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Samstag, 7. Juli 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 35)


Teil 35: Ernüchterung am 4. Juli

Eine Wiese auf einem sanften Hang, fröhliche Familien sitzen auf Picknickdecken staunend beisammen, ein riesiges Feuerwerk. Dazu eine Marching Band, die den „Yankee Doodle“ und „Star Spangled Banner“ schmettert. Launige Reden von Professoren und des Präsidenten der Universität. So habe ich es in US-amerikanischen Filmen gesehen, und so habe ich mir den „4. Juli“ in den USA vorgestellt. Und natürlich gestaltete sich alles ganz anders. Ich bin mir sicher, dass es in den USA Menschen gegeben hat, die ihren „Independance Day“ genauso, oder jedenfalls so ähnlich erlebt haben. Juliane und ich waren es nicht. Und ich muss gestehen, dass ich nach über einem Jahr Alltagsleben in Connecticut und speziell nach meinen Eindrücken dieses Feiertags von der Nation unter dem Sternenbanner ernüchtert bin.
Unsere Internetrecherche nach einem gemeinsamen Festakt der Yale Universität förderte einen Termin aus dem Jahr 2013 zutage. Inklusive Shuttletransfer zum Feuerwerk. Wunderbar, aber 2018 leider falsch. Kurz gesagt: Yale hat abends nicht gefeiert. Oder unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Oder der Ausländer? Ich weiß es nicht. Im Prinzip war es aber egal, denn sobald vom Campus aus Raketen in den Himmel gestiegen wären, wir hätten es von unserem hinteren Balkon gesehen. Und vom vorderen hätten wir einen großartigen Panoramablick nach der anderen Seite der Stadt mit ihren Vororten gehabt. So lautete unser Plan: So oder so würden wir das Feuerwerk zu sehen bekommen. Die tropisch feuchten Hitzetemperaturen waren ohnedies nicht geeignet, um uns dazu zu bewegen, uns ordentlich anzukleiden und das Haus für eine offizielle Veranstaltung zu verlassen. „Ordentlich“ bedeutete in diesem Fall ganz europäisch und imperialistisch, nicht nur den eleganten Ansprüchen der Kalahari-Bewohner zu genügen. Menschen, die ich dieser Tage um ihren Zugang zum Thema Bekleidung zutiefst beneide. Ich kann gar nicht verstehen, warum mich das Tragen einer Lendenschnur bei 100 Grad Fahrenheit zum Inhaftierten und nicht zum Influencer macht. Aber egal!
Yale hat, oder hätte am 4. Juli viel zu feiern. Woran uns der Präsident der Universität vorab in einem elektronischen Rundschreiben erinnerte. Auch daran, dass die Gründung der Universität Yale der Gründung der USA um 75 Jahre voraus gegangen war. Yale war unter den Gründern der Nation und den Revolutionären bestens vertreten: 25 Yalies waren Mitglieder des Continental Congress, fünf unterschrieben die Unabhängigkeitserklärung. Sechs Absolventen der Universität dienten als Abgeordnete der Constitutional Convention. Yale Schatzmeister Roger Sherman gilt als die einzige Person, die insgesamt vier Hauptdokumente der Amerikanischen Revolution unterschrieben hat: die Declaration and Resolves von 1774, die Declaration of Independence, die Articles of Confederation, und last but not least die U.S. Constitution, die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ganz nebenbei war Sherman auch noch erster Bürgermeister von New Haven und liegt auf dem Grove Street Cemetery begraben. Dort, an seinem Grab, wird seiner auch jedes Jahr am Independance Day mit einem Festakt gedacht. Die Zeremonie begann um 9 Uhr morgens. Die 2nd Company Governors Foot Guard marschierte auf. Ein Darsteller verkörperte General David Humphrey, und State VP Damien Cregeau hielt eine Ansprache auf Roger Sherman. Dem folgten ein Musketensalut des 6th CT Regiment, Boy Scouts mit State Flags und eine Kranzniederlegung auf den Grabstätten von Sherman und Humphrey. Danach wurden wie jedes Jahr die Namen der Unterzeichner der Declaration of Independence verlesen. Meine Erwartungen an den Abend waren also berechtigt und nicht vollends aus der Luft gegriffen. Das „public radio“ meiner Wahl spielte den ganzen Tag ein „star spangled“-Programm, also US-amerikanische Weisen und Komponisten. Außerdem knallten schon seit Tagen die Knallkörper. Verstand ich das alles dem Anlass entsprechend als vorausgehendes Geplänkel für das kommende Feuergefecht und Böllerbombardement, dann musste es gewaltig werden.
Indes, meine großen Erwartungen verpufften in der lauen Abendluft. Anders als zu Sylvester in Europa gab es am 4. Juli scheinbar keinen gemeinsamen Zeitpunkt für das „Feuer frei!“ Schlägt da die Turmuhr Mitternacht, erblüht der Nachthimmel in den Farben und dem Leuchten der feurigen Chrysanthemen. Hier stiegen alle halben Stunden einmal ein paar vereinzelte Raketen auf. Die Böller krachten dafür pausenlos und überall. Zwischen neun Uhr und zehn Uhr konzentrierten sich die Aktivitäten in der Gegen um Hamden, so dass wir von unseren Fenstern ein paar schöne Feuerblüten zu sehen bekamen. Ansonsten hörten wir nur den Lärm der Explosionen ringsum. Über dem Campus blieb der Himmel ruhig und nachtblau. Das Hauptgewicht der Abschüsse verortete ich kurz vor Mitternacht hinter dem nächsten Hügel, also am Strand über der See. Aber da war Juliane schon schlafen gegangen. Und wie ich am nächsten Morgen im Krankenhaus erfuhr, hatte ich mit meiner Einschätzung ganz Recht, denn New Haven schien sein Feuerwerk jedes Jahr über der Bucht zu veranstalten. Aber das musste man scheinbar wissen, denn eine Ankündigung im Internet hatten weder Juliane noch ich gefunden.

Am Nachmittag des 5. Juli gingen Juliane und ich in die Yale Beinecke Rare Book & Manuscript Library, wo einer der sechsundzwanzig erhaltenen ersten Drucke der Unabhängigkeitserklärung (siehe Foto) ausgestellt wurde. Im Zuge der Feiern zum Unabhängigkeitstag wurde sowohl die Declaration als auch die Rede zum „Fourth of July“ von Frederick Douglass aus dem Jahr 1852 vorgetragen. Ja, jenem tapferen afroamerikanischen Gegner der Sklaverei von dem US-Präsident Donald Trump nicht wusste, dass er nicht mehr am Leben war. 



Die Worte beider historischen Dokumente wurden auf mehrere Frauen und Männer aufgeteilt, die als Vertreter aller Einwanderergruppen verstanden werden konnten, die heute die Gemeinschaft der USA darstellten: Afroamerikaner, Latinos, Deutsche (wozu großzügig auch alle Österreicher, Niederländer und Schweizer gezählt werden), katholische Iren und protestantische bzw. puritanische Angelsachsen. Diese Menschen verlasen die beiden bemerkenswerten Texte. Die Vorträge waren von sehr verschiedener Qualität, und leider waren es einmal mehr die Jungen, die mir den Eindruck vermittelten, ihren Part weder geprobt noch verstanden zu haben. Vor allem die beiden letzten Vortragenden verliehen dem Gehörten wieder Seele. Und welchen Geistes diese beiden Dokumente waren! Frederick Douglass stellte unverhohlen klar, dass der 4. Juli nicht sein Unabhängigkeitstag war, solange eine weiße eingewanderte Minderheit afroamerikanische Sklaven wie und oft schlechter als Tiere behandelte und auf Marktplätzen als Ware verhandelte. Mit seiner Kritik an Heuchelei und Bigotterie hielt er sich 1852 nicht zurück. Und es war nicht zu leugnen, dass sich niemand im Publikum des Eindrucks erwehren konnte, dass dieser Mann heute noch zu uns sprach. Freiheit und Toleranz wurden an der „Pussy“ gepackt und Kinder in Käfige gesperrt. Und wieder demonstrierten Menschen aller Hautfarben gegen diese Vereinigten Zustände in Amerika. 


Während der ganzen Veranstaltung wuchsen in mir Unruhe und Unbehagen. Vor allem als Europäer bzw. Österreicher, von dem von vielen dieser Leute dieser Tage verlangt wurde, alle Einwanderer ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Taten und politischen und religiösen Überzeugungen in „meinem Land“ aufnehmen und an mein Herz drücken zu müssen. Wo war ich hier, fragte ich mich plötzlich. Und die Antwort erschütterte und schockierte mich: Ich war auf der Veranstaltung einer Gruppe von Einwanderern, die auf fremdem Boden erst Kolonien und dann eine Nation gegründet hatten. Dort vorne lasen Menschen zusammen zwei historische Dokumente dieser Nation: Weiße, Spanischstämmige und Afroamerikaner. Die Vorfahren des Großteils der Bevölkerung wurden hierher verschleppt und bestialisch ausgebeutet. Von einer Minderheit, die als religiöse Eiferer in dieses Land eingewandert waren. Von Puritanern aus England, die alle religiösen Feiertage verbieten ließen, weil ihnen die zu heidnisch waren und sie ihre Produktivität einschränkten. (Wer heute in Europa die Abschaffung der christlichen Feiertage verlangt oder verordnet, sollte sich überlegen, mit wem er da einen Schulterschluss wagt.) Und es war Frederick Douglass, der dieses Fazit zog.
Ich sah mich auf dem Podium um. Zum Beispiel Ned Blackhawk vom Department of History hatte niemand eingeladen? Ich suchte im Publikum. Vergebens. Ich hätte die eine oder andere Frage gehabt. Wo waren die Native Americans? Sie kamen in dieser Feierstunde in gemeinschaftlicher Runde nicht vor. Nein, das stimmte nicht. Sie fanden in einem Satz der Unabhängigkeitserklärung Erwähnung. In der Aufzählung der Untaten des englischen Königs wider die geknechtete Bevölkerung der dreizehn Kolonien:
He has excited domestic insurrections amongst us, and has endeavoured to bring on the inhabitants of our frontiers, the merciless Indian Savages, whose known rule of warfare, is an undistinguished destruction of all ages, sexes and conditions.“
Die „Wilden” waren 1776 schon „gnadenlos“ an die Grenze gedrängt. Sie wurden als Teil einer widrigen und entfesselten Natur gedacht. Ihre „Gesetze der Kriegsführung“ wurden als allgemein bekannt vorausgesetzt. Nur, dass ungeachtet der unleugbaren Grausamkeit und Brutalität der so genannten Indianischen Krieger von den Natives stets ein beschränkter Krieg geführt worden war, und dass das Konzept der totalen Ausrottung von Mensch und Tier erst von den Europäern auf dem amerikanischen Kontinent eingeschleppt und verbreitet worden war. Das bezeugen oral tradition, Malerei (Sioux) und Archäologie ziemlich beredt. Zwar tragen fast alle Fluren und Gewässer verballhornte indianische Namen, trotzdem wird einigen Gruppen bis heute die staatliche Anerkennung als Nation („Stamm“) verweigert. Überhaupt wird den Natives ein einseitiges und wenig mit Beweisen belegtes Geschichtsbild unterstellt, zu meiner totalen Überraschung auch von aufgeklärten und zutiefst menschlichen Zeitgenossen. Der ständige Drang, die Erinnerung an angetanes Unrecht am Leben zu erhalten, ist ja in den Augen vieler eine unangenehme, lästige und gemeinsame Eigenschaft der Nachkommen der Opfer von Völkermord und Vertreibung auf der ganzen Welt. Wann ist es denn endlich einmal gut? Die Sieger wollen ungestört ihre Geschichte(n) schreiben.

Beim Betrachten der ausgestellten Erinnerungsstücke stellte ich dann fest, nach wem das „Grimes Center“ benannt war, in dem ich meine Physiotherapie bekam: William Grimes. Seine Autobiographie „Life of William Grimes, the Runaway Slave“ lag zusammen mit den Werken und Bildern von Frederick Douglass in der Vitrine neben der Unabhängigkeitserklärung. Die Lebensgeschichte eines Mannes, der vor der Sklaverei floh, in New Haven heiratete, Barbier wurde und Kinder bekam. Später musste er seinen ganzen Besitz verkaufen, um seinen ehemaligen „Herren“ zu entschädigen und um nicht zurück über die Mason-Dixon Linie in den sicheren Tod deportiert zu werden. Da hatte jemand erfolgreich „seine Rechte“ eingeklagt.
Die allgemein bekannte Version der Geschichte der USA erschien mir in der Folge mehr und mehr als ein Werk der Fiktion, ein absurd-groteskes Konglomerat aus Wild West Shows, Hollywoodfilmen und Comics. Besonders beliebt und allerorts zitiert „Black Panther“. Ich weiß, was diese Comicfigur für sehr viele Menschen bedeutet, und ich respektiere das. Aber dabei scheint es egal, dass der erste schwarze Superheld von zwei reichen alten weißen Männern erfunden wurde, um einmal die Sprache der sonst andauernd angebrachten „anständigen Empörung“ zu gebrauchen. Vergessen scheint auch, dass die Story reine Fantasie ist. Da wundert sich eine weiße Sportreporterin, wenn sie einen afroamerikanischen NFL-Spieler mit dem „Wakanda-Gruß“ zum Interview empfängt, und der sich daraufhin einfach umdreht und weggeht. Beleidigte Leberwurst! Sie hat doch alles richtig gemacht. Angeblich, glaubt man dem Internetvideo, soll sogar ein Collegeprofessor auf eine Studentenpräsentation über Innenpolitik und Geschichte von Wakanda hereingefallen sein. Wie dem auch sei, auch in Yale ist Wakanda lebendig und wird entsprechend gewürdigt, hat doch die Beinecke Bibliothek der Königlichen Bibliothek von Wakanda als architektonisches Vorbild gedient. Das kann auch bewiesen werden, und zwar mit einem ausgestellten Belegexemplar eines Comicbuches. Anders als die komischen Behauptungen der lästigen Natives und ehemaligen Sklaven. Aber noch einmal: Wakanda ist nicht real! Die USA und ihre Geschichte sind es.
Diese Offenbarung war für mich der Moment der totalen Ernüchterung. Ordentlich verkatert fuhren Juliane und ich nachhause, wo wir uns noch lange über das soeben Erlebte austauschten. All das war mir nicht neu. Neu war die Klarheit darüber, was mir schon im Vorfeld dieses Feiertags seltsame und diffuse Gefühle des Unwohlseins bescherte. Diese Unklarheit bewog mich zum ersten Mal seit langem einmal wieder zu Leinwand und Ölfarben zu greifen, wenn auch „nur“ digital. Dateien lassen sich einfach besser transportieren. Ich setzte mich also an meine virtuelle Staffelei und begann ein Bild zu malen. Ich orientierte mich ganz brav und akademisch: Vordergrund, Mittengrund und Hintergrund. Was da vor mir entstand, wirkte plump und naiv. Und ich hatte es schon einmal in der Form gesehen. Ohne es bewusst geplant zu haben, pinselte ich etwas auf meinem Bildschirm im Stil der Early American Painters, insbesondere aber in der Art und Weise von Thomas Chambers (1801-1865). Die Werke dieser ersten US-amerikanischen Maler sind so schlecht, dass ich, als ich nach mehreren Tagen damit fertig war, über mein eigenes Bild schallend lachen musste. Und dieses befreiende Lachen löste meinen Krampf in Körper und Hirn. Darum teile ich es am Ende dieses Blogeintrags gerne.
Diese Befreiung war eine gute Vorbereitung. Nächste Woche reisen Juliane und ich an einen schicksalhaften Ort der amerikanischen Geschichte: Wir fahren nach Gettysburg!

Fortsetzung folgt…