Teil 37: Stolz und Demütigung/ Gettysburg, PA (Teil 2)
Über die Nachtruhe in unserem
Hotel am Stadtrand von Gettysburg weiß ich nichts zu berichten, ich war so
fertig, ich habe nach einer ausführlichen Dusche schwarz geträumt. Juliane und
ich wurden frühmorgens sanft vom Knattern der Motorräder in der Hotelauffahrt
und auf dem Parkplatz geweckt. Gut hörbar, ohne dem aus der Auspuffanlage ausgebauten
Schalldämpfer. Wer möchte denn nicht den Verbrauch seines Vehikels heben und
die Motorleistung schmälern? Verblüfft stellte ich fest, dass es sich bei den
Motorrädern zu keinem geringen Anteil um Dreiräder mit aufgebockten Ledersitzgarnituren
handelte! Ihre Besitzer waren allesamt im Pensions- bzw. Rentenalter oder knapp
davor. Daran zeigte sich, dass nicht nur die katholische Kirche und die
Bürgerkriegsdarsteller, sondern auch die Biker in den USA seit den 1990igern ein
ernstes Nachwuchsproblem hatten. Jedenfalls die organisierten, die sich alle
Jahre wieder im Juli in Gettysburg trafen. Vorbei schienen die Tage von „Easy
Rider“ (1969) und von Peter Fonda, Dennis Hopper und Kollegen. Und die rassigen
Mädels auf dem Sozius waren auch schon etwas runder um Hüften und Taille,
trugen einen „fetzigen“ bunten Kurzhaarschnitt und bewegten sich nicht so, als
wäre diese Aufmachung und Adjustierung (Bandana, Boots, Jeansweste und Hard
Rock-T-Shirt) ihre übliche. Tatsächlich beschwerten sich ein paar von ihnen im
Aufzug (Lift, nicht Gewandung), nicht auf Leuteansammlungen aufgelegt zu sein.
Warum waren sie dann hier? (Eine Frau am Lenker, nicht auf dem Sozius, habe ich
wirklich und beim besten Willen nicht gesehen. Meine Google-Suche nach „Bikerin“
lieferte mir als ersten Treffer eine junge Frau auf einer Maschine mit Wiener
(!) Kennzeichen. Da ging es hin, das gehegte Klischee.) Im Alltag, so schien
es, gingen diese Ladies und ihre herbstlichen „Bad Boys“ es etwas „bürgerlicher“
an. Diese Biker hörten Countrymusik und wohnten im Hotel. (Von ihrem
Musikgeschmack erfuhr ich von einem Uberfahrer, der wie ich lieber Metal
hörte.) Umgekehrt, wer außer schon etwas gesetzteren Herrschaften konnte sich
eine Harley Davidson leisten? Fast schon unnötig zu sagen, dass auch von ihnen
die wenigsten Helme trugen. An Vollvisierhelme kann ich mich überhaupt nicht
erinnern. Und dabei muss ich jetzt wieder an die spitzzüngige Feststellung
meiner Gattin denken, dass, wer keine ordentliche Krankenversicherung hat, auch
keinen Sturzhelm braucht. Immerhin bescherten die versammelten Pferdestärken
den wirklichen Rössern ein paar Tage Urlaub auf der Weide und im Stall.
Nachdem unsere Kutschenfahrt am
ersten Tag leider nicht so ausführlich ausgefallen war, wie wir uns das
gewünscht und vorgestellt hatten – Wofür man allerdings niemanden
verantwortlich machen konnte, am allerwenigstens die Pferde. Aber vielleicht
einen Wagenrad-Hersteller in Kanada? Sofern es ihn wirklich gab? –, hatte meine
großartige Frau für unseren zweiten Tag in Gettysburg eine bessere Idee: Das
ganze Schlachtfeld war mit einer Autotour von jeder Landmarke zur nächsten
Sehenswürdigkeit erschlossen. Chronologisch gemäß der historischen Ereignisse der
Bürgerkriegsschlacht von Punkt 1 „McPherson Ridge“ bis Punkt 16 „National
Cemetery“ geordnet. Wir wollten uns also wie in den 1960igern in die 1860iger
versetzen und ein wenig Autowandern. Aber dazu brauchten wir einen Mietwagen.
Und den organisierte Juliane über Nacht mittels Smartphone und Internet. Da wir
uns in den USA befanden, haben wir kapitalistisch gedacht, und das war ganz
falsch.
Wir wollten das kleinste zu
mietende Fahrzeug ausborgen, zwei Anbieter kamen in Frage: Enterprise und Hertz. Hertz war ein klein wenig teurer, hatte
die bessere Adresse, sollte gemäß materialistischer Logik daher auch
verlässlicher sein. Aber so läuft es in der Welt, der Mensch plant und Gott
und/oder das Universum lacht. Wir fuhren mit einem Uber ins örtliche Marriot noch etwas weiter außerhalb von
Gettysburg, wo Hertz seine
Niederlassung betrieb. Der dortige Mitarbeiter ließ uns erst mal eine halbe
Stunde in der feudalen Hotellobby warten, weil er angeblich gerade ein Auto
übergab. Die Polstersessel waren bequem, die Ausstattung im feinsten
Schweinsbarock imitierte Bürgerkriegs- und Oval Office-Atmosphäre vermittels
dunkelblauem Spannteppich mit US-Adler. Unter dem zentralen Kristallluster
stand eine Bürgerkriegskanone, das absurd polierte Replikat einer Napoleonic Gun. Immer wieder
schlenderten alte Herren in pastellfarbigen Polohemden und hellen Bermudas
vorbei, gefolgt von ihren Gattinnen mit Taftfrisur, die sich hier zu einer
Oldtimerrally trafen. Die kommende Begegnung würde sicher herzerwärmend: Die
Opas und Omas im Classic Car, die Vatis und Muttis auf der Harley, und Enkel
und Urenkelinnen als Claqueure auf dem Gehsteig.
Als der leicht untersetzte junge
Mann im Firmenlogogeschmückten Polohemd (Schwarz-Gelb auf Hellgrau) herbeischlurfte,
ahnten Juliane und ich schon Übles. Langer Rede gar kein Sinn: Er gab uns kein
Auto. Um uns das mitzuteilen, hatte er uns extra herkommen und in der Lobby
warten lassen. Der Grund: Führerschein und Kreditkarte waren nicht auf dieselbe
Person ausgestellt. So verlangten es die Firmenvorschriften. Ich hatte meine
Kreditkarte in Connecticut. Juliane unterstrich, dass sie meine Ehefrau ist und
die ganze Zeit über neben mir sitzen würde. Der Jüngling griff zum
Telefonhörer, um seinen Vorgesetzten anzurufen. Allerdings nicht, wie wir naiven
Europäer annahmen, um die Sache in unserem Sinne kulant zu lösen, sondern um
sich schmunzelnd mit dem Mann am anderen Ende der Leitung über die
Unmöglichkeit unseres Anliegens zu erheitern. Für Juliane war spätestens jetzt Hertz für immer gestorben. Sie stand auf
und ging. Ich fragte den Burschen höflich, ob Geld nicht Geld wäre? Natürlich,
aber die Guidelines, wegen Safety und Security und so. Ja ja, so so! Bestimmt ging es dabei nicht um
meine Sicherheit. Soviel also zum Kapitalismus und dem freien Westen! Zahlungsfähig,
verheiratet, gültige Dokumente und kreditwürdig, alles egal? Alle propagierten
Werte der US-amerikanischen „Freiheit“ auf dem Altar der angeblichen „Sicherheit“
geopfert? Dem jungen Mann war meine Polemik natürlich völlig wurscht, das war
mir eh klar. Ihn interessierten nur die Vorgaben seines Jobs. Die Zufriedenheit
seines Arbeitgebers war ihm wichtiger als die der Kunden. Und was hatte er mit
seinem Verhalten gewonnen? Was hatte er jetzt davon? Juliane war zornig aus dem
Hotel gestürmt, hatte die Konkurrenz angerufen, und innerhalb von fünf Minuten
ein Auto gemietet! Zwei Kunden für immer verloren, Enterprise machte das Geschäft, Hertz
und ihr Filialbetreuer haben eine blöde Nachrede! Was jedoch das Schlimmste
daran sein wird, der ganze Ärger wird bei dem Jungen wirkungslos verpuffen, und
uns wurden zwei Stunden Lebenszeit von unsinniger- und kapitalismuswidriger
Firmenbürokratie gestohlen.
Auf der Uber-Fahrt in das
Industriegebiet, das mich herzerwärmend an die Automeile Tulln erinnerte, erfuhren wir, dass alle Ortsansässigen
nur zu Enterprise gingen, wenn sie
ein Mietauto brauchten. Wir hätten uns also gleich an diesen Anbieter wenden
sollen. Wir bekamen sogar ein kostenloses Upgrade, und ich fuhr in einem extra
für mich gewaschenen Dodge-Van vom Parkplatz. Ich hätte sogar einen Ford
Explorer haben können, aber was sollte ich mit so einem Schlachtschiff
anfangen?
Es waren Erlebnisse wie dieses,
oder der jedes Mal genau gleich und verlässlich wiederkehrende Ärger beim Refill eines meiner Medikamente, die in
mir die Erinnerung an meinen Großvater weckten. Wie er in sich zusammengesunken
in seinem Polstersessel im Wohnzimmer seiner dritten Frau saß und mich mit
traurigem Gesicht fragte: „Wie konnten wir nur verlieren? Wir waren so gut!“
Und wider besseres Wissen und Gewissen fragte ich mich in meinem Ärger über diese
Widerstände und vor sich hergetragener Ignoranz, wie die USA ihren Weltmachtstatus
erlangen und dieses Image weltweit aufrechterhalten konnten? Und als ich in
meinem gemieteten Dodge, den ich liebevoll „Al“ nannte (nach Al Bundy), an all
den Konföderierten-Fahnen in Gettysburg vorbei fuhr, wurde mir klar, dass sich
dieselbe Frage auch einige andere Nachkommen auf dieser Welt stellten. Nur mit
anderen Vorzeichen und Symbolen. Und vor meinem geistigem Auge sah ich all die
Großväter von damals im Süden, die ihren Enkelkindern dieselbe Frage stellten:
„Wie konnten wir nur verlieren? Wir waren so gut!“ Enkeltöchtern wie Margret
Mitchell.
Und mich beschlich das ungute
Gefühl, dass die Antwort auf diese Frage im Süden der USA und in der Mitte von
Europa gleich lautete. Und diese Antwort war auch der Grund, warum die Lieder
der Iren auf beiden Seiten des Bürgerkriegs bis heute gesungen wurden, aber die
Stimmen der „Germans“ verstummt waren. Und heute jedes Jahr ganze Regimenter
aus Deutschland mutmaßlich für die andere Seite als ihre Vorfahren zum
Bürgerkriegsspielen nach Gettysburg reisten.
Nach dem Ende eines Krieges
herrschte stets Uneinigkeit für die Ursachen und Gründe seines Ausgangs. Eine
„Dolchstoßlegende“ war dabei immer wieder recht schnell zur Hand. In den
meisten Fällen war die Opposition innerhalb der eigenen Reihen an der
Niederlage schuld. Im Fall des US-Bürgerkriegs allen voran die so genannten
„Copperheads“, Demokraten und bekennende Kriegsgegner, wie die namensgebende
Giftschlange im Nordosten der USA beheimatet. (Wer jetzt aber von gegenwärtigen
politischen Vorurteilen gelenkt denkt, dass diese Fraktion sympathisch gewesen
wäre, der irrt. Diese Leute waren Anti-Abolitionisten.) Einig waren sich
Militärhistoriker, vor allem mit Diensterfahrung, darüber, wie eine Schlacht
oder ein Krieg anfing: Zwei x-beliebige Typen verloren die Nerven und schossen
aufeinander. Diese simple und uralte Erkenntnis findet sich schon in der klassischen
(noch nicht von Guy Ritchie als Blockbuster-Film hingemordeten) Artus-Sage. Die
finale Schlacht zwischen König Artus und seinem Sohn (und Neffen!) Mordred
begann, weil ein Schildknappe vor einer Giftschlange zu seinen Füßen erschrak
und sein Schwert zog. (Wir bemerken das psychologische Muster in der
Allegorie…) Namen und Dienstränge der Männer, die die ersten Schüsse auf Fort
Sumter und in Gettysburg abgaben, sind bis heute bekannt. Waren es im April
1861, zu Kriegsbeginn, Konföderierte, war es am 1. Juli 1863 ein Leutnant der
US-Kavallerie, der mit einem geborgten Karabiner gegen 8 Uhr morgens auf die in
unmittelbarer Nähe auf der Landstraße vorbeimarschierende konföderierte Infanterie
schoss: Marcellus E. Jones. Von einem Zaun auf dem McPherson Ridge aus. Und auf
der Chambersburg Pike fand sich rasch jemand, wahrscheinlich unausgeschlafen
und mit müden Füßen, der das Feuer erwiderte. Damit begann das dreitägige
Gemetzel von Gettysburg, das zum endgültigen Untergang einer überholten und
unmenschlichen Lebensweise führen sollte. Nachdem sein gekrümmter Finger am Abzug
zehntausenden Männern, einer unbeteiligten Zivilistin und ungezählten Pferden
und Maultieren das Leben gekostet hatte, starb er hochgeehrt in hohem Alter an
der Wende zum nächsten Jahrhundert (mit 70, am 9. Oktober 1900 in Illinois). Den
höchsten Blutzoll zahlte wie immer die Infanterie beider Seiten. Kein Wunder,
dass unter ihnen das Scherzwort kursierte: Wer
hätte schon jemals einen toten Kavalleristen gesehen? –Gott liebt die Infanterie, hieß das entsprechend im
deutschsprachigen Raum.
In der Infanterie kämpfte, wie
der ältere Name ungeschönt und weniger verschlüsselt verriet, das „Fußvolk“.
Einfache Männer auf Schusters Rappen aus dem einfachen Volk mit einfacher
Bewaffnung. Und dank der seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts neu
eingeführten Volksarmee auch in sehr großer Zahl. Die Zeit der buntuniformierten
und prestigeträchtigen Experten- bzw. Berufsarmeen war seit den Napoleonischen
Kriegen (und allerspätestens dem Krimkrieg) endgültig vorbei. Jetzt holten die
Anwerber buchstäblich jeden (damals nur Männer, heute auch Frauen) von der
Straße zum Dienst an der Waffe. Unnötig zu sagen, dass es die Armee war und
ist, die für die so genannten bildungsfernen und sozial schlecht gestellten und/oder
ausgegrenzten Menschen ein Ticket aus der Misere bedeutete und bedeutet: Sold,
Ausbildung und Bildung. Aber der Einsatz gestaltete sich im Ernstfall als
„Kanonenfutter“ (ein weiterer ungeschönter alter Name) in Massenangriffen.
Wovon es in Gettysburg eine Menge geben sollte. Und mindestens einen bis heute
legendären. Es starben mehr einfache Leute denn je in den so genannten modernen
Kriegen, von denen der US-Bürgerkrieg als der erste gilt, und der WKII als der bislang
größte. Möge dieser Rekord möglichst lange ungebrochen bleiben, bitte.
Als wir uns an Bord unseres „Al“
in den Verkehr einreihten, wurde unsere Beobachtung der letzten Tage noch
nachvollziehbarer: Auf dem Land, in diesem Fall in Pennsylvania, waren wir von
Veteranen und ehemaligen Soldatinnen umgeben. Auf den, sagen wir einmal,
„normalen“ Autos, d.h. der durchschnittlichen PKWs und leistbaren Vans, klebten
regelmäßig Aufkleber der US-Armee. Diese Sticker verkündeten, dass der
Wagenhalter oder die Fahrerin entweder selbst gedient hatten, oder eines ihrer
Kinder. Im zweiten Fall stand da z.B. „Proud Mom of a Soldier“ am Heck des
Wagens oder gut sichtbar an der Seite. Wir waren auf unseren Ausflügen schon an
mehreren Rekrutierungsbüros vorbeigekommen, auch in New York City mitten auf
dem Time Square. Die Werber rührten wie anno dazumal die Trommel, und viele
folgten ihrem Ruf. Genau wie es mein Großvater aus Maria Enzersdorf kurz vor
dem Ende der Ersten Republik getan hatte, nach dem Bürgerkrieg, nachdem er sein
soziales und wirtschaftliches Leben in eine Sackgasse gelenkt hatte.
Entsprechend und entgegen dem
Plan der Autotour begannen Juliane und ich unsere Erkundungstour über das
Schlachtfeld von Gettysburg im Norden bei Station 2, am Eternal Light Peace Memorial.
Am 1. Juli 1863 griffen von hier die Konföderierten an und drängten die
Unionstruppen von den McPherson und Oak Ridges in den Süden der Stadt zurück, auf
Culps und Cemetary Hill. 75 Jahre nach der Schlacht richteten über 1800
Veteranen hier einen Obelisken auf, an dessen Spitze seither in einer Schale
eine Flamme brannte, für „Peace
Eternal in a Nation United“ („Ewigen Frieden in einer Vereinten
Nation“).
Von hier aus fuhren wir weiter
zum Lutherischen Seminar, dem ersten und ältesten durchgehend betriebenen in
den USA. Im historischen Gebäude, von dessen Kuppel General Buford (USA) die
heranrückende konföderierte Armee beobachtete, ist heute das Seminary Ridge
Museum untergebracht. Vor der lutherischen Kirche stand das einzige Denkmal im
Nationalpark, das nichts mit der Schlacht oder der Armee bzw. den Armeen zu tun
hatte: Martin Luther. Ich wollte diesen Ort unbedingt mit eigenen Augen sehen. General
Buford ließ hier die Kavallerie absitzen und zu Fuß gegen die anrückende
Infanterie kämpfen, bis General Meade südlich auf Cemetery Hill eingetroffen
war. Obwohl die Kuppel für Besucher geöffnet war, blieb sie für mich
unerreichbar. Der Ausblick, damals und heute, war in den Ausstellungsräumen
nachgebaut. Der Besuch des Museums lohnte sich auf jeden Fall, und ich wollte
ihn auf keinen Fall verpassen, bei fellow
Lutherans gab es verlässlich etwas Ordentliches zu trinken,
behindertengerechte Restrooms und einen Aufzug. Und genau so war es.
Im Juli
1863 war in den drei Stockwerken des Ziegelbaus ein Lazarett untergebracht. Die
Pastorenfamilie Ziegler und Freiwillige versorgten die Verwundeten beider
Seiten, Feldchirurgen gaben ihr Bestes. Als die Flut der hereinkommenden
Verwundeten nicht enden wollte, kamen den erschöpften Lutheranern katholische
Nonnen zu Hilfe. Im Keller des Hauses stapelten sich die einfachen
Infanteristen, bis heftige Regenfälle die Kellerräume fluteten, und alle
Verletzten hinauf in den dritten Stock getragen werden mussten. In den oberen
Ebenen wurden bis dahin die oberen Chargen versorgt. Die damaligen Verhältnisse
wurden detailgetreu nachgestellt, auch die Kellertreppe. Der Schwerpunkt der
Ausstellung lag auf der medizinischen Versorgung der Soldaten und Offiziere. Auch
Originalfotos wurden gezeigt. Ich kannte und besitze derartige Bilder aus einem
anderen Krieg einer anderen Zeit. Und besonders kamen mir jene „lustigen“
Faschingsbilder in den Sinn, die mein Großvater beim Österreichischen
Bundesheer machen hatte lassen. Da lachte er fröhlich, den linken Arm in der
Schlinge und komplett verbunden. Ich hatte auch immer fröhlich gelacht, wenn
ich so getan habe, als käme ich nur schwer eine Treppe nach oben. Als Bub fand
ich Orry Main in der Fernsehserie „North and South“ ganz toll, nach dem
Bürgerkrieg, mit seinem eleganten Stock und seinem steifen Bein. Hätte ich mal
lieber mein Hirn benutzt, Patrick Swayze spielte eine Rolle, mein Großvater war
echt.
Keinen Steinwurf nach Süden vom
Seminar entfernt begann die West Confederate Avenue. Sie zog sich von Seminary
Ridge im Norden bis ans südliche Ende des historischen Schlachtfelds, bis nach
Warfield Ridge. Und diese Avenue verläuft exakt entlang der Stellungen der Army
of Northern Virginia. Wo ihre Artilleriebatterien aufgestellt worden waren,
standen auch heute die zeitgenössischen Kanonen. Über 400 waren an den
Originalstandorten über das Gelände verteilt, genauso viele wie 1863 zum
Einsatz kamen: Etwas mehr als 200 auf Unionsseite und zirka 190 bei den
Konföderierten. Wie auf Perlenschnüren aufgereiht, Lafette neben Lafette, Rohr
an Rohr. Oft soweit das Auge reichte. Entlang der West Confederate Avenue
mündeten die Alleebäume in die Pitzer Woods, in denen General James Longstreet
die Infanterie sammelte, um am 2. Juli gegen 4 Uhr nachmittags die Stellungen
der Union hinter Warfield Ridge im gegenüberliegenden Osten anzugreifen. Am
Straßenrand im Schatten der Bäume parkten, auch wie an einer Perlenschnur, die
Besucherautos. Pickup an Pickup, Muscle Car an Muscle Car. Polierter Lack an
poliertem Chrom. (Mattlack war keine Option.) Wo Bubenträume und Klischees wahr
wurden! Wir fuhren langsam an den auffälligen Fahrzeugen vorbei. Die
Nummerntafeln ließen keinen Zweifel offen, in wessen Hand auch 2018 diese Seite
des Schlachtfeldes war: North Carolina, Virginia, Texas, Georgia und Alabama.
Dieselben Staaten, die auch an den Gedenktafeln aufgelistet waren. Die Familien
ringsum waren die Nachfahren jener Männer, die vor 155 Jahren hier campiert
hatten. Juliane und ich stiegen auch aus. Mein Kleeblatt erregte keinerlei
Aufmerksamkeit. Stock stach Kappe. Diese Leute starrten nicht, machten keine
Kommentare. Einige Familien wurden von eigenen Militärhistorikern und
Nationalpark Guides begleitet.
Ich atmete durch und trat aus dem
Schatten in die Sonne über den Feldern von Gettysburg. Mir war bewusst, an
welchem Ort ich mich im Augenblick befand. Links vor mir erhob sich das North
Carolina Memorial und weit und winzig vor dem Horizont das Pennsylvania
Memorial auf dem Cemetery Ridge. Die unüberschaubare Weite aus Senken,
Steigungen, Zäunen und Findlingsmauern, das war jene Distanz, die am 3. Juli
1863 von den angreifenden Südstaatlern überwunden werden musste. Ich hörte den
Guides am North Carolina Memorial zu. Sie erzählten den ehrfurchtsstarren Buben
Abenteuergeschichten über die auf dem Denkmal abgebildeten Gestalten. Von dem
verwundeten Offizier, der selbst schweren Herzens zurück bleiben musste, aber seine
Männer weiter voran schickte. Und von dem tapferen Soldaten, dessen
Gesichtsausdruck uns schon verriet, dass man ihm nicht erklären musste, wo sein
Ziel lag. Dort drüben beim Zentrum der Unionsarmee auf Cemetery Hill. Vorwärts
und Hurra! Ich wandte mich angewidert ab und starrte ungläubig über das Feld.
Der Fünfzehnjährige, der ich einmal gewesen war, der wäre mitgerannt, mit einem
lauten und langen „Yeaah!“ Der Vierzigjährige hielt sich nur mit Mühe zurück,
die Ausführungen der Nationalparkführer nicht zu unterbrechen. Ich sah da
draußen keinen Ruhm, ich entdeckte nur den sicheren, den sinnlosen Tod. An den
Kanonen schwätzten sie weiter, in einem Ton, der sich nur geringfügig von der
Erzählweise von Piraten- und Lagerfeuergeschichten unterschied. Da wurden
Kanonen wie Spielzeug erklärt, und Knaben überschwänglich gelobt, weil sie ein
Streichholz erkannten und entzünden konnten. Das klingt zunächst albern, wer
aber schon einmal versucht hat, dieser Tage in den USA eine Packung
Streichhölzer zu bekommen weiß, dass das verdammt nochmal nicht einfach ist.
Ich verschränkte die Arme. Ich sah mich selbst und meinen Großvater vor dem
Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, wie er mir die Bedienung und
Funktionsweise von historischen Kanonen erklärt hatte. Sein Tonfall hörte sich
ganz anders als diese Typen an, die mir mit ihrem begeisternden Ohrenträufeln
alle Knöpfchen drückten. In der Stimme meines Großvaters war keine patriotische
Begeisterung zu hören gewesen, sondern die Warnung, dass wenn ich es an
Verstand und Respekt mangeln ließe und beim Bedienen einen Fehler machte, ich
dann unwiederbringlich tot sein würde.
Juliane wies mich darauf hin,
dass auch dieses Denkmal von den United
Daughters of the Confederacy errichtet worden war (gegründet 1894 in
Nashville, Tennessee). Im Gettysburg National Military Park gab es bis in die
1910er- und 1930iger-Jahre kein Denkmal für die Konföderierten. Die heutigen wurden
erst nach der Reconstruction Era errichtet, und nicht für Regimenter
wie bei den Unionstruppen, sondern für und von Bundesstaaten. Geldgeber waren
wie bei vielen anderen in den USA heute umstrittenen Bauwerken auch ebenso
diskussionswürdige Organisationen wie die United Daughters of the Confederacy.
Das Denkmal für die Soldaten aus Virginia und Robert E. Lee auf dem Seminary
Ridge war sogar noch größer als jenes für North Carolina. Die viel jüngeren
Denkmäler der Verlierer waren opulenter und prachtvoller als die älteren der
Sieger. Das Reiterstandbild des siegreichen George Gordon Meade gegenüber auf
Cemetery Hill nahm sich gegen das Robert E. Lees winzig aus. Nur das
Pennsylvania Memorial war und blieb das größte Erinnerungsmonument auf dem
Gelände. Das war in den Statuten festgeschrieben.
Es war die Generation der Enkel,
die diese Monumente errichteten. Die Enkelin Margret Mitchell setzte der
mündlichen Überlieferung zudem ein eigenes Denkmal: „Gone with the Wind“
(1936). Für eine verlorene Sache, die als „The
Lost Cause of the Confederacy“ sprichwörtlich wurde und ihrerseits Geschichte
schrieb.
Vom Virginia Memorial reichte der
Blick von Bodenverwerfungen und Zäunen relativ unbehindert über das, was später
am 3. Juli „Pickett´s Charge“ werden sollte. (Dazu später mehr.) Dort wo am
Horizont winzig die Kuppel des Pennsylvania Memorial zu sehen war, lagen
Cemetery Hill und Cemetery Ridge, wo das Zentrum der Verteidigungslinie aus
Unionstruppen unter Hancock und das Hauptquartier von General Meade gewesen
waren. Ich hörte es deutlich zwischen den Ohren, die Skulpturen flüsterten in
einer vertrauten Stimme zu mir: „Wie konnten wir nur verlieren? Wir waren so
gut!“ Als ich als Fünfzehnjähriger meinen Großvater fragte, auf welcher Seite des
Bürgerkriegs er wohl gestanden hätte, antwortete er: Auf Seiten der Kavaliere
des Südens, die bis zuletzt tapfer und ehrenvoll gegen die Übermacht des
reichen Nordens gekämpft hatten. Das leuchtete mir ein. Der Vierzigjährige sah
diese Dinge jetzt anders. Und hier wurde es schmerzhaft:
Auch an einem anderen Ort dieser
Welt erzog eine Kriegsgeneration eine Deckergeneration, gab es eine Reconstruction Era, einen Wiederaufbau. Deckergeneration und
traumatisierte Kriegskinder wurden in Wahrheit vor keine Wahl gestellt, sie
sollten die Taten der Eltern entweder rechtfertigen und verharmlosen, oder
vergessen und damit ungeschehen machen. Ein Großteil tat so, als ginge das
Vergangene sie nichts an, die Schuldigen waren ja bloß die Anderen, der
politische Gegner. Andere weigerten sich, überhaupt zurückzuschauen und
erstarrten im Vorwärtsblicken zur Salzsäule. Oder die eigenen Leute wurden als
kleine Mitläufer verharmlost. Früher war ja alles ganz anders. Aber oje, etwas
später wurden die Kriegsenkel geboren, Menschen, die wie Margret Mitchell mit
Erzählungen aus einer verlorenen, gedemütigten Welt aufgewachsen waren, d.h. unter
dem Einfluss einer schwärenden Wunde. Und diese Wunde sollte zu Fragen provozieren,
wiederum genau wie in der Artussage.
Die verlorene Welt, von der ich
immer wieder hörte, das waren Nordafrika einerseits und Ostpreußen
andererseits. Der Verlust von Ehre und Existenz trotz aufopfernden Kampfes
wurde jedenfalls für mich so real wie kaum etwas anderes. Auch die
Flüchtlingstrecks. In mir brannte nicht Atlanta, in mir brannten Rastenburg und
El Alamein. Die Wunde wurde erfolgreich vererbt. Und weit und breit war kein
reiner Tor, kein Ritter Parsifal, in Sicht, der fragte, woher die Schmerzen
kamen, um sie zu beenden. Eine Lady Parsifal wäre mir eh lieber gewesen. Aber
ganz im Gegenteil: Dass die Verlierer auch immer die Ruhe der Sieger,
Gewinnler, Profiteure und Verdränger, kurz: der neuen sozialen Ordnung, stören
mussten. Eine unangenehme und lästige Eigenschaft, die sie mit den Opfern von
Genoziden und Sklaverei gemeinsam haben. Und als der Leidensdruck für mich unerträglich
wurde, musste ich mir selbst einen Arzt suchen und meine Wunden verstehen
lernen. Vor allem, dass die Ecksteine der noblen Haltung auf Unrecht gegründet
lagen. Wie die gerade-doch-nicht-tödliche Wunde des Gralskönigs wurzelte auch
diese Verletzung in Verführung und Sünde. Darin unterschied sich der siechende
Amfortas nicht vom Southern Chevalier, der nicht vom Alt-Österreichischen
Soldaten, und der wiederum nicht vom Preußischen Junker. Heute ist der Schatten
ein Teil von mir, und ich sehe dem Irrtum meiner Großeltern ohne Furcht ins
Auge. Während das verordnete Schweigen und Umdeuten in der breiten Öffentlichkeit
eine ordentliche Anamnese und Therapie verhinderte, eiterte die Wunde an vielen
anderen unter der Oberfläche weiter. Immer mehr Lagen Make-up und Abdeckcreme
darüber geschminkt. Die Verklärung breitete sich darunter wie Metastasen aus.
Und wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund endlich über. Und wovor ich
mich angesichts dieser Denkmäler in Gettysburg plötzlich fürchtete, das war ein
kluges warnendes Wort einer meiner Universitätslehrer. Sinngemäß lautete es: Einmal, wir werden es vielleicht nicht mehr
erleben, wird der Tag kommen, an dem man dem GRÖFAZ und der Wehrmacht in
Mitteleuropa Monumente errichten wird. Für die größte Ausdehnung des Deutschen
Reiches in der Geschichte. Und für die verlorene Sache. Sowas kommt von sowas.
Aber diese dunklen Nebelschwaden
hatten ihre wahre Form noch nicht enthüllt, als ich mit Juliane im Nationalpark
unterwegs gewesen war. Die schwankenden Gestalten nahten sich erst zuhause
wieder. In der Nacht, wie alle Gespenster. An diesem sonnigen Tag in
Pennsylvania überwog die Freude über das Erlebte. Juliane und ich kletterten
wieder in unseren „Al“ und fuhren langsam entlang der West Confederate Avenue
weiter nach Süden. Wo sich damals die Konföderierten sammelten und formierten,
saß heute ein Motorradfahrer im Schatten der hohen Bäume und aß sein
mitgebrachtes Wurstbrot. Das war auf dem kleinen Parkplatz kurz vor der
Frontlinie auf dem Warfield Ridge, wo gegen 4 Uhr nachmittags des 2. Juli
Longstreets (CSA) Angriff auf die Unionstruppen begann. Am Nachmittag, damit
die Infanterie aus Texas und Alabama bei ihrem Ansturm die Sonne im Rücken
hatte. Und ab hier begann der steile Anstieg auf die Hügelkette, die damals von
der Unionsarmee gehalten wurde. Der größte von ihnen war und ist Big Round Top.
Aber er ist nicht der berühmteste. Einer meiner ganz persönlichen und auch
tatsächlichen Helden der Schlacht von Gettysburg (und des weiteren
Bürgerkriegs) war bzw. ist Joshua Lawrence Chamberlain. Am 2. Juli 1863 war er
der Colonel des 20th of Maine, einem Infanterieregiment der Unionsarmee. Deren
Stellung lag an der linken Flanke von Little Round Top. Dieser Gipfel ist der
berühmteste, wegen Chamberlain und des 20th of Maine. Und dass wir angekommen
waren, bemerkten wir ganz einfach daran, dass die Parkplätze voll und auch die
Straßenseiten zugeparkt waren. Von ganz anderen Autotypen mit Kennzeichen aus
unterschiedlichen Bundesstaaten. Überwogen gegenüber im Westen des Parks die
Zulassungen von südlich der Mason-Dixon-Linie, waren die Besucher hier im Osten
gut durchmischt. Die Stimmung war keineswegs angespannt. Selbst als Männer und
Frauen mit blauen Unionskappen an Autos vorbeikamen, die mit kleinen Versionen
des „Blood Stained Banner“ geschmückt waren. Die sah man öfters. Auch mein
Kleeblatt erregte keinerlei Aufmerksamkeit.
Wir hatten Glück und fanden
relativ rasch eine äußerst günstige Parklücke. Das lag wohl auch daran, dass
ich mich als Wiener in eine Lücke zu quetschen traute, um die alle anderen hier
einen großen Bogen machten. Wir konnten allerdings alle beide bequem aussteigen
und nach wenigen Schritten durch den Wald und an runden Granitfelsen vorbei,
überblickten wir das Panorama. Vom Little Round Top öffnete sich der Blick über
Devil´s Den, Valley of Death, The Wheatfield, The Peach Orchard und ganz rechts
bzw. nördlich Plum Run. "Plum Run" bedeutete auch hier, was im
vor-republikanischen Alt-österreichisch einmal "Zwetschgenrummel"
geheißen hatte. Der Begriff "Zwetschgenrummel" stammte aus dem Siebenjährigen
Krieg, und er beschrieb die um ihr Leben rennenden preußischen Soldaten. An
diesem Ort meinte "Plum Run" ganz freundlich die blau gekleideten Unionstruppen.
Hier wird lustig beschrieben, was in Wahrheit ein mörderischer Blutzoll war.
Aber die Landschaft war unvergleichlich. Da wir uns auf riesigen Granitfelsen
bewegten – ich tippe auf Wollsackverwitterung und/oder Gletscheraktivität –,
beschwerten sich einige US-amerikanische Familienväter über die „mangelnde
Sicherheit“. Sie verlangten Geländer, Warnschilder und dergleichen. Davon wären
meiner Meinung nach Ausblick und Stimmung völlig ruiniert. Ich wäre als
Gehbeeinträchtigter nicht auf die Idee gekommen. Kaum hatte ich meinen
abfälligen Gedanken zu Ende, rutschte neben mir eine Leinenhose mit
dunkelblauen Polohemd aus. Segelschuh ohne Sohlenprofil am Fuß. Soviel also
dazu. Ich verstand augenblicklich, dass Amerikaner und ich unterschiedliche
Vorstellungen und Konzepte von Sicherheit haben mussten.
Juliane und ich spazierten zum
südlichen Ende des Gipfels. Hier stand das Denkmal für die New York-Infanterie.
Nach dem Pennsylvania-Memorial lange Zeit das höchste auf dem Gelände. Es sah
im Wesentlich aus wie ein Bismarck-Turm. Also nicht besonders hübsch. Aber es
war allen Gefallenen der New Yorker Infanterie gewidmet. Dass New York das
größte Regimentsdenkmal haben musste, war eine Prestigefrage. Klischees kamen
ja wie gesagt von irgendwoher. Also wandten sich die Organisatoren an den
reichsten der ehemaligen Kameraden, den späteren Erfinder von American Express.
Er bezahlte den Repräsentationsbau. Ich glaube nicht, dass ihm und seinen
Kameraden gefallen hätte, was im zwanzigsten Jahrhundert gegenüber errichtet
worden war. Juliane stieg die schmale Treppe nach oben und fotografierte den
Rundblick für mich. Ich wartete derweil im kühlen Schatten im Inneren des
Denkmals. Danach wollte ich noch einmal zurück auf die andere Seite.
Noch einmal der Blick über The
Wheatfield und The Peach Orchard. Auf dem größten Felsenrundling die Statue von
Brig. Gen. Gouverneur K. Warren. Dieser Mann war einer von jenen
Unions-Kommandeuren, die beim Zusehen der Ereignisse des 2. Julis 1863 ein
äußerst ungutes Gefühl bekamen. In Gettysburg begann sich an diesem zweiten Tag
ein Muster abzuzeichnen: Die Konföderierten stürmten aus unterlegenen
Positionen gegen höher und vorteilhafter gelegene Angriffsziele an. Völlig
entfesselt, betrunken von ihren bisherigen Erfolgen. Das Oberkommando, d.h.
Meade, schickte Infanterie entgegen. Diese Einheiten wurden aufgerieben
und/oder zurückgedrängt. Und in den Unionsoffizieren brüllte es laut: „O nein!
Nicht schon wieder wie vor einem Monat! Kein zweites Chancellorsville!“ Die
verheerende Niederlage schien sich Punkt für Punkt vor ihren Augen zu
wiederholen. Und Warren wandte sich an Chamberlain mit dem klaren Befehl, er
hätte die linke Flanke auf dem Little Round Top zu halten, koste es, was es
wolle. Fielen die Hügel im Südosten, fiel Gettysburg, fiel die Army of the
Potomac.
Den Ort dieses Gefechtes wollte
ich natürlich leibhaftig sehen und spüren. Er lag etwas abseits, wir mussten
ein schönes Stück durch den Wald. Außer Juliane und mir hatten sich nur ein
Veteran und seine Frau, zwei Bürgerkriegsenthusiasten aus dem Süden und zwei
Frauen hierher verirrt. Gut so, dass gab mir die Gelegenheit, den Platz in Ruhe
auf mich wirken zu lassen. Hier, und nicht oben beim Parkplatz, wo
Nationalpark-Guides und Uniformierte die Geschichte erzählten, fand der alles
entscheidende Augenblick des 2. Juli 1863 an der linken Flanke des Little Round
Top statt: Das 20th of Maine unter Joshua L. Chamberlain wehrte den Angriff der
überlegenen Infanterie von Alabama und Texas ab. Gedenksteine bezeichneten das
rechte Ende ihrer Stellung, das Zentrum, wo die "Colours" standen,
die Flagge, und das linke Ende der Stellung. Der größte Stein bezeichnete die
Mitte, wo neben der Fahne wahrscheinlich Chamberlain, der spätere Präsident des
Bowdoin Colleges und Gouverneur von Maine, gekämpft hatte. Chamberlain gedachte
man auf dem Sockel mit einer kleinen Figur aus dem Andenkenladen und Dollar-Cent-Münzen
mit seinem Porträt darauf. Woran lag das Besondere an seinem Einsatz? Weil
seinen Männern die Munition ausging, befahl er einen Bayonetangriff. Schulter
an Schulter stürmte das 20 th of Maine den Hügel hinunter und überrumpelte die
Angreifer völlig und entscheidend. Faszinierend für mich war, dass diese Taktik
bei der k. k. Armee üblich gewesen war. Zum letzten Mal wurde sie 1866 bei
Königgrätz angewandt, mit katastrophalen Ausgang. Anders als die Konföderierten
schossen die Preußen unter ihrem Kronprinz mit ihren Zündnadelgewehren die
Österreicher einfach über den Haufen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte,
eine völlig andere „lost cause“. Wie sich die Welt ohne Deutsches Reich
entwickelt hätte, werden wir nie erfahren.
Juliane und ich setzten unsere
Autotour fort. Nachdem ich mich ein wenig ausrasten hatte müssen, ging es
weiter nach Cemetery Ridge. Dort waren sie wenigstens als Regimentssymbol vorhanden,
die Native Americans. Und zwar in Form des Denkmals für das Tammany Regiment, dem 42nd New York
Regiment.
Tammany Hall war nicht nur
ein Gebäude, sondern auch eine New Yorker Seilschaft der Demokratischen Partei.
Benannt wurden beide nach Tamenend, amerikanisch verballhornt zu Tammany, einem
Chief der Lenni-Lenape Nation. Ursprünglich um und in Philadelphia beheimatet, im
östlichen Pennsylvania, in New Jersey, in New York City und bis nach Long
Island, wurden die Lenni-Lenape von weißen Einwanderern und Siedlern nach
Oklahoma und Wisconsin verdrängt. Tamenend galt schon zu Lebzeiten (1625-1701)
als Symbolfigur für Verhandlungen und friedlichen Konsens. Schon irgendwie
seltsam, dass ausgerechnet sein Porträt das Kriegerdenkmal eines Regiments aus
New York auf einem Schlachtfeld zierte, das bloß noch mit dem Nachfolgerstaat
seiner Nation zu tun hatte. Natives kämpften auf beiden Seiten des
Bürgerkriegs. Bei der Union allerdings in den Freiwilligenregimentern für
Farbige, darunter auch Mashantucket Pequot aus Connecticut.
Nach einem Imbiss im
Besucherzentrum und der zweiten Runde durch den Nationalpark, parkten wir unseren
„Al“ im Herzen der Unionstruppen auf dem Cemetery Ridge. Direkt beim
Pennsylvania Memorial. Das größte der Denkmäler im Nationalpark. Und fast alle
Namen waren deutsch. Die Gefallenenlisten lasen sich wie die Einwohnerregister
einer deutsch-österreichischen Kleinstadt. Das Erbe der Pennsylvania Germans.
Juliane las einige Namen laut vor. Sofort wurden wir argwöhnisch aus den
Augenwinkeln von oben bis unten gemustert. Ja, danke an die beiden Weltkriege,
dass diese Tradition den Bach runter ist...
Vom Pennsylvania Memorial bogen
wir diesmal ab in den weniger berühmten, aber genauso mörderischen Teil der
Schlacht im Osten: In das malerische Spangler´s Spring. Die namensgebende
Quelle, von einem gemauerten Schloss eingefasst, führt noch immer Wasser. An
jeder Seite jeweils ein Blumenstrauß. Einmal mit Battle Flag, einmal mit Stars
and Stripes. Vor dem Massaker ein beliebter Picknickort. Und immer noch
pittoresk. Graue kugelige Felsen lagen in einer saftig grünen Wiese unter den
Wipfeln von schlanken Laubbäumen. Sonnenlicht und Schatten wechselten sich ab,
tauchten die Szenerie in flirrendes Licht. Wechselnde Verhältnisse, die mich
fast die Straße aus den Augen verlieren hatten lassen. Vielen Dank an dieser
Stelle an mein Unbewusstes, es machte mir auf der Tour nicht nur Bedenken, ich
stand schon auf der Bremse, als Juliane alarmiert quietschte. Wäre ich gerade
weiter gefahren, nicht die Kurve, ich hätte zwei oder drei Regimentsdenkmäler umgelegt,
an der nächsten Kurve einen parkenden Familienvan gerammt, bis ich an einem
niedlichen Felsen zum Stehen gekommen wäre. Auf dem Dach. Da hätten sich die 15
Dollar Aufpreis für den Vollkasko gerechnet. Aber nichts geschehen, alles gut.
Wir hatten eine Station der
Autotour bisher vor uns hergeschoben: High Water Mark. Der "Höhepunkt"
der Schlacht und der Tour. Von Kanonen und aufgeschichteten Kugeln flankiert,
eine Terrasse mit Steinplatten gepflastert. Darauf lag aufgeschlagen ein großes
bronzenes Buch auf einem Steinsockel. Hinter dem Buch ein eingezäunter Hain.
Wir befanden uns im Zentrum der Unionslinien auf Cemetary Hill. Gegenüber, von
der Abendsonne in goldenes Licht getaucht, sahen wir die Bäume an der West
Confederate Avenue und Pitzer Woods, wo sich vor 155 Jahren Longstreet´s (CSA)
Infanterie zum letzten und entscheidenden Schlag gesammelt hatte.
Am 3. Juli 1863 eröffnete die
konföderierte Artillerie ein zweistündiges Bombardement der Unionstruppen auf
Cemetary Ridge und Cemetary Hill. Die Unionsartillerie antwortete unverzüglich
und pausenlos. Als die konföderierte Artillerie verstummte, ahnten die
erfahrenen Kommandanten der Unionsarmee, was im nächsten Moment buchstäblich
auf sie zukommen sollte: Robert E. Lee befahl den Sturmangriff auf die
schwächste Stelle seines Gegners George Gordon Meade, auf sein Zentrum. General
Longstreet schickte 12 000 Mann über die Felder, die allgemein als großartiger
Grund zum Kämpfen gepriesen wurden und werden. Rund 7000 Unionssoldaten und der
US-Artillerie entgegen. Und ich bin überzeugt, nach allem, was ich hier gesehen
und gelernt habe, beide erwarteten, Lee und Longstreet, dass ihnen die
Unionstruppen entgegenkamen und sich der offenen Feldschlacht stellten. Aber
Meade war nicht der Mann, der die Fehler seiner Vorgänger wiederholte. Die
Unionstruppen hielten ihre Stellungen, bewegten sich nicht und feuerten aus
allen Rohren. Zuletzt mit Streumunition auf Infanteriereihen in rund 4 Meter
Distanz. Von den Männern blieb nichts als rosafarbener Pulverdampf. Der Angriff
über die ungeheure Distanz und ohne jede Deckung kostete 5000 Menschenleben in
einer Stunde! Diese Hybris, dieser Wahnsinn, ging als "Pickett´s Charge"
in die Geschichte ein. Es war Pickett´s Division, die hier bis auf den letzten
Mann aufgerieben wurde. Der kleine umzäunte Hain war ihr Massengrab.
Als mir das bewusst wurde, konnte
ich mich nicht mehr länger zurückhalten. Ich erinnerte mich an die
Zickzacknarben, die Schusskanäle und die aufgrund dieser schweren
Armverletzungen zusammengezogenen Finger an der linken Hand meines Großvaters.
Eine Granate hatte seine linke Körperseite, Schulter und Oberarm komplett
zerfetzt. Das linke Bein unter einer Geschützlafette eingeklemmt. Als er mit
diesen Verletzungen heimkam, erfuhr er dort, dass in seiner Abwesenheit sein
Bruder in der Euthanasieanstalt Schloss Hartheim vergast worden war. Obwohl
mich Juliane im Auto vor dem Aussteigen noch einmal abgeprüft hatte, „auf
wessen Seite wir stehen“, und ich die Prüfung bestanden hatte, jetzt entließ
ich so lange und so laut ich konnte, einen Rebell Yell in die Dämmerung. Mein
„Yeaah!“ war noch nicht verklungen, bekam ich Antwort von der anderen Seite. Und
wenn ich daran denke, bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut. Juliane meinte,
dass sei typisch: Sie würden sich niemals trauen anzufangen, aber mit machten
sie sofort.
Zum Abschluss, das bescheidene
Reiterdenkmal jenes Generals der am fünften Tag seiner Amtszeit den
wahrscheinlich wichtigsten Sieg des Bürgerkriegs und der US-amerikanischen
Geschichte erstritten hat: George Gordon Meade. Zum Dank wurde er nicht einmal
am Ort seines größten Sieges erkannt. Sein Reiterstandbild stand auf dem Platz
seines damaligen Hauptquartiers. Die US-amerikanischen Besucher verwechselten
ihn mit Ulysses S. Grant. Für wen ich ihn gehalten habe, trau ich mir fast
nicht sagen, ich hielt ihn auf den ersten Blick für Lee...
Fortsetzung folgt…