to the superior race, is his natural and normal condition.“
(„Unsere neue Regierung wird auf genau den entgegengesetzten Ideen gegründet; ihre Fundamente sind gelegt, ihre Grundsteine ruhen auf der großen Wahrheit, dass der Neger dem weißen Mann nicht gleichwertig ist; dass die Sklaverei, Unterwerfung unter die überlegene Rasse, sein natürlicher und normaler Zustand ist.“)
Er bezog sich auf die in der Verfassung der neugegründeten Konföderierten Staaten vorgenommenen „Verbesserungen der Fehler und Irrtümer“, die beim Formulieren der Verfassung der Vereinigten Staaten von den Gründervätern begangen wurden. Die Verfassung der Konföderierten Staaten stellt bis auf diese wesentlichen „Korrekturen“ eine Abschrift des Originals dar. Beide Texte (bzw. alle drei) stehen zum Nachlesen im Internet. Der Kriegsgrund ist also bestens belegbar. Wie er in den darauffolgenden Jahren von der Nachwelt vergessen oder geschönt werden konnte, dabei spielen die konkreten Ereignisse bei Gettysburg eine entscheidende Rolle.
Ich näherte mich also auf dem Beifahrersitz eines Uber dem Vistor Center des Gettysburg Military National Park mit mehreren konkreten Fragen im Gepäck. Fragen, auf die mir nur der Lokalaugenschein eine Antwort geben konnte: Gemäß allem, was ich als Nachgeborener über die Schlacht und den weiteren Kriegsverlauf wusste, war ich zu dem Schluss gelangt, dass nur ein Mann halbblind vom Whiskey dieses Schlachtfeld zum Angriff wählen würde. Und da war es mir egal, wie oft und wiederholt betont worden war, welch großartiger Boden zum Kämpfen die Landschaft um Gettysburg wäre. Und da ich wusste, dass Lee kein solcher Mann gewesen war (er rettete mit seiner Befehlsverweigerung und Kapitulation am Kriegsende tausende Menschenleben), fragte ich mich, wie er sich zu dieser Entscheidung verlocken lassen konnte. Und den ersten Teil der Antwort hoffte ich im großen Museum des Nationalparks zu finden.
Auf den ersten Blick unterschied sich die Eingangshalle dieses Besucherzentrums sehr wenig bis überhaupt nicht von den mir bereits vertrauten, egal ob es sich um das Shubert Theater New Haven, die Warner Brothers Studio Tour oder ein beliebiges Kinozentrum handelte. Da waren wie überall die Restrooms, die Freilaufgehege für Warteschlangen vor den Kassen, die Kaffeetheke mit der lieben, bemühten, übergewichtigen und überaus langsamen Bedienung, die Hinweise auf den Museumsshop und in einem Nebentrakt der Verköstigungsbetrieb mit Selbstservice. Neu war der Informationsstand der uniformierten Ranger, die über die Wander- und Besichtigungstouren im Nationalpark aufklärten. Die hohen großflächigen Fenster gaben den Blick auf den umliegenden Mischwald frei. Wir waren relativ kurz nach dem Aufsperren eingetroffen, der Besucheransturm hielt sich daher noch angenehm in Grenzen. Wir sahen die gewohnten Ausflugsfamilien und Touristengruppen, in deren Gesamtbild wir uns mehr oder weniger harmonisch einfügten. Entweder sorgten mein Stock, oder unsere ausländische Sprache für Aufmerksamkeit und/oder Verwunderung. Auf den zweiten Blick zeigte sich, wie viele Veteranen hierher auf Besuch gekommen waren. Sie waren an ihren offiziellen Kappen erkennbar, die in goldgestickten Lettern ihre ehemaligen Einheiten oder Schiffe verrieten. Einige von ihnen grüßten mich freundlich, ja kameradschaftlich. Die ältesten erinnerten mich an meinen Großvater, den Muttervater.
Nach dem Kauf unserer Eintrittskarten weigerte ich mich noch standhaft, mich in einen Rollstuhl zu setzen. Zunächst standen erst einmal der Dokumentarfilm im Kino und die Show am Panoramagemälde von „Pickett´s Charge“ auf dem Programm. Da konnte ich mich jeweils hinsetzen. Entweder in den Kinoreihen, oder auf den vom Personal rasch und ungefragt bereitgestellten Klappsessel. Dieselben Männer sammelten alle Gehbehinderten ein und brachten uns in einem Aufzug auf die jeweils höheren Ebenen. Zuerst ins Kino, dann zum Panoramagemälde. Im Kino war es frostig. Nicht wegen der spürbaren Erwartungen des Publikums, sondern einmal mehr wegen der Klimaanlage. Zeit für mich, Jacke und Handschuhe anzuziehen. Das Voice-over, den Begleittext der auf Hollywoodniveau produzierten und um Ausgleich bemühten Dokumentation, sprach Morgan Freeman. Das fand ich in jeder Hinsicht sehr passend. (Morgan Freeman hatte unter anderem in Glory (1989) mitgespielt. Einem Historiendrama über die im Amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Union kämpfenden schwarzen Truppen. Im Besonderen der allerersten, historisch belegten Einheit, der 54th Massachusetts Volunteer Infantry/ die 54. Massachusetts Freiwilligeninfanterie.) Ein paar Reihen weiter saß ein zufrieden drein guckendes blondgelocktes Kleinkind auf der Schoß seiner jungen Mutter. Beide trugen Ruderleibchen, Shorts und keine Socken. Juliane flüsterte mir zu, in Deutschland würde bei diesen Temperaturen die Kinderfürsorge auf den Plan gerufen werden. Aber wie gesagt, das Kleine war bester Dinge. Da wurde mir klar, dass diese Kinder von klein auf an diese eisigen Temperaturen gewöhnt werden, weil sie sich für die Außentemperaturen angezogen in diesen tiefgekühlten Innenräumen aufhielten. Jetzt war mir auch klar, warum die Studenten in New Haven, allesamt Aircondition-Natives, im Winter halbnackt durch die Stadt und übers ganze Land liefen. Ihnen war wirklich nicht kalt. Umgekehrt schmolzen sie bei Außentemperaturen ab 30 Grad Celsius wie die mit Wasser begossene böse Hexe am Ende von „Der Zauberer von Oz“. Vor allem von jungen Männern hörte ich immer wieder, dass sie ohne Aircondition den Sommer „nicht überleben“ könnten. Und heimkehrende Europareisende dieser Generation behaupteten felsenfest, in Frankreich, Deutschland oder auch in Österreich gäbe es keine Klimatisierungen in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln. Meine Erklärung, in Europa wird geraten, die Innenräume nicht mehr als 8-10 Grad Unterschied zur Außentemperatur abzukühlen, sorgte noch jedes Mal für erstaunte Mienen. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, die US-Amerikaner gewöhnten ihre Kinder rechtzeitig an die Eiszeit, die sie mit ihrer Energiepolitik auslösten.
Während der Show vor und rund um das Panoramagemälde „Pickett´s Charge“ saß ein bejahrter Veteran der Militärpolizei (laut Kappenstickerei) neben mir. Beim Donnern der Kanonen hielt er sich die Ohren zu. Nach der Vorführung im Aufzug sagte er zu Juliane und mir, was wir da gehört und gesehen hätten, das war die „stupidity of mankind“, die Dummheit der Menschheit. Und als er in seinen kurzen Hosen etwas x-beinig vor mir stand, erinnerte er mich wieder an meinen Großvater. Und an die Narbe unterhalb seines linken Knies, ab der sein Unterschenkel einen leicht nach innen gekehrten und etwas unnatürlichen Winkel beschrieb. Nur dass ihm Pulverdampf und Explosionen nicht zusetzten, er im Gegenteil sehr gerne zu Schießbuden ging und Feuerwerk zu Sylvester abbrannte.
Mein gleich von Anfang an zaghaft vorgetragener Widerstand war rasch gebrochen, und meine Frau setzte mich in einen Rollstuhl. Sie hatte ja Recht, mir war auch klar, dass mir in den Ausstellungsräumen sehr bald die Kondition ausgehen würde. Noch quietschte ein wenig mein Stolz bei dem Gedanken, von ihr herumgeschoben zu werden, aber die richtige Einschätzung meiner Kräfte und Ressourcen war überlebenswichtig. Und die vor mir bzw. vor uns liegende Aufgabe war gewaltig. Uns erwartete ein Parforceritt durch den gesamten Bürgerkrieg, seine Ursachen und Auswirkungen. In der Ausstellung begrüßten uns Johnny Rebell und Billy Yank, zwei als die beiden typischen Infanteriesoldaten der verfeindeten Parteien ausstaffierte Puppen. Aus den Lautsprechern klangen abwechselnd die „Battlehymn of the Republik“ (USA) und „I Wish I Was in Dixie“ (CSA). Die in den Glasvitrinen an den Wänden ausgestellten Lang- und Handfeuerwaffen stellten einen für Liebhaber bemerkenswerten Querschnitt aller im neunzehnten Jahrhundert gebräuchlichen Systeme dar. Jeder Kriegsteilnehmer stattete sich gemäß seiner Herkunft aus. Entsprechend gab es die offiziellen US-amerikanischen Musketen und Karabiner (auch aus New Haven) sowie Revolver von Colt, aber eben auch französische Lefaucheux-Revolver (vor allem CSA), österreichische Lorenz-Gewehre (vor allem USA) und vieles mehr. Die meisten Säbel und Blankwaffen stammten interessanter Weise aus Solingen in Deutschland.
Wie an etlichen Ausstellungstücken wie Tagebüchern, Briefen und Rekrutierungsplakaten rasch klar wurde, war ein Großteil der Unionstruppen deutschsprachig. Davon wurden sehr viele direkt bei ihrer Ankunft aus Europa in New York oder Boston angeworben, die anderen waren mehrheitlich so genannte Pennsylvania Germans. Dieser Begriff umfasste nicht nur, sondern auch Deutsche nach heutigem Verständnis. Damals sammelte er einfach alle Deutschsprachigen unter einer Bezeichnung, auch ganz großzügig die Österreicher, Schweizer und Niederländer. Selbiges galt und gilt übrigens auch für den alternativen Begriff Dutch Country, was dieselbe Gegend bezeichnet, in der wie gesagt nicht nur Holländer, sondern alle Deutschsprachigen siedelten. Und diese Leute entschieden sich für die Union und gegen die Konföderation. Auch wenn einige in den freigelassenen Sklaven eine gefährliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt für sich sahen. Am Ende geht es auf dem Land und innerhalb der Arbeiterschaft immer um die Jobs. Nichtsdestotrotz, leider ist diese deutschsprachige US-amerikanische Tradition aus dem öffentlichen Leben ganz und gar verschwunden, dank zweier Weltkriege und fortgesetzter nationalistischer Großmannspolitik. Von der einstigen Pluralität bleiben am Ende das Englische und der Puritanismus, der heute in der Larve des Kapitalismus daherkommt. Juliane und mir war öfters aufgefallen, dass viele Kiebitze und Passanten auf unsere Sprache feindselig reagierten. Im Moment läuft es ja außenpolitisch auch nicht besonders rund zwischen Deutschland und den USA.
In den ausgedehnten und detailreichen Ausstellungsräumen fand ich neben faszinierenden Hygienehinweisen für Rekruten (z.B.: Die Ärzte empfohlen den Männern, sich den Bart stehen zu lassen, weil er Hals und Brust wärmte und so vor Lungenerkrankungen schützen sollte. Die Rauschebärte auf den Schwarzweißfotos jener Tage waren also keine Modeerscheinung, sondern eine Form der Seuchenprävention), Zahnbürsten aus Rosshaar und vielem mehr auch Informationen zu den Antworten auf meine Fragen. Kurz zusammengefasst: General Lee hatte gar nicht vor, an diesem Ort zu kämpfen. Seine Kavallerie hatte ihn völlig blind ins Feld gehen lassen. Seine Berittenen, die ihm als Augen und Ohren seiner Armee dienen sollten, waren mit Kavaliersstücken und Husarenritten im aus ihren Augen Feindesland beschäftigt. Sie ließen sich in unsinnige Scharmützel für Ruhm und Ehre verwickeln, und sie vergaßen darüber ihre eigentliche Aufgabe. Nur ein einzelner Scout, ein Schauspieler ausgerechnet, warnte Lee, dass seine Truppen ganz und gar nicht in die örtliche Miliz, sondern irrtümlich in die Unionsarmee krachten. Und Lee glaubte ihm. Da alle bisherigen Erfolge der Army of Northern Virginia gegen die Army of the Potomac aus unterlegenen Angriffspositionen erstritten worden waren, führte die Erkenntnis jedoch nicht zu Bedenken oder gar einem Umdenken. Aus den vorangegangen Siegen war nicht der Glaube hervorgegangen, dass die gegnerischen Soldaten schlechter oder feige wären, sondern dass die eigenen umso vieles heldenhafter und besser wären. Hybris, so sagte schon Caesar, war es nur, wenn es schiefging. Und spätestens hier begann sich ein Wiedererkennungseffekt in mir zu regen, ganz Ähnliches hatte ich auch schon über die k. u. k. Armee und die deutsche Wehrmacht jeweils zu Beginn der beiden Weltkriege gehört.
Juliane und ich tranken noch einen Kaffee, marschierten im Museumsshop ein und erbeuteten ein paar Erinnerungsstücke, bevor wir in die Stadt zum Heritage Center an der Steinwehr Avenue fuhren. Im Museum hatte es mich nicht im Geringsten gewundert, aber auf dem Weg durch die Stadt fiel mir auf, wie offenherzig hierorts die Flaggen und Symbole der Konföderation gezeigt wurden. Nicht „nur“ die Battle Flag. An Häusern und auch Autos flatterten „Stars and Bars“, die erste, und beide weiteren Nationalflaggen der CSA als Fahnen, Fähnchen und Wimpel im Wind. Ich entdeckte sogar ein paar „Bonnie Blue Flags“. Die Battle Flag gab es sogar als Bikini zu bestaunen und zu kaufen. (Es war eh keine ernstgemeinte Zuschrift, aber meiner Frau kam sowas nicht ins Haus.) Aus allen Shops, Bars und Restaurants klangen lustig die Rebellenweisen. Ich weiß nicht, das irritierte mich. Mir kam das so vor, als würde ich die schwarz-goldene österreichische Nationalfahne an meinem Haus hissen und dazu laut die alte österreichische Hymne spielen. Dann würde mich jede und jeder fälschlicherweise für einen Deutschnationalen halten. Hier wusste aber scheinbar jeder, was die gezeigten und gehörten Codes bedeuteten. Natürlich war auch in Gettysburg „Stars and Stripes“ allgegenwärtig, und es gab auch genug Unions-Devotionalien zu kaufen, auch jede Menge Fahnen und Uniformteile. Trotzdem, ich war hier in Pennsylvania. Und wie gesagt, Pennsylvania kämpfte aufopfernd für die Nord-, nicht die Südstaaten. Indes die Nummerntafel der Autos verrieten es, ich hatte bisher noch nie so viele Zulassungen aus North Carolina, Texas, Georgia, Florida oder Tennessee gesehen wie auf diesem kleinen Fleckchen Erde im Dutch Country. Auch im Shop des Heritage Centers gab es alles zu kaufen, was der historisch interessierte Souvenirjäger aus allen Teilen der heutigen USA heimtragen wollte. Auch jene dieser Tage ins Gerede gekommene Kappe mit der Battle Flag und der Aufschrift „Heritage not Hate“ darauf. Mit 15 hätte ich sie mir gekauft. Heute stand ich mit meiner Boston Celtics-Mütze davor, weißes Kleeblatt auf Grün. Ein anderes Symbol, das mir auf den Denkmälern des Schlachtfelds noch öfters begegnen sollte und mir grimmige Blicke von Frauen und Männern aus vorbei fahrenden Pickups eintrug.
Am Heritage Center wurden wir von einer Kutsche abgeholt, die uns erstmals hinaus in den Nationalpark brachte. Die beiden Kaltblüter gehörten einer örtlichen Großfamilie, die offensichtlich von und mit ihren Tieren lebte. Juliane fragte, ob sie den beiden Rössern ihre Äpfel geben dürfe. Leider ging das noch nicht. Den zwei Pferden ihre Belohnung vor der Ausfahrt zu geben, würde sich nicht günstig auf ihre Motivation auswirken, war die etwas enttäuschende Antwort. Aber der Kutscher und seine Tochter versprachen Juliane, ihr Geschenk nach der Ausfahrt und dem leider notwendigen Erholen von der Trense zu übergeben. Und wie ich die beiden einschätzte, hielten sie sich auch wirklich daran. Weiter erfuhren wir, dass der Mann Deutsch sprach, weil er in der damaligen BRD in der US-Army gedient hatte. Er war nicht der Erste, und noch lange nicht der Letzte, den wir trafen. Der Mann auf dem Kutschbock war also ein echter Veteran, und neben ihm saß seine junge Tochter. Ein weiterer Begleiter war auch noch verpflichtend mit an Bord, ein lizensierter Militärhistoriker. Er hatte die Aufgabe, uns das Schlachtfeld zu erklären. Und auch noch eine zweite, die er sich erst später entlocken ließ.
War ich erst einmal auf den Wagen gewuchtet, ging die Ausfahrt auch schon los. Ruhig und gemütlich in südlicher Richtung die schmale Landstraße entlang. Nur gelegentlich musste unser Militärhistoriker verstummen, weil eines oder mehrere Harley Davidson-Motorräder an uns vorbeifuhren. In gemächlichem Tempo, aber laut. Es war der Beginn der Biker-Woche in Gettysburg. Und solange die Motorräder in der Stadt und im Nationalpark unterwegs waren, fuhren die Pferdegespanne nicht aus. Wir waren die letzte Ausfahrt vor der mehrtägigen Pause. Zum Glück bogen wir bald auf die Wege des Nationalparks ab, wo zwar auch Autos unterwegs waren, aber im Schritttempo. Erlaubt waren hier maximal 20 Meilen, das entsprach circa 32 km/h. Das Tempolimit unterschritt aber eh jeder, weil alle mit Rumgucken und Fotografieren beschäftigt waren. Im Gespräch unterwegs zeigte sich, dass unser Guide aus North Carolina kam, ebenso vier weitere Gäste. Die nette Familie, die uns gegenüber saß, war aus Texas. Und wir beide waren aus Europa. Der Opa aus North Carolina hatte es mit einer Bemerkung versucht, aber diese Runde ließ sich nicht provozieren. Wir genossen lieber die Landschaft. Pennsylvania rund um Gettysburg bestach durch seine hügelige Weite und unverfälschte historische und natürliche Erscheinung. Es tat unglaublich gut, endlich wieder in einer schönen Kulturlandschaft zu sein. Die Hügelkuppen im Osten waren bewaldet, ebenso die Ebene im Westen. Dazwischen standen kleine im Original erhaltene historische Farmen und Scheunen. In einigen steckten noch Bürgerkriegsprojektile. Ringsum breiteten sich Felder aus. Die kleinflächigen Rechtecke waren mit wuchtigen Feldsteinmauern und Holzzäunen umfasst. Es gab und gibt hier Wildschweine. Gelegentlich lagen pittoreske Granitfelsen in der Gegend herum.
Ein Paradies für Querschläger. Und die Wälder ideal, um sich Holzsplitter einzufangen. Die Bäume waren während der drei Tage im Juli 1863 von Gewehrkugeln, Granaten und Artillerie zerfetzt worden. Ein entsprechendes Schaustück zeigte das Museum. Auch von meinem Sitz auf der Kutsche aus, war es mir nicht möglich, die gesamte Ebene in einem Stück zu überblicken. Immer wieder entzogen sich ausgedehnte Vertiefungen meinem Blick. Aber der Militärhistoriker versicherte mir einmal mehr, welch großartiger Boden zum Kämpfen dies hier wäre. Dieselben Sätze wurden ständig zitiert und wiederholt. Sogar gegenwärtige Militärs würden hier kämpfen wollen, sagte er. Das würde dann so durchschlagende Erfolge wie in Korea und Vietnam erklären, dachte ich. Behielt es aber für mich. Hatte ich zunächst angesichts der Landschaft ein schlimmes Bauchgefühl, bekam ich jetzt einen Magenkrampf. Niemals würde ich hier zum Angriff befehlen. Hier ging jeder Mann blind ins Feld, mit oder ohne Kavallerie. Aber dann wurde mir klar, dass sie alle aus der Sicht der siegreichen Verteidiger analysierten. Für die Unionstruppen auf den Hügeln, sah das alles natürlich wieder ganz anders aus.
Und dann brach unser Rad. Besser gesagt, die Beschichtung löste sich vom Reif des Wagenrads. Genau gegenüber von Little Round Top. Ich konnte die mörderische Steigung, den Wald und die Felsen deutlich vor dem Horizont erkennen. Alle Fahrgäste außer mir stiegen ab. Wir alle warteten auf Hilfe. Die Pferde nutzten die Gelegenheit und erleichterten sich. Wildromantisch. Eine weitere Generation Fuhrwerker traf am Wagen ein und reparierte mit Textilklebeband provisorisch den Schaden. Textilklebeband ist super! Ich habe damit auch schon Seitenspiegel an Autos und leuchtende Scheinwerfer an Stative geklebt. Alle entschuldigten sich. So etwas war noch nie zuvor geschehen, die Familie hatte erstmals den Hersteller der Wagenräder gewechselt. Sie hatten keine US-amerikanischen mehr, sondern kanadische gekauft. Ja, oft hat man Pech!
Bei der langsamen Rückfahrt in die Stadt ließ unser Militärhistoriker dann endlich die Katze aus dem Sack: Er versicherte uns fröhlich lachend, wir wären die friedlichste und disziplinierteste Runde seiner ganzen bisherigen Karriere gewesen. Andere Gruppen begannen schon auf den ersten Metern der Rundfahrt sich zu streiten. Und wir hatten sogar unsere Panne mit Langmut ertragen. Ernsthaft, meinte er, oft hatte er schon eine handböse Eskalation verhindern müssen. Die Wunde des Bürgerkriegs war nach rund 160 Jahren keineswegs verheilt. Sie schwärte unter der Oberfläche. Nur dass ich mehr und mehr den Eindruck gewann, dass nicht länger die Mason-Dixon-Linie die Grenze bedeutete. Heute, so schien es, standen Städte gegen Land. Und die Wahlergebnisse, konkret die Stimmenverteilung für Donald Trump oder Hillary Clinton bei den letzten Präsidentschaftswahlen illustrierten das. Trump versus Hillary, das war wie Johnny Rebell versus Billy Yank. Und auch Juliane bestätigte mir, dass sie auch hier im Norden das Gefühl bekam, dass ungeahnt viele die Empfindung teilten, dass damals im Juli 1863 die Falschen bei Gettysburg gewonnen hatten. Wir waren eine Wagenladung ehemaliger Konföderierter und Europäer, worüber hätten wir uns streiten sollen? Und bis auf einen, der abgeblitzt war, wollten wir alle unsere Ruhe haben und die Ausfahrt genießen. Dieser Konsens nennt sich Zivilisation.
Zurück in dem Wirrwarr, das sich heute so nennt, verabschiedeten wir uns von Pferden und Besitzern und suchten uns ein Lokal zum Abendessen. Zuerst versuchten wir unser Glück im ältesten Haus von Gettysburg, über dem beinhart die Fahne der dreizehn britischen Kolonien wehte. Auch eine Art und Weise, seine Meinung über den Bürgerkrieg kundzutun. Aber neben dem Eingang prangte unübersehbar ein überdimensionales „God Bless America“. Der 4. Juli war nur sechs Tage her, und immer mehr Biker strömten in die Stadt. Richtig begeistert waren wir von dem Restaurant nicht, also spazierten wir wieder zurück. Das Kleeblatt auf meinem Kopf wirkte dabei wieder wie ein Magnet für feindseliges Funkeln. Aber nicht ausschließlich. In der Stadt waren jetzt auch jede Menge anderer Yankees und afroamerikanische Familien unterwegs. Ich bemerkte wie die Familienväter erst mich und dann Juliane von oben bis unten musterten und taxierten. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie bei unserem Anblick romantische bzw. erotische Tagträume durchlebten, deren Zentrum die Vorstellung meines Kontoauszuges war. Ein älterer weißer Pickup-Fahrer machte aus seinem Herzen gleich gar keine Mördergrube und sagte für mich gut hörbar zu seiner Frau, meine würde „einen Spaziergang mit meiner Visa“ machen. Die Möglichkeit, dass Juliane Universitätslehrerin, Wissenschaftlerin, Besitzerin einer eigenen Visakarte war, und ich ohne ihr gar nicht hier wäre, kam im US-amerikanischen Durchschnittsweltbild nicht vor. Darin waren sich dann alle einig, die drei M: Money, Mutti und Mischpoche. Puritanismus tut einer Gesellschaft einfach nicht gut. Aber egal. Wir hatten wohl vergessen, die Kommentarfunktion an uns zu deaktivieren. Von so etwas ließen wir uns die Laune nicht verderben. Wir entschieden uns für das Gasthaus einer Brauerei und genossen, bis wir einen Tisch zugeteilt bekamen, ein höchst sympathisches und vertrautes Erbe der Pennsylvania Germans: Den „Biergarten“.
Beim Essen beobachtete ich wie eine afroamerikanische Familie erschreckt zusammenrückte und alle ganz verstört zur Decke starrten. Ich schaute nach oben. Sie saßen unter einer riesigen Bonnie Blue Flag, rechts und links flankiert von Battle Flag und Blood-Stained Banner.

Ende des ersten Teils.

Fortsetzung folgt...






 

Montag, 16. Juli 2018

Im Juli vor neun Jahren ist „EWIG“ erschienen!


In Magie und Numerologie bedeutet die Zahl 9: Vollkommenheit. Weil sie dem Dreifachen der als göttlich angesehenen Zahl 3 entspricht. In der chinesischen Zahlenmystik steht die Neun für den Drachen. In „Ewig“ spielen die drei Phasen der Vollendung der Alchemie (Albedo, Negredo und Rubedo) und das alte China bzw. sein erster Kaiser und seine Suche nach dem ewigen Leben zentrale Rollen. Aus diesem Grund feiere ich das neunte und nicht erst das zehnte Jubiläum!
Zu Buch und Anlass passend noch mehr Aberglauben und Zahlenmagie:
Bestimmt für jede Autorin und jeden Schriftsteller hat das erste Exemplar der ersten Auflage eines Werkes herausragende Bedeutung. Bekommt sie oder er es in die Hand, dann wird es unter keinen Umständen wieder hergegeben. So lautet die Tradition, und wer sie ehrt, hält sich an sie.
Ich besitze von allen neun Titeln, die ich alleine oder im Team veröffentlicht habe, dieses „magische“ Exemplar. Und ich habe immer alle an der Veröffentlichung mitwirkenden Personen gebeten, sich darin zu verewigen. Zur Feier des Tages zeige ich heute zum ersten Mal das erste Exemplar von „Ewig“ mit den Widmungen all jener, die den Erfolg dieses Buches ermöglicht haben. Allen voran, unsere damalige Verlegerin.

Und zum Wiedersehen, der Buch-Trailer von „Ewig“.

AEIOU