Teil 36: Hybris ist es nur, wenn es schiefgeht! / Gettysburg, PA (Teil 1)
Ich habe mir mit dem Verfassen
dieses Beitrages über Julianes und meinen Aufenthalt in Gettysburg in
Pennsylvania vom 10. bis zum 13. Juli viel Zeit gelassen. Zum einen, weil wir in
der Zwischenzeit lieben Besuch aus Europa hatten, zum anderen, weil dieser Text
einige „heiße Eisen“ berühren wird, und ich von dem Erlebten sehr bewegt, ja
erschüttert, worden bin. Das führte dazu, dass dieser Text auch etwas länger
geworden ist.
Ich verstand bisher nicht
wirklich, weshalb ich eine so tiefe Verbundenheit zu dieser kleinen Stadt in
Pennsylvania gespürt habe und nach wie vor verspüre. Und ich muss mich an
dieser Stelle bei meiner Frau bedanken, dass sie mir meinen Jugendtraum erfüllt
hat und mit mir insgesamt vierzehn Stunden auf diesem
US-Bürgerkriegs-Schlachtfeld verbracht hat, das in der Geschichte der USA so
eine maßgebliche und richtungsweisende Bedeutung hat. Sie ist zweimal mit mir
den Autowanderweg gefahren und ist buchstäblich mit mir über Stock und Stein
geklettert. Was an sich schon für viele kein Spaß wäre, aber in meinem
gegenwärtigen Zustand und den herrschenden feuchtheißen Außentemperaturen keine
allzu große Freude zu werden versprach. Es aber dennoch war. Wie dem auch sei,
Juliane überraschte mich mit dem Geschenk einer durchorganisierten Reise. Und
wäre Juliane nicht auch historisch interessiert, die landschaftliche Schönheit
Pennsylvanias, vor allem des Gettysburg
National Military Parks, entschädigte uns beide für vieles, auch die in
Kauf genommenen Mühen. Ich selbst habe Gettysburg auf drei Ebenen erlebt: Auf
zwei bewussten, der historischen und der gegenwärtigen Erfahrung. Und auf einem
daraus resultierenden unbewussten Erkenntnisniveau, das mich erschreckt hat. Dazu
später mehr, und eines nach dem anderem.
Danach gefragt, hätte ich bisher
geantwortet, meine Verbundenheit mit dem US-amerikanischen Bürgerkrieg im
Allgemeinen und mit der Schlacht von Gettysburg im Besonderen hätte 1993
begonnen. Im gut und leicht beeinflussbaren Alter von fünfzehn Jahren. Ich
hatte mir den viereinhalbstündigen Film „Gettysburg“ im US-amerikanischen
Original angesehen. Auf Videokassette, vom damals noch mit Kabelfernsehen
erhältlichen Fernsehsender „TNT Classic
Movies“ mit dem Videorekorder aufgenommen. (Wer sich an die Neunziger
erinnert, weiß, der Sender kam abends nach „TNT
Cartoon Network“. Und es gab noch 300 Minuten Leerkassetten in den Läden zu
kaufen.) Und weil sich dieses Monumentalwerk niemand sonst mit mir ansehen
wollte, gemeinsam mit meiner Mutter. Heute ist mir klar, dass diese
Konstellation kein Zufall war. Jedenfalls blieben uns beim Zusehen Augen und
Münder offen: Colonel Chamberlains (USA) gebildete Entschlossenheit erregte
Gänsehaut (Little Round Top). Der
letzte und entscheidende Angriff der Konföderierten (Pickett´s Charge) jagte mir einen Schauder nach dem anderen über
den Rücken. Bei der letzten Bitte von General Armistead (CSA) brach ich in
Tränen aus, weil der Schauspieler in meinen Augen aussah und sich benahm wie
mein Onkel (der Mutterbruder, in der Rückschau auch kein Zufall). Der letzte
Kommentar General Longstreets blieb mir im Gedächtnis: „Yankees ain´t comin´. Too bad!“ Kurzes und schmerzliches Fazit: Am
Ende des Streifens saßen zwei erschöpfte und emotional zerrüttete Nervenbündel
auf der Couch im Wohnzimmer.
Fünfundzwanzig Jahre später,
nachdem ich alles, was ich seither über das Thema in die Hände bekommen hatte,
gelesen und angesehen hatte, schenkte mir meine Frau eine dreitägige Reise an
diesen für mich persönlich und die USA (und auch weltgeschichtlich) besonderen
Ort. Die Gewissheit, Gettysburg endlich mit eigenen Augen zu sehen, das
Schlachtfeld wahrhaftig unter den Sohlen zu spüren, machte mir bei aller Freude
auch Angst. Weniger wegen der Melancholie der erfüllten Wünsche, sondern
vielmehr aufgrund der Furcht vor den Folgen der realen Manifestation einer
meiner größten Wünsche und Fantasien. Ein wesentlicher Aspekt meiner Reaktion
waren meine Diagnose und Prognose. Kurz: Mich beschlich das Gefühl, Fahrgast im
Zug meines Lebens zu sein und eine oder zwei Haltestellen vor der Endstation
angekommen zu sein. „Letzter Halt: Gettysburg!“
Nun, der Tod ist Wiener, darum
weiß er, wie man lebt! Ich hatte schon die eine und andere Gelegenheit, mich
mit dem „Gevatter“ vertraut zu machen, also behielt ich meine Bedenken zunächst
besser für mich. Es gab keinen vernünftigen Grund, Juliane mit derartigen
Hirngespinsten zu beunruhigen. Mit gemischten Gefühlen erwartete ich den Tag
unserer Abreise. Als er da war, bestieg ich ohne Zögern und voller Vorfreude
den Amtrak-Zug nach Philadelphia. Wenngleich
auch aus genannten Gründen etwas einsilbig. Und dank der Klimaanlagen in den
Garnituren fühlte ich mich rasch wie der gleichnamige Frischkäseaufstrich im
Kühlregal. Anhaltendes Zähneklappern klärt die Gedanken. Alle Bedenken aus dem
Vorfeld der Reise waren wie fortgewischt. Ich reiste mit Jacke, Schal, Mütze
und unter einer Fleece-Decke. Und schön langsam wurde ich wirklich böse, dass
ich dank der künstlichen Innenraumtemperaturen in den USA im Sommer mehr friere
als im Winter. Da meine Finger und Zehen dank des Morbus Raynaud unmittelbar
mit Blutleerheit und Absterben auf Frost und Klimaschwankungen reagieren, ist
das keine Freude. Durch Beobachtung einiger ebenso frierender Mitreisender
beiderlei Geschlechts habe ich während dieser Zugfahrt gelernt, dass es im Durchgang
zwischen den Waggonen, bei den Ein- und Ausstiegen, ungekühlte Bereiche zum
Aufwärmen gibt. Dort versammelten sich die wackeren Krieger von Olaf Blaulippe
zum Ting. Blaulippig, weil wir natürlich alle für sommerliche Temperaturen weit
über dreißig Grad Celsius angezogen waren, aber in den Zugabteilen Temperaturen
wie im Winter vorfanden. Unnötig zu erwähnen, dass es auch eine Vielzahl von
Zeitgenossen gab, die (alle) Eigenschaften von Walrössern in sich vereinten und
diese Zustände als „nice and cool“ bezeichneten. Europäer seid gewarnt! Hört
ihr solches, zieht euch warm an!
Von Philadelphia ging unsere
Reise weiter nach Harrisburg. Auf dem wirklich schönen Bahnhof von Philadelphia
fanden wir auf einer anachronistischen Anzeigetafel aus Udine in Italien
unseren Anschlusszug. Eine solche analoge Anzeigetafel mit klappernden rotierenden
Täfelchen habe ich zum letzten Mal vor mehr als zwanzig Jahren in Aktion
gesehen. Sie funktionierte vorzüglich. Allerdings ließen uns uniformierte
Bahnmitarbeiter nicht hinunter auf den angegebenen Bahnsteig. Stiege und
Rolltreppe waren mit Stoffbändern abgesperrt wie vor einem geschlossenen Check-In-Schalter
eines internationalen Flughafens. Es dauerte eine Weile, bis Juliane und ich
verstanden, dass wir uns in einer Warteschlange anzustellen hatten. Da wir
möglichst nahe an der Rolltreppe warten wollten, stellten wir uns erst am
falschen Ende an. Eine Dame erregte sich erst gut hörbar, dass so viele Leute
die Warteschlange ignorierten. Dann kam sie zu uns und fragte honigsüß, ob wir
auch „priority“ gebucht hätten. Hatten wir nicht, wir reisten beim Ein- und Aussteigen
auf Bahnhöfen klassenlos europäisch. Unseren Fehler einsehend begaben wir uns
unters Volk am anderen Ende. Kurz vor der planmäßigen Abfahrt des Zuges öffnete
der Bahnmitarbeiter die Schranken, und die Fahrgäste strömten in Klassen
getrennt auf den Bahnsteig hinunter. Es waren Momente wie diese, in denen ich
denke, in einer Feudalgesellschaft oder mindestens Oligarchie zu leben. Wozu
die schöne Revolution von 1776, derer wir vor einer Woche gedachten, um sich
dann Wappen wie Wirtshausschilder zu erfinden, an die Häuser zu pappen und in
einem auf Geldbesitz basierendem Erbsystem zu leben? Jedoch es gab immer wieder
erfrischende Charaktere wie unseren afroamerikanischen Uniformierten auf dem
Treppenkopf, die ihre Holzschuhe in die Maschine warfen und das System
sabotierten: Auf dem Perron lief alles zusammen, alles durchmischte sich, jede
stand neben jedem, indes noch kein Zug auf dem Gleis. Der fuhr erst ein paar
Minuten später ein. Der Zug nach Harrisburg leerte sich erst völlig, dann
konnten wir alle gemeinsam einsteigen. Philadelphia war die Endstation einer
Bahnlinie, Harrisburg die andere. Die Illusion gegenüber seinen Mitreisenden
privilegiert zu sein, hatte sicher eine Menge gekostet, währte aber nur kurz.
Ich hoffe, dass dieses Gefühl es wert war. Der Komfort der Coach Class der
Amtrak-Züge übertrifft meiner Ansicht und Erfahrung nach die Annehmlichkeiten
der Ersten Klasse in jedem ICE oder Railjet. Es ist mir daher nicht
nachvollziehbar, weshalb ich Business oder „priority“ buchen sollte.
Im Vergleich zu der großen und
repräsentativen Bahnhofshalle von Philadelphia präsentierte sich Harrisburg
klein und überschaubar. Ein netter historischer Bahnhof aus genieteter
Stahlkonstruktion und ölfarbengestrichenem Holz. Hübsche Schnitzereien
imitierten dekorative Stuckatur. Zwei große offene Kamine an beiden Seiten der Wartehalle
bezeugten, dass die Winter in Pennsylvania kalt werden konnten. Harrisburg am
schönen Fluss mit dem fast unaussprechlichen Namen Susquehanna River (Aus wessen Sprache der wohl kommt?) war das Ende
unserer Zugverbindungen. Gettysburg verfügte zwar über einen kleinen
historischen Bahnhof, aber über keine aktive Zuglinie mehr. Bei der Planung
unserer Anreise hatte Juliane erfahren, dass es von Harrisburg nach Gettysburg
nur noch eine kurze Taxifahrt war. Der auch nach eineinhalb Jahren USA immer
noch unverständige Europäer denkt dabei an eine Autofahrt von fünfzehn Minuten,
vielleicht zwanzig. Weit gefehlt, die Taxianreise dauerte fast eine Stunde. Der
auch hier einsetzende Konkurrenzkampf mit Uber führte immerhin dazu, dass uns
unser Taxifahrer nicht das Weiße aus dem Auge schälte. Der Fahrpreis gestaltete
sich moderat. Der Kleinbus war ein wenig abgenutzt, gelegentlich grüßte uns
lautstark und mit Getöse das Getriebe, aber der Fahrer war ein echtes Original.
Bis er uns vor der Türe unseres Hotels absetzte, waren wir gemeinsam tanken
(wobei er den Taxameter ausschaltete) und erfuhren, dass er in Gettysburg
aufgewachsen war, in New Orleans gelebt hatte, für BMW in der Produktion
gearbeitet hatte und in seinem Keller Motorräder renovierte. Diese wuchtete er
ohne Lenker die Kellertreppe nach oben ins Freie, sobald seine Arbeit an ihnen
getan war. Er lud unsere Koffer aus, rauchte noch eine Zigarette und fuhr dann
zurück nach Harrisburg, wo eine vorab gebuchte Nachtfuhre auf ihn wartete.
Wir wohnten in einem ansehnlichen
und sauberen typischen Kettenhotel am Stadtrand. In unserem Zweibettzimmer
erwarteten uns zwei Queen-Size Betten, nach unseren Maßstäben also
Doppelbetten. Die Fenster ließen sich wie üblich nicht öffnen. Immerhin war die
Aircondition „ökologisch“ eingerichtet, sie aktivierte sich mittels Sensor,
sobald Menschen im Raum waren. Stand der Raum leer, schaltete sie sich ab. Das
verstand ich als Fortschritt. An der Tür erschreckte mich der Hinweis, dass
dieses Zimmer im Normalfall, d.h. ohne Angebot, 500 Dollar die Nacht kostete.
Unabhängig davon, ob eine Person oder vier darin übernachteten. Mit solchen
Preisen verbanden sich für unsereins gewisse Erwartungen. Spannend am nächsten
Morgen zu erleben, dass das Frühstück in Pappbechern und auf Styroportellern
angerichtet wurde. Bedienen musste man sich selbst. Ein Frühstücksbüffet ist ja
an sich eine feine Sache, aber wiederverwendbares und ästhetisch ansprechendes Porzellangeschirr
und Metallbesteck wäre in mancherlei Hinsicht wünschenswert, nicht bloß
angesichts der Zimmerpreise. Tischdecken gab es auch hier nicht. Sie sind in
den wenigstens Lokalen und Restaurants vorhanden. Egal, ich verspeiste meine so
genannten Frühstückscerealien aus dem Müslispender, ein hartgekochtes Ei, ein
kaffeearomatisiertes Heißgetränk und einen Grapefruitsaft. Juliane verspeiste
etwas Obst und nahm zwei Äpfel vom Buffet mit, die wir später noch verschenken
wollten. An jene, die uns selbstaufopfernd Gutes taten. An der Wand hing ein
Großbildfernseher und breitete eine Decke aus Nachrichten, Werbung und
Diskussionsrunde über den Frühstücksraum. Und obwohl eine entsprechende Warnung
gut lesbar an der Mikrowelle befestigt war, stellte eine Frau, mutmaßlich ein
entschiedener Beyoncé-Fan (man bekommt einen Blick dafür), ihr hartgekochtes
Ein hinein. Ein lauter Knall, und ihr Begleiter putzte geflissentlich die
Bescherung aus dem Gerät. Juliane und ich machten uns per Uber auf dem Weg in
die Stadt.
Es ist schwierig für mich in
Worte zu fassen, was es für mich bedeutete, endlich die Stadt und die als Nationalpark
historisch erhaltene Landschaft mit eigenen Augen zu sehen, wo vom 1. bis zum
3. Juli 1863 die beiden bedeutendsten Armeen des US-amerikanischen
Bürgerkrieges aufeinandergetroffen waren. Die Army of Northern Virginia der Konföderierten Staaten von Amerika
unter Robert E. Lee und die Army of the
Potomac der USA unter George Gordon Meade. Diese Begegnung bedeutete den entscheidenden
Wendepunkt. Der bedingungslose Widerstand der Unionstruppen vor allem unter
Ulysses S. Grant im Westen der USA kann unter Umständen darüber hinweg
täuschen, dass der Sezessionskrieg bis zum 3. Juli 1863 zugunsten des Südens
verlief. Die Army of Northern Virginia war eine für konföderierte Verhältnisse
besser ausgerüstete und bislang ungeschlagene Invasionsarmee auf ungebremstem
Vormarsch. Die Army of the Potomac war eine gut ausgebildete, gut ausgerüstete
und völlig demoralisierte Verlierertruppe. Die vereinigte Presse hasste sie. Ihre
furchtbare Niederlage bei Chancellorsville war erst ein Monat her, und sie
hatte Rückzug um Rückzug schon mehrere Oberkommandeure verschlissen. Deren
Karrieren waren tot wie das in der ebenfalls „Karriere“ genannten militärischen
Gangart zu Schanden gerittene Pferd. Lee war mit seinen „Rebellen“ über sie
hinweggefegt. Antietam, wo an einem Tag mehr Amerikaner starben als während des
D-Days 1945 in der Normandie, war bloß ein blutiges erschöpftes Patt. Und
dieses Gemetzel war erst die Ouvertüre für die Dinge, die da kommen sollten. Nachdem
US-Präsident Abraham Lincoln seinen General Joseph „Fighting Joe“ Hooker
gefeuert hatte, als er Lee und seine Army of Northern Virginia mit seinen
Leistungen erfolgreich zur Invasion auf Unionsgebiet ermutigt und entfesselt
hatte, berief er nach vielen fruchtlosen Bewerbungsgesprächen den nunmehr
fünften Oberkommandeur ins Amt: George Gordon „Old Snapping Turtle“ Meade. Das vereinte
Offizierskorps war sich einig, den ungeliebten Posten sollte der US-Präsident
der „alten Schnappschildkröte“ umhängen. Das war fünf Tage vor der Schlacht von
Gettysburg. Und da sage noch einer, in der ersten Woche im neuen Job könnte man
nichts Bemerkenswertes leisten.
Es ist viel darüber diskutiert
worden, weshalb dieser Krieg geführt worden ist. Vor allem von konföderierter
Seite wurde und wird bestritten, dass der eigentliche Kriegsgrund die Sklaverei
bzw. deren Abschaffung gewesen war. Es ist zweifelsohne richtig, dass der
Sklaven besitzende und ausbeutende Süden die Baumwolle produzierte, die im
Norden industriell verarbeitet und weitergehandelt wurde. Viele Unternehmer aus
dem Norden bereicherten sich im Sklavenhandel. Die Profiteure des Menschenhandels
und der Ausbeutung saßen und verdienten auf beiden Seiten der
Mason-Dixon-Linie. Aber im Norden formierten sich die Abolitionisten, die für
ein Verbot der Sklaverei auch endlich in den USA eintraten. Im Vorfeld des
Bürgerkriegs kam es zu mehreren, heute Großteils unbekannten bewaffneten
Aufständen, z.B. in Kansas und in Harpers Ferry (unter John Brown, 1856 und
1859). Falls die eine und der andere einmal mehr die Religiösen für den Krieg
verantwortlich machen möchten, so ist dies durchaus möglich, da unter den
Abolitionisten zahlreiche, eigentlich die Mehrheit durch ihren christlichen
Glauben motiviert waren, die menschenverachtende Praxis zu verbieten. Ein
weiteres interessantes Detail: Abraham Lincoln war Präsidentschaftskandidat und
Mitglied der damals neu gegründeten Republikaner. In wem jetzt noch immer der Funken
des Zweifels glimmt, dem empfehle ich die Antrittsrede des Vizepräsidenten der
Konföderierten Staaten Alexander Hamilton Stephens, in der „Corner Stone” Speech in Savannah, Georgia, 21. März 1861, stellte
er unmissverständlich klar:
„Our new government is
founded upon exactly the opposite ideas; its foundations are laid, its
cornerstone rests, upon the great truth that the negro is not equal to the
white man; that slavery, subordination to the superior race, is his natural and
normal condition.“
(„Unsere neue Regierung wird auf genau den entgegengesetzten Ideen
gegründet; ihre Fundamente sind gelegt, ihre Grundsteine ruhen auf der großen
Wahrheit, dass der Neger dem weißen Mann nicht gleichwertig ist; dass die
Sklaverei, Unterwerfung unter die überlegene Rasse, sein natürlicher und
normaler Zustand ist.“)
Er bezog sich auf die in der
Verfassung der neugegründeten Konföderierten Staaten vorgenommenen
„Verbesserungen der Fehler und Irrtümer“, die beim Formulieren der Verfassung
der Vereinigten Staaten von den Gründervätern begangen wurden. Die Verfassung
der Konföderierten Staaten stellt bis auf diese wesentlichen „Korrekturen“ eine
Abschrift des Originals dar. Beide Texte (bzw. alle drei) stehen zum Nachlesen
im Internet. Der Kriegsgrund ist also bestens belegbar. Wie er in den
darauffolgenden Jahren von der Nachwelt vergessen oder geschönt werden konnte,
dabei spielen die konkreten Ereignisse bei Gettysburg eine entscheidende Rolle.
Ich näherte mich also auf dem
Beifahrersitz eines Uber dem Vistor
Center des Gettysburg Military
National Park mit mehreren konkreten Fragen im Gepäck. Fragen, auf die mir
nur der Lokalaugenschein eine Antwort geben konnte: Gemäß allem, was ich als
Nachgeborener über die Schlacht und den weiteren Kriegsverlauf wusste, war ich
zu dem Schluss gelangt, dass nur ein Mann halbblind vom Whiskey dieses
Schlachtfeld zum Angriff wählen würde. Und da war es mir egal, wie oft und
wiederholt betont worden war, welch großartiger Boden zum Kämpfen die
Landschaft um Gettysburg wäre. Und da ich wusste, dass Lee kein solcher Mann
gewesen war (er rettete mit seiner Befehlsverweigerung und Kapitulation am
Kriegsende tausende Menschenleben), fragte ich mich, wie er sich zu dieser
Entscheidung verlocken lassen konnte. Und den ersten Teil der Antwort hoffte
ich im großen Museum des Nationalparks zu finden.
Auf den ersten Blick unterschied
sich die Eingangshalle dieses Besucherzentrums sehr wenig bis überhaupt nicht
von den mir bereits vertrauten, egal ob es sich um das Shubert Theater New
Haven, die Warner Brothers Studio Tour oder ein beliebiges Kinozentrum
handelte. Da waren wie überall die Restrooms, die Freilaufgehege für
Warteschlangen vor den Kassen, die Kaffeetheke mit der lieben, bemühten, übergewichtigen
und überaus langsamen Bedienung, die Hinweise auf den Museumsshop und in einem
Nebentrakt der Verköstigungsbetrieb mit Selbstservice. Neu war der
Informationsstand der uniformierten Ranger, die über die Wander- und
Besichtigungstouren im Nationalpark aufklärten. Die hohen großflächigen Fenster
gaben den Blick auf den umliegenden Mischwald frei. Wir waren relativ kurz nach
dem Aufsperren eingetroffen, der Besucheransturm hielt sich daher noch angenehm
in Grenzen. Wir sahen die gewohnten Ausflugsfamilien und Touristengruppen, in
deren Gesamtbild wir uns mehr oder weniger harmonisch einfügten. Entweder
sorgten mein Stock, oder unsere ausländische Sprache für Aufmerksamkeit
und/oder Verwunderung. Auf den zweiten Blick zeigte sich, wie viele Veteranen
hierher auf Besuch gekommen waren. Sie waren an ihren offiziellen Kappen
erkennbar, die in goldgestickten Lettern ihre ehemaligen Einheiten oder Schiffe
verrieten. Einige von ihnen grüßten mich freundlich, ja kameradschaftlich. Die
ältesten erinnerten mich an meinen Großvater, den Muttervater.
Nach dem Kauf unserer
Eintrittskarten weigerte ich mich noch standhaft, mich in einen Rollstuhl zu
setzen. Zunächst standen erst einmal der Dokumentarfilm im Kino und die Show am
Panoramagemälde von „Pickett´s Charge“ auf dem Programm. Da konnte ich mich
jeweils hinsetzen. Entweder in den Kinoreihen, oder auf den vom Personal rasch
und ungefragt bereitgestellten Klappsessel. Dieselben Männer sammelten alle
Gehbehinderten ein und brachten uns in einem Aufzug auf die jeweils höheren
Ebenen. Zuerst ins Kino, dann zum Panoramagemälde. Im Kino war es frostig.
Nicht wegen der spürbaren Erwartungen des Publikums, sondern einmal mehr wegen
der Klimaanlage. Zeit für mich, Jacke und Handschuhe anzuziehen. Das
Voice-over, den Begleittext der auf Hollywoodniveau produzierten und um
Ausgleich bemühten Dokumentation, sprach Morgan Freeman. Das fand ich in jeder
Hinsicht sehr passend. (Morgan Freeman hatte unter anderem in Glory (1989)
mitgespielt. Einem Historiendrama über die im Amerikanischen Bürgerkrieg auf
Seiten der Union kämpfenden schwarzen Truppen. Im Besonderen der allerersten,
historisch belegten Einheit, der 54th Massachusetts Volunteer Infantry/ die 54.
Massachusetts Freiwilligeninfanterie.) Ein paar Reihen weiter saß ein zufrieden
drein guckendes blondgelocktes Kleinkind auf der Schoß seiner jungen Mutter.
Beide trugen Ruderleibchen, Shorts und keine Socken. Juliane flüsterte mir zu,
in Deutschland würde bei diesen Temperaturen die Kinderfürsorge auf den Plan
gerufen werden. Aber wie gesagt, das Kleine war bester Dinge. Da wurde mir
klar, dass diese Kinder von klein auf an diese eisigen Temperaturen gewöhnt
werden, weil sie sich für die Außentemperaturen angezogen in diesen
tiefgekühlten Innenräumen aufhielten. Jetzt war mir auch klar, warum die
Studenten in New Haven, allesamt Aircondition-Natives,
im Winter halbnackt durch die Stadt und übers ganze Land liefen. Ihnen war
wirklich nicht kalt. Umgekehrt schmolzen sie bei Außentemperaturen ab 30 Grad
Celsius wie die mit Wasser begossene böse Hexe am Ende von „Der Zauberer von
Oz“. Vor allem von jungen Männern hörte ich immer wieder, dass sie ohne
Aircondition den Sommer „nicht überleben“ könnten. Und heimkehrende Europareisende
dieser Generation behaupteten felsenfest, in Frankreich, Deutschland oder auch
in Österreich gäbe es keine Klimatisierungen in öffentlichen Gebäuden und
Verkehrsmitteln. Meine Erklärung, in Europa wird geraten, die Innenräume nicht
mehr als 8-10 Grad Unterschied zur Außentemperatur abzukühlen, sorgte noch
jedes Mal für erstaunte Mienen. Böse Zungen könnten jetzt behaupten, die
US-Amerikaner gewöhnten ihre Kinder rechtzeitig an die Eiszeit, die sie mit
ihrer Energiepolitik auslösten.
Während der Show vor und rund um
das Panoramagemälde „Pickett´s Charge“ saß ein bejahrter Veteran der
Militärpolizei (laut Kappenstickerei) neben mir. Beim Donnern der Kanonen hielt
er sich die Ohren zu. Nach der Vorführung im Aufzug sagte er zu Juliane und
mir, was wir da gehört und gesehen hätten, das war die „stupidity of mankind“,
die Dummheit der Menschheit. Und als er in seinen kurzen Hosen etwas x-beinig
vor mir stand, erinnerte er mich wieder an meinen Großvater. Und an die Narbe
unterhalb seines linken Knies, ab der sein Unterschenkel einen leicht nach
innen gekehrten und etwas unnatürlichen Winkel beschrieb. Nur dass ihm
Pulverdampf und Explosionen nicht zusetzten, er im Gegenteil sehr gerne zu
Schießbuden ging und Feuerwerk zu Sylvester abbrannte.
Mein gleich von Anfang an zaghaft
vorgetragener Widerstand war rasch gebrochen, und meine Frau setzte mich in
einen Rollstuhl. Sie hatte ja Recht, mir war auch klar, dass mir in den
Ausstellungsräumen sehr bald die Kondition ausgehen würde. Noch quietschte ein
wenig mein Stolz bei dem Gedanken, von ihr herumgeschoben zu werden, aber die
richtige Einschätzung meiner Kräfte und Ressourcen war überlebenswichtig. Und
die vor mir bzw. vor uns liegende Aufgabe war gewaltig. Uns erwartete ein
Parforceritt durch den gesamten Bürgerkrieg, seine Ursachen und Auswirkungen.
In der Ausstellung begrüßten uns Johnny
Rebell und Billy Yank, zwei als
die beiden typischen Infanteriesoldaten der verfeindeten Parteien ausstaffierte
Puppen. Aus den Lautsprechern klangen abwechselnd die „Battlehymn of the
Republik“ (USA) und „I Wish I Was in Dixie“ (CSA). Die in den Glasvitrinen an
den Wänden ausgestellten Lang- und Handfeuerwaffen stellten einen für Liebhaber
bemerkenswerten Querschnitt aller im neunzehnten Jahrhundert gebräuchlichen
Systeme dar. Jeder Kriegsteilnehmer stattete sich gemäß seiner Herkunft aus.
Entsprechend gab es die offiziellen US-amerikanischen Musketen und Karabiner
(auch aus New Haven) sowie Revolver von Colt, aber eben auch französische
Lefaucheux-Revolver (vor allem CSA), österreichische Lorenz-Gewehre (vor allem
USA) und vieles mehr. Die meisten Säbel und Blankwaffen stammten interessanter
Weise aus Solingen in Deutschland.
Wie an etlichen
Ausstellungstücken wie Tagebüchern, Briefen und Rekrutierungsplakaten rasch
klar wurde, war ein Großteil der Unionstruppen deutschsprachig. Davon wurden
sehr viele direkt bei ihrer Ankunft aus Europa in New York oder Boston
angeworben, die anderen waren mehrheitlich so genannte Pennsylvania Germans.
Dieser Begriff umfasste nicht nur, sondern auch Deutsche nach heutigem
Verständnis. Damals sammelte er einfach alle Deutschsprachigen unter einer
Bezeichnung, auch ganz großzügig die Österreicher, Schweizer und Niederländer.
Selbiges galt und gilt übrigens auch für den alternativen Begriff Dutch
Country, was dieselbe Gegend bezeichnet, in der wie gesagt nicht nur Holländer,
sondern alle Deutschsprachigen siedelten. Und diese Leute entschieden sich für
die Union und gegen die Konföderation. Auch wenn einige in den freigelassenen
Sklaven eine gefährliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt für sich sahen. Am
Ende geht es auf dem Land und innerhalb der Arbeiterschaft immer um die Jobs. Nichtsdestotrotz,
leider ist diese deutschsprachige US-amerikanische Tradition aus dem
öffentlichen Leben ganz und gar verschwunden, dank zweier Weltkriege und fortgesetzter
nationalistischer Großmannspolitik. Von der einstigen Pluralität bleiben am
Ende das Englische und der Puritanismus, der heute in der Larve des
Kapitalismus daherkommt. Juliane und mir war öfters aufgefallen, dass viele
Kiebitze und Passanten auf unsere Sprache feindselig reagierten. Im Moment
läuft es ja außenpolitisch auch nicht besonders rund zwischen Deutschland und
den USA.
In den ausgedehnten und
detailreichen Ausstellungsräumen fand ich neben faszinierenden Hygienehinweisen
für Rekruten (z.B.: Die Ärzte empfohlen den Männern, sich den Bart stehen zu
lassen, weil er Hals und Brust wärmte und so vor Lungenerkrankungen schützen
sollte. Die Rauschebärte auf den Schwarzweißfotos jener Tage waren also keine
Modeerscheinung, sondern eine Form der Seuchenprävention), Zahnbürsten aus
Rosshaar und vielem mehr auch Informationen zu den Antworten auf meine Fragen.
Kurz zusammengefasst: General Lee hatte gar nicht vor, an diesem Ort zu
kämpfen. Seine Kavallerie hatte ihn völlig blind ins Feld gehen lassen. Seine
Berittenen, die ihm als Augen und Ohren seiner Armee dienen sollten, waren mit
Kavaliersstücken und Husarenritten im aus ihren Augen Feindesland beschäftigt.
Sie ließen sich in unsinnige Scharmützel für Ruhm und Ehre verwickeln, und sie
vergaßen darüber ihre eigentliche Aufgabe. Nur ein einzelner Scout, ein
Schauspieler ausgerechnet, warnte Lee, dass seine Truppen ganz und gar nicht in
die örtliche Miliz, sondern irrtümlich in die Unionsarmee krachten. Und Lee
glaubte ihm. Da alle bisherigen Erfolge der Army of Northern Virginia gegen die
Army of the Potomac aus unterlegenen Angriffspositionen erstritten worden waren,
führte die Erkenntnis jedoch nicht zu Bedenken oder gar einem Umdenken. Aus den
vorangegangen Siegen war nicht der Glaube hervorgegangen, dass die gegnerischen
Soldaten schlechter oder feige wären, sondern dass die eigenen umso vieles
heldenhafter und besser wären. Hybris, so sagte schon Caesar, war es nur, wenn
es schiefging. Und spätestens hier begann sich ein Wiedererkennungseffekt in
mir zu regen, ganz Ähnliches hatte ich auch schon über die k. u. k. Armee und
die deutsche Wehrmacht jeweils zu Beginn der beiden Weltkriege gehört.
Juliane und ich tranken noch
einen Kaffee, marschierten im Museumsshop ein und erbeuteten ein paar
Erinnerungsstücke, bevor wir in die Stadt zum Heritage Center an der Steinwehr
Avenue fuhren. Im Museum hatte es mich nicht im Geringsten gewundert, aber auf
dem Weg durch die Stadt fiel mir auf, wie offenherzig hierorts die Flaggen und
Symbole der Konföderation gezeigt wurden. Nicht „nur“ die Battle Flag. An Häusern und auch Autos flatterten „Stars and Bars“,
die erste, und beide weiteren Nationalflaggen der CSA als Fahnen, Fähnchen und
Wimpel im Wind. Ich entdeckte sogar ein paar „Bonnie Blue Flags“. Die Battle
Flag gab es sogar als Bikini zu bestaunen und zu kaufen. (Es war eh keine
ernstgemeinte Zuschrift, aber meiner Frau kam sowas nicht ins Haus.) Aus allen
Shops, Bars und Restaurants klangen lustig die Rebellenweisen. Ich weiß nicht,
das irritierte mich. Mir kam das so vor, als würde ich die schwarz-goldene
österreichische Nationalfahne an meinem Haus hissen und dazu laut die alte
österreichische Hymne spielen. Dann würde mich jede und jeder fälschlicherweise
für einen Deutschnationalen halten. Hier wusste aber scheinbar jeder, was die
gezeigten und gehörten Codes bedeuteten. Natürlich war auch in Gettysburg
„Stars and Stripes“ allgegenwärtig, und es gab auch genug Unions-Devotionalien
zu kaufen, auch jede Menge Fahnen und Uniformteile. Trotzdem, ich war hier in
Pennsylvania. Und wie gesagt, Pennsylvania kämpfte aufopfernd für die Nord-,
nicht die Südstaaten. Indes die Nummerntafel der Autos verrieten es, ich hatte
bisher noch nie so viele Zulassungen aus North Carolina, Texas, Georgia,
Florida oder Tennessee gesehen wie auf diesem kleinen Fleckchen Erde im Dutch
Country. Auch im Shop des Heritage Centers gab es alles zu kaufen, was der
historisch interessierte Souvenirjäger aus allen Teilen der heutigen USA
heimtragen wollte. Auch jene dieser Tage ins Gerede gekommene Kappe mit der
Battle Flag und der Aufschrift „Heritage not Hate“ darauf. Mit 15 hätte ich sie
mir gekauft. Heute stand ich mit meiner Boston Celtics-Mütze davor, weißes
Kleeblatt auf Grün. Ein anderes Symbol, das mir auf den Denkmälern des
Schlachtfelds noch öfters begegnen sollte und mir grimmige Blicke von Frauen
und Männern aus vorbei fahrenden Pickups eintrug.
Am Heritage Center wurden wir von
einer Kutsche abgeholt, die uns erstmals hinaus in den Nationalpark brachte.
Die beiden Kaltblüter gehörten einer örtlichen Großfamilie, die offensichtlich
von und mit ihren Tieren lebte. Juliane fragte, ob sie den beiden Rössern ihre
Äpfel geben dürfe. Leider ging das noch nicht. Den zwei Pferden ihre Belohnung
vor der Ausfahrt zu geben, würde sich nicht günstig auf ihre Motivation
auswirken, war die etwas enttäuschende Antwort. Aber der Kutscher und seine
Tochter versprachen Juliane, ihr Geschenk nach der Ausfahrt und dem leider
notwendigen Erholen von der Trense zu übergeben. Und wie ich die beiden
einschätzte, hielten sie sich auch wirklich daran. Weiter erfuhren wir, dass
der Mann Deutsch sprach, weil er in der damaligen BRD in der US-Army gedient
hatte. Er war nicht der Erste, und noch lange nicht der Letzte, den wir trafen.
Der Mann auf dem Kutschbock war also ein echter Veteran, und neben ihm saß
seine junge Tochter. Ein weiterer Begleiter war auch noch verpflichtend mit an
Bord, ein lizensierter Militärhistoriker. Er hatte die Aufgabe, uns das
Schlachtfeld zu erklären. Und auch noch eine zweite, die er sich erst später
entlocken ließ.
War ich erst einmal auf den Wagen
gewuchtet, ging die Ausfahrt auch schon los. Ruhig und gemütlich in südlicher
Richtung die schmale Landstraße entlang. Nur gelegentlich musste unser
Militärhistoriker verstummen, weil eines oder mehrere Harley Davidson-Motorräder
an uns vorbeifuhren. In gemächlichem Tempo, aber laut. Es war der Beginn der
Biker-Woche in Gettysburg. Und solange die Motorräder in der Stadt und im
Nationalpark unterwegs waren, fuhren die Pferdegespanne nicht aus. Wir waren
die letzte Ausfahrt vor der mehrtägigen Pause. Zum Glück bogen wir bald auf die
Wege des Nationalparks ab, wo zwar auch Autos unterwegs waren, aber im Schritttempo.
Erlaubt waren hier maximal 20 Meilen, das entsprach circa 32 km/h. Das
Tempolimit unterschritt aber eh jeder, weil alle mit Rumgucken und
Fotografieren beschäftigt waren. Im Gespräch unterwegs zeigte sich, dass unser
Guide aus North Carolina kam, ebenso vier weitere Gäste. Die nette Familie, die
uns gegenüber saß, war aus Texas. Und wir beide waren aus Europa. Der Opa aus
North Carolina hatte es mit einer Bemerkung versucht, aber diese Runde ließ
sich nicht provozieren. Wir genossen lieber die Landschaft. Pennsylvania rund
um Gettysburg bestach durch seine hügelige Weite und unverfälschte historische
und natürliche Erscheinung. Es tat unglaublich gut, endlich wieder in einer
schönen Kulturlandschaft zu sein. Die Hügelkuppen im Osten waren bewaldet,
ebenso die Ebene im Westen. Dazwischen standen kleine im Original erhaltene
historische Farmen und Scheunen. In einigen steckten noch Bürgerkriegsprojektile.
Ringsum breiteten sich Felder aus. Die kleinflächigen Rechtecke waren mit
wuchtigen Feldsteinmauern und Holzzäunen umfasst. Es gab und gibt hier
Wildschweine. Gelegentlich lagen pittoreske Granitfelsen in der Gegend herum.
Ein Paradies für Querschläger. Und
die Wälder ideal, um sich Holzsplitter einzufangen. Die Bäume waren während der
drei Tage im Juli 1863 von Gewehrkugeln, Granaten und Artillerie zerfetzt
worden. Ein entsprechendes Schaustück zeigte das Museum. Auch von meinem Sitz
auf der Kutsche aus, war es mir nicht möglich, die gesamte Ebene in einem Stück
zu überblicken. Immer wieder entzogen sich ausgedehnte Vertiefungen meinem
Blick. Aber der Militärhistoriker versicherte mir einmal mehr, welch
großartiger Boden zum Kämpfen dies hier wäre. Dieselben Sätze wurden ständig
zitiert und wiederholt. Sogar gegenwärtige Militärs würden hier kämpfen wollen,
sagte er. Das würde dann so durchschlagende Erfolge wie in Korea und Vietnam
erklären, dachte ich. Behielt es aber für mich. Hatte ich zunächst angesichts
der Landschaft ein schlimmes Bauchgefühl, bekam ich jetzt einen Magenkrampf.
Niemals würde ich hier zum Angriff befehlen. Hier ging jeder Mann blind ins
Feld, mit oder ohne Kavallerie. Aber dann wurde mir klar, dass sie alle aus der
Sicht der siegreichen Verteidiger analysierten. Für die Unionstruppen auf den
Hügeln, sah das alles natürlich wieder ganz anders aus.
Und dann brach unser Rad. Besser
gesagt, die Beschichtung löste sich vom Reif des Wagenrads. Genau gegenüber von
Little Round Top. Ich konnte die mörderische Steigung, den Wald und die Felsen
deutlich vor dem Horizont erkennen. Alle Fahrgäste außer mir stiegen ab. Wir
alle warteten auf Hilfe. Die Pferde nutzten die Gelegenheit und erleichterten
sich. Wildromantisch. Eine weitere Generation Fuhrwerker traf am Wagen ein und
reparierte mit Textilklebeband provisorisch den Schaden. Textilklebeband ist
super! Ich habe damit auch schon Seitenspiegel an Autos und leuchtende Scheinwerfer
an Stative geklebt. Alle entschuldigten sich. So etwas war noch nie zuvor
geschehen, die Familie hatte erstmals den Hersteller der Wagenräder gewechselt.
Sie hatten keine US-amerikanischen mehr, sondern kanadische gekauft. Ja, oft
hat man Pech!
Bei der langsamen Rückfahrt in
die Stadt ließ unser Militärhistoriker dann endlich die Katze aus dem Sack: Er
versicherte uns fröhlich lachend, wir wären die friedlichste und
disziplinierteste Runde seiner ganzen bisherigen Karriere gewesen. Andere
Gruppen begannen schon auf den ersten Metern der Rundfahrt sich zu streiten. Und
wir hatten sogar unsere Panne mit Langmut ertragen. Ernsthaft, meinte er, oft
hatte er schon eine handböse Eskalation verhindern müssen. Die Wunde des
Bürgerkriegs war nach rund 160 Jahren keineswegs verheilt. Sie schwärte unter
der Oberfläche. Nur dass ich mehr und mehr den Eindruck gewann, dass nicht länger
die Mason-Dixon-Linie die Grenze bedeutete. Heute, so schien es, standen Städte
gegen Land. Und die Wahlergebnisse, konkret die Stimmenverteilung für Donald
Trump oder Hillary Clinton bei den letzten Präsidentschaftswahlen illustrierten
das. Trump versus Hillary, das war wie Johnny Rebell versus Billy Yank. Und
auch Juliane bestätigte mir, dass sie auch hier im Norden das Gefühl bekam,
dass ungeahnt viele die Empfindung teilten, dass damals im Juli 1863 die
Falschen bei Gettysburg gewonnen hatten. Wir waren eine Wagenladung ehemaliger
Konföderierter und Europäer, worüber hätten wir uns streiten sollen? Und bis
auf einen, der abgeblitzt war, wollten wir alle unsere Ruhe haben und die
Ausfahrt genießen. Dieser Konsens nennt sich Zivilisation.
Zurück in dem Wirrwarr, das sich
heute so nennt, verabschiedeten wir uns von Pferden und Besitzern und suchten
uns ein Lokal zum Abendessen. Zuerst versuchten wir unser Glück im ältesten
Haus von Gettysburg, über dem beinhart die Fahne der dreizehn britischen
Kolonien wehte. Auch eine Art und Weise, seine Meinung über den Bürgerkrieg
kundzutun. Aber neben dem Eingang prangte unübersehbar ein überdimensionales „God
Bless America“. Der 4. Juli war nur sechs Tage her, und immer mehr Biker
strömten in die Stadt. Richtig begeistert waren wir von dem Restaurant nicht,
also spazierten wir wieder zurück. Das Kleeblatt auf meinem Kopf wirkte dabei
wieder wie ein Magnet für feindseliges Funkeln. Aber nicht ausschließlich. In
der Stadt waren jetzt auch jede Menge anderer Yankees und afroamerikanische
Familien unterwegs. Ich bemerkte wie die Familienväter erst mich und dann
Juliane von oben bis unten musterten und taxierten. Ich konnte mich des
Eindrucks nicht erwehren, dass sie bei unserem Anblick romantische bzw.
erotische Tagträume durchlebten, deren Zentrum die Vorstellung meines
Kontoauszuges war. Ein älterer weißer Pickup-Fahrer machte aus seinem Herzen gleich
gar keine Mördergrube und sagte für mich gut hörbar zu seiner Frau, meine würde
„einen Spaziergang mit meiner Visa“ machen. Die Möglichkeit, dass Juliane
Universitätslehrerin, Wissenschaftlerin, Besitzerin einer eigenen Visakarte
war, und ich ohne ihr gar nicht hier wäre, kam im US-amerikanischen
Durchschnittsweltbild nicht vor. Darin waren sich dann alle einig, die drei M:
Money, Mutti und Mischpoche. Puritanismus tut einer Gesellschaft einfach nicht
gut. Aber egal. Wir hatten wohl vergessen, die Kommentarfunktion an uns zu
deaktivieren. Von so etwas ließen wir uns die Laune nicht verderben. Wir entschieden
uns für das Gasthaus einer Brauerei und genossen, bis wir einen Tisch zugeteilt
bekamen, ein höchst sympathisches und vertrautes Erbe der Pennsylvania Germans:
Den „Biergarten“.
Beim Essen beobachtete ich wie
eine afroamerikanische Familie erschreckt zusammenrückte und alle ganz verstört
zur Decke starrten. Ich schaute nach oben. Sie saßen unter einer riesigen Bonnie Blue Flag, rechts und links
flankiert von Battle Flag und Blood-Stained Banner.
Ende des ersten Teils.
Fortsetzung folgt...