Teil 35: Ernüchterung am 4. Juli
Eine Wiese auf einem sanften
Hang, fröhliche Familien sitzen auf Picknickdecken staunend beisammen, ein
riesiges Feuerwerk. Dazu eine Marching Band, die den „Yankee Doodle“ und „Star
Spangled Banner“ schmettert. Launige Reden von Professoren und des Präsidenten
der Universität. So habe ich es in US-amerikanischen Filmen gesehen, und so
habe ich mir den „4. Juli“ in den USA vorgestellt. Und natürlich gestaltete
sich alles ganz anders. Ich bin mir sicher, dass es in den USA Menschen gegeben
hat, die ihren „Independance Day“ genauso, oder jedenfalls so ähnlich erlebt
haben. Juliane und ich waren es nicht. Und ich muss gestehen, dass ich nach
über einem Jahr Alltagsleben in Connecticut und speziell nach meinen Eindrücken
dieses Feiertags von der Nation unter dem Sternenbanner ernüchtert bin.
Unsere Internetrecherche nach
einem gemeinsamen Festakt der Yale Universität förderte einen Termin aus dem Jahr
2013 zutage. Inklusive Shuttletransfer zum Feuerwerk. Wunderbar, aber 2018
leider falsch. Kurz gesagt: Yale hat abends nicht gefeiert. Oder unter
Ausschluss der Öffentlichkeit.
Oder der Ausländer? Ich weiß es nicht. Im Prinzip war es aber egal, denn
sobald vom Campus aus Raketen in den Himmel gestiegen wären, wir hätten es von
unserem hinteren Balkon gesehen. Und vom vorderen hätten wir einen großartigen
Panoramablick nach der anderen Seite der Stadt mit ihren Vororten gehabt. So lautete
unser Plan: So oder so würden wir das Feuerwerk zu sehen bekommen. Die tropisch
feuchten Hitzetemperaturen waren ohnedies nicht geeignet, um uns dazu zu
bewegen, uns ordentlich anzukleiden und das Haus für eine offizielle
Veranstaltung zu verlassen. „Ordentlich“ bedeutete in diesem Fall ganz
europäisch und imperialistisch, nicht nur den eleganten Ansprüchen der
Kalahari-Bewohner zu genügen. Menschen, die ich dieser Tage um ihren Zugang zum
Thema Bekleidung zutiefst beneide. Ich kann gar nicht verstehen, warum mich das
Tragen einer Lendenschnur bei 100 Grad Fahrenheit zum Inhaftierten und nicht
zum Influencer macht. Aber egal!
Yale hat, oder hätte am 4. Juli viel zu
feiern. Woran uns der Präsident der Universität vorab in einem elektronischen
Rundschreiben erinnerte. Auch daran, dass die Gründung der Universität Yale der
Gründung der USA um 75 Jahre voraus gegangen war. Yale war unter den Gründern
der Nation und den Revolutionären bestens vertreten: 25 Yalies waren Mitglieder
des Continental Congress, fünf
unterschrieben die Unabhängigkeitserklärung. Sechs Absolventen der Universität
dienten als Abgeordnete der Constitutional
Convention. Yale Schatzmeister Roger Sherman gilt als die einzige Person,
die insgesamt vier Hauptdokumente der Amerikanischen Revolution unterschrieben
hat: die Declaration and Resolves von
1774, die Declaration of Independence,
die Articles of Confederation, und
last but not least die U.S. Constitution,
die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Ganz nebenbei war
Sherman auch noch erster Bürgermeister von New Haven und liegt auf dem Grove Street Cemetery begraben. Dort, an
seinem Grab, wird seiner auch jedes Jahr am Independance
Day mit einem Festakt gedacht. Die Zeremonie begann um 9 Uhr morgens. Die 2nd Company Governors Foot Guard
marschierte auf. Ein Darsteller verkörperte General David Humphrey, und State
VP Damien Cregeau hielt eine Ansprache auf Roger Sherman. Dem folgten ein
Musketensalut des 6th CT Regiment, Boy
Scouts mit State Flags und eine
Kranzniederlegung auf den Grabstätten von Sherman und Humphrey. Danach wurden
wie jedes Jahr die Namen der Unterzeichner der Declaration of Independence verlesen. Meine Erwartungen an den
Abend waren also berechtigt und nicht vollends aus der Luft gegriffen. Das „public radio“ meiner Wahl spielte den
ganzen Tag ein „star spangled“-Programm,
also US-amerikanische Weisen und Komponisten. Außerdem knallten schon seit
Tagen die Knallkörper. Verstand ich das alles dem Anlass entsprechend als
vorausgehendes Geplänkel für das kommende Feuergefecht und Böllerbombardement,
dann musste es gewaltig werden.
Indes, meine großen Erwartungen
verpufften in der lauen Abendluft. Anders als zu Sylvester in Europa gab es am
4. Juli scheinbar keinen gemeinsamen Zeitpunkt für das „Feuer frei!“ Schlägt da
die Turmuhr Mitternacht, erblüht der Nachthimmel in den Farben und dem Leuchten
der feurigen Chrysanthemen. Hier stiegen alle halben Stunden einmal ein paar
vereinzelte Raketen auf. Die Böller krachten dafür pausenlos und überall.
Zwischen neun Uhr und zehn Uhr konzentrierten sich die Aktivitäten in der Gegen
um Hamden, so dass wir von unseren Fenstern ein paar schöne Feuerblüten zu
sehen bekamen. Ansonsten hörten wir nur den Lärm der Explosionen ringsum. Über
dem Campus blieb der Himmel ruhig und nachtblau. Das Hauptgewicht der Abschüsse
verortete ich kurz vor Mitternacht hinter dem nächsten Hügel, also am Strand
über der See. Aber da war Juliane schon schlafen gegangen. Und wie ich am
nächsten Morgen im Krankenhaus erfuhr, hatte ich mit meiner Einschätzung ganz Recht,
denn New Haven schien sein Feuerwerk jedes Jahr über der Bucht zu veranstalten.
Aber das musste man scheinbar wissen, denn eine Ankündigung im Internet hatten
weder Juliane noch ich gefunden.
Am Nachmittag des 5. Juli gingen
Juliane und ich in die Yale Beinecke Rare
Book & Manuscript Library, wo einer der sechsundzwanzig erhaltenen ersten
Drucke der Unabhängigkeitserklärung (siehe Foto) ausgestellt wurde. Im Zuge der
Feiern zum Unabhängigkeitstag wurde sowohl die Declaration als auch die Rede zum „Fourth of July“ von Frederick Douglass aus dem Jahr 1852 vorgetragen.
Ja, jenem tapferen afroamerikanischen Gegner der Sklaverei von dem US-Präsident
Donald Trump nicht wusste, dass er nicht mehr am Leben war.
Die Worte beider
historischen Dokumente wurden auf mehrere Frauen und Männer aufgeteilt, die als
Vertreter aller Einwanderergruppen verstanden werden konnten, die heute die Gemeinschaft
der USA darstellten: Afroamerikaner, Latinos, Deutsche (wozu großzügig auch
alle Österreicher, Niederländer und Schweizer gezählt werden), katholische Iren
und protestantische bzw. puritanische Angelsachsen. Diese Menschen verlasen die
beiden bemerkenswerten Texte. Die Vorträge waren von sehr verschiedener
Qualität, und leider waren es einmal mehr die Jungen, die mir den Eindruck
vermittelten, ihren Part weder geprobt noch verstanden zu haben. Vor allem die
beiden letzten Vortragenden verliehen dem Gehörten wieder Seele. Und welchen
Geistes diese beiden Dokumente waren! Frederick Douglass stellte unverhohlen klar,
dass der 4. Juli nicht sein Unabhängigkeitstag war, solange eine weiße
eingewanderte Minderheit afroamerikanische Sklaven wie und oft schlechter als Tiere
behandelte und auf Marktplätzen als Ware verhandelte. Mit seiner Kritik an
Heuchelei und Bigotterie hielt er sich 1852 nicht zurück. Und es war nicht zu
leugnen, dass sich niemand im Publikum des Eindrucks erwehren konnte, dass
dieser Mann heute noch zu uns sprach. Freiheit und Toleranz wurden an der „Pussy“
gepackt und Kinder in Käfige gesperrt. Und wieder demonstrierten Menschen aller
Hautfarben gegen diese Vereinigten Zustände in Amerika.
Während der ganzen Veranstaltung
wuchsen in mir Unruhe und Unbehagen. Vor allem als Europäer bzw. Österreicher,
von dem von vielen dieser Leute dieser Tage verlangt wurde, alle Einwanderer ungeachtet
ihrer Herkunft, ihrer Taten und politischen und religiösen Überzeugungen in „meinem
Land“ aufnehmen und an mein Herz drücken zu müssen. Wo war ich hier, fragte ich
mich plötzlich. Und die Antwort erschütterte und schockierte mich: Ich war auf
der Veranstaltung einer Gruppe von Einwanderern, die auf fremdem Boden erst
Kolonien und dann eine Nation gegründet hatten. Dort vorne lasen Menschen zusammen
zwei historische Dokumente dieser Nation: Weiße, Spanischstämmige und Afroamerikaner.
Die Vorfahren des Großteils der Bevölkerung wurden hierher verschleppt und bestialisch
ausgebeutet. Von einer Minderheit, die als religiöse Eiferer in dieses Land
eingewandert waren. Von Puritanern aus England, die alle religiösen Feiertage
verbieten ließen, weil ihnen die zu heidnisch waren und sie ihre Produktivität
einschränkten. (Wer heute in Europa die Abschaffung der christlichen Feiertage
verlangt oder verordnet, sollte sich überlegen, mit wem er da einen
Schulterschluss wagt.) Und es war Frederick Douglass, der dieses Fazit zog.
Ich sah mich auf dem Podium um. Zum
Beispiel Ned Blackhawk vom Department of
History hatte niemand eingeladen? Ich suchte im Publikum. Vergebens. Ich
hätte die eine oder andere Frage gehabt. Wo waren die Native Americans? Sie
kamen in dieser Feierstunde in gemeinschaftlicher Runde nicht vor. Nein, das
stimmte nicht. Sie fanden in einem Satz der Unabhängigkeitserklärung Erwähnung.
In der Aufzählung der Untaten des englischen Königs wider die geknechtete Bevölkerung
der dreizehn Kolonien:
„He has excited domestic insurrections amongst us, and has endeavoured
to bring on the inhabitants of our frontiers, the merciless Indian
Savages, whose known rule of warfare, is an undistinguished destruction of all
ages, sexes and conditions.“
Die „Wilden” waren 1776 schon „gnadenlos“
an die Grenze gedrängt. Sie wurden als Teil einer widrigen und entfesselten
Natur gedacht. Ihre „Gesetze der Kriegsführung“ wurden als allgemein bekannt
vorausgesetzt. Nur, dass ungeachtet der unleugbaren Grausamkeit und Brutalität
der so genannten Indianischen Krieger von den Natives stets ein beschränkter
Krieg geführt worden war, und dass das Konzept der totalen Ausrottung von
Mensch und Tier erst von den Europäern auf dem amerikanischen Kontinent eingeschleppt
und verbreitet worden war. Das bezeugen oral
tradition, Malerei (Sioux) und Archäologie ziemlich beredt. Zwar tragen
fast alle Fluren und Gewässer verballhornte indianische Namen, trotzdem wird
einigen Gruppen bis heute die staatliche Anerkennung als Nation („Stamm“)
verweigert. Überhaupt wird den Natives ein einseitiges und wenig mit Beweisen
belegtes Geschichtsbild unterstellt, zu meiner totalen Überraschung auch von
aufgeklärten und zutiefst menschlichen Zeitgenossen. Der ständige Drang, die
Erinnerung an angetanes Unrecht am Leben zu erhalten, ist ja in den Augen
vieler eine unangenehme, lästige und gemeinsame Eigenschaft der Nachkommen der
Opfer von Völkermord und Vertreibung auf der ganzen Welt. Wann ist es denn
endlich einmal gut? Die Sieger wollen ungestört ihre Geschichte(n) schreiben.
Beim Betrachten der ausgestellten
Erinnerungsstücke stellte ich dann fest, nach wem das „Grimes Center“ benannt
war, in dem ich meine Physiotherapie bekam: William Grimes. Seine
Autobiographie „Life of William Grimes,
the Runaway Slave“ lag zusammen mit den Werken und Bildern von Frederick
Douglass in der Vitrine neben der Unabhängigkeitserklärung. Die
Lebensgeschichte eines Mannes, der vor der Sklaverei floh, in New Haven
heiratete, Barbier wurde und Kinder bekam. Später musste er seinen ganzen
Besitz verkaufen, um seinen ehemaligen „Herren“ zu entschädigen und um nicht zurück
über die Mason-Dixon Linie in den sicheren Tod deportiert zu werden. Da hatte
jemand erfolgreich „seine Rechte“ eingeklagt.
Die allgemein bekannte Version
der Geschichte der USA erschien mir in der Folge mehr und mehr als ein Werk der
Fiktion, ein absurd-groteskes Konglomerat aus Wild West Shows, Hollywoodfilmen
und Comics. Besonders beliebt und allerorts zitiert „Black Panther“. Ich weiß, was diese Comicfigur für sehr viele
Menschen bedeutet, und ich respektiere das. Aber dabei scheint es egal, dass
der erste schwarze Superheld von zwei reichen alten weißen Männern erfunden
wurde, um einmal die Sprache der sonst andauernd angebrachten „anständigen
Empörung“ zu gebrauchen. Vergessen scheint auch, dass die Story reine Fantasie
ist. Da wundert sich eine weiße Sportreporterin, wenn sie einen
afroamerikanischen NFL-Spieler mit dem „Wakanda-Gruß“ zum Interview empfängt,
und der sich daraufhin einfach umdreht und weggeht. Beleidigte Leberwurst! Sie
hat doch alles richtig gemacht. Angeblich, glaubt man dem Internetvideo, soll
sogar ein Collegeprofessor auf eine Studentenpräsentation über Innenpolitik und
Geschichte von Wakanda hereingefallen sein. Wie dem auch sei, auch in Yale ist
Wakanda lebendig und wird entsprechend gewürdigt, hat doch die Beinecke
Bibliothek der Königlichen Bibliothek von Wakanda als architektonisches Vorbild
gedient. Das kann auch bewiesen werden, und zwar mit einem ausgestellten
Belegexemplar eines Comicbuches. Anders als die komischen Behauptungen der
lästigen Natives und ehemaligen Sklaven. Aber noch einmal: Wakanda ist nicht
real! Die USA und ihre Geschichte sind es.
Diese Offenbarung war für mich
der Moment der totalen Ernüchterung. Ordentlich verkatert fuhren Juliane und
ich nachhause, wo wir uns noch lange über das soeben Erlebte austauschten. All
das war mir nicht neu. Neu war die Klarheit darüber, was mir schon im Vorfeld
dieses Feiertags seltsame und diffuse Gefühle des Unwohlseins bescherte. Diese
Unklarheit bewog mich zum ersten Mal seit langem einmal wieder zu Leinwand und
Ölfarben zu greifen, wenn auch „nur“ digital. Dateien lassen sich einfach
besser transportieren. Ich setzte mich also an meine virtuelle Staffelei und
begann ein Bild zu malen. Ich orientierte mich ganz brav und akademisch: Vordergrund,
Mittengrund und Hintergrund. Was da vor mir entstand, wirkte plump und naiv.
Und ich hatte es schon einmal in der Form gesehen. Ohne es bewusst geplant zu
haben, pinselte ich etwas auf meinem Bildschirm im Stil der Early American
Painters, insbesondere aber in der Art und Weise von Thomas Chambers
(1801-1865). Die Werke dieser ersten US-amerikanischen Maler sind so schlecht,
dass ich, als ich nach mehreren Tagen damit fertig war, über mein eigenes Bild schallend
lachen musste. Und dieses befreiende Lachen löste meinen Krampf in Körper und
Hirn. Darum teile ich es am Ende dieses Blogeintrags gerne.
Diese Befreiung war eine gute
Vorbereitung. Nächste Woche reisen Juliane und ich an einen schicksalhaften Ort
der amerikanischen Geschichte: Wir fahren nach Gettysburg!
Fortsetzung folgt…