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Sonntag, 5. August 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 37)


Teil 37: Stolz und Demütigung/ Gettysburg, PA (Teil 2)


Über die Nachtruhe in unserem Hotel am Stadtrand von Gettysburg weiß ich nichts zu berichten, ich war so fertig, ich habe nach einer ausführlichen Dusche schwarz geträumt. Juliane und ich wurden frühmorgens sanft vom Knattern der Motorräder in der Hotelauffahrt und auf dem Parkplatz geweckt. Gut hörbar, ohne dem aus der Auspuffanlage ausgebauten Schalldämpfer. Wer möchte denn nicht den Verbrauch seines Vehikels heben und die Motorleistung schmälern? Verblüfft stellte ich fest, dass es sich bei den Motorrädern zu keinem geringen Anteil um Dreiräder mit aufgebockten Ledersitzgarnituren handelte! Ihre Besitzer waren allesamt im Pensions- bzw. Rentenalter oder knapp davor. Daran zeigte sich, dass nicht nur die katholische Kirche und die Bürgerkriegsdarsteller, sondern auch die Biker in den USA seit den 1990igern ein ernstes Nachwuchsproblem hatten. Jedenfalls die organisierten, die sich alle Jahre wieder im Juli in Gettysburg trafen. Vorbei schienen die Tage von „Easy Rider“ (1969) und von Peter Fonda, Dennis Hopper und Kollegen. Und die rassigen Mädels auf dem Sozius waren auch schon etwas runder um Hüften und Taille, trugen einen „fetzigen“ bunten Kurzhaarschnitt und bewegten sich nicht so, als wäre diese Aufmachung und Adjustierung (Bandana, Boots, Jeansweste und Hard Rock-T-Shirt) ihre übliche. Tatsächlich beschwerten sich ein paar von ihnen im Aufzug (Lift, nicht Gewandung), nicht auf Leuteansammlungen aufgelegt zu sein. Warum waren sie dann hier? (Eine Frau am Lenker, nicht auf dem Sozius, habe ich wirklich und beim besten Willen nicht gesehen. Meine Google-Suche nach „Bikerin“ lieferte mir als ersten Treffer eine junge Frau auf einer Maschine mit Wiener (!) Kennzeichen. Da ging es hin, das gehegte Klischee.) Im Alltag, so schien es, gingen diese Ladies und ihre herbstlichen „Bad Boys“ es etwas „bürgerlicher“ an. Diese Biker hörten Countrymusik und wohnten im Hotel. (Von ihrem Musikgeschmack erfuhr ich von einem Uberfahrer, der wie ich lieber Metal hörte.) Umgekehrt, wer außer schon etwas gesetzteren Herrschaften konnte sich eine Harley Davidson leisten? Fast schon unnötig zu sagen, dass auch von ihnen die wenigsten Helme trugen. An Vollvisierhelme kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Und dabei muss ich jetzt wieder an die spitzzüngige Feststellung meiner Gattin denken, dass, wer keine ordentliche Krankenversicherung hat, auch keinen Sturzhelm braucht. Immerhin bescherten die versammelten Pferdestärken den wirklichen Rössern ein paar Tage Urlaub auf der Weide und im Stall.

Nachdem unsere Kutschenfahrt am ersten Tag leider nicht so ausführlich ausgefallen war, wie wir uns das gewünscht und vorgestellt hatten – Wofür man allerdings niemanden verantwortlich machen konnte, am allerwenigstens die Pferde. Aber vielleicht einen Wagenrad-Hersteller in Kanada? Sofern es ihn wirklich gab? –, hatte meine großartige Frau für unseren zweiten Tag in Gettysburg eine bessere Idee: Das ganze Schlachtfeld war mit einer Autotour von jeder Landmarke zur nächsten Sehenswürdigkeit erschlossen. Chronologisch gemäß der historischen Ereignisse der Bürgerkriegsschlacht von Punkt 1 „McPherson Ridge“ bis Punkt 16 „National Cemetery“ geordnet. Wir wollten uns also wie in den 1960igern in die 1860iger versetzen und ein wenig Autowandern. Aber dazu brauchten wir einen Mietwagen. Und den organisierte Juliane über Nacht mittels Smartphone und Internet. Da wir uns in den USA befanden, haben wir kapitalistisch gedacht, und das war ganz falsch.

Wir wollten das kleinste zu mietende Fahrzeug ausborgen, zwei Anbieter kamen in Frage: Enterprise und Hertz. Hertz war ein klein wenig teurer, hatte die bessere Adresse, sollte gemäß materialistischer Logik daher auch verlässlicher sein. Aber so läuft es in der Welt, der Mensch plant und Gott und/oder das Universum lacht. Wir fuhren mit einem Uber ins örtliche Marriot noch etwas weiter außerhalb von Gettysburg, wo Hertz seine Niederlassung betrieb. Der dortige Mitarbeiter ließ uns erst mal eine halbe Stunde in der feudalen Hotellobby warten, weil er angeblich gerade ein Auto übergab. Die Polstersessel waren bequem, die Ausstattung im feinsten Schweinsbarock imitierte Bürgerkriegs- und Oval Office-Atmosphäre vermittels dunkelblauem Spannteppich mit US-Adler. Unter dem zentralen Kristallluster stand eine Bürgerkriegskanone, das absurd polierte Replikat einer Napoleonic Gun. Immer wieder schlenderten alte Herren in pastellfarbigen Polohemden und hellen Bermudas vorbei, gefolgt von ihren Gattinnen mit Taftfrisur, die sich hier zu einer Oldtimerrally trafen. Die kommende Begegnung würde sicher herzerwärmend: Die Opas und Omas im Classic Car, die Vatis und Muttis auf der Harley, und Enkel und Urenkelinnen als Claqueure auf dem Gehsteig.

Als der leicht untersetzte junge Mann im Firmenlogogeschmückten Polohemd (Schwarz-Gelb auf Hellgrau) herbeischlurfte, ahnten Juliane und ich schon Übles. Langer Rede gar kein Sinn: Er gab uns kein Auto. Um uns das mitzuteilen, hatte er uns extra herkommen und in der Lobby warten lassen. Der Grund: Führerschein und Kreditkarte waren nicht auf dieselbe Person ausgestellt. So verlangten es die Firmenvorschriften. Ich hatte meine Kreditkarte in Connecticut. Juliane unterstrich, dass sie meine Ehefrau ist und die ganze Zeit über neben mir sitzen würde. Der Jüngling griff zum Telefonhörer, um seinen Vorgesetzten anzurufen. Allerdings nicht, wie wir naiven Europäer annahmen, um die Sache in unserem Sinne kulant zu lösen, sondern um sich schmunzelnd mit dem Mann am anderen Ende der Leitung über die Unmöglichkeit unseres Anliegens zu erheitern. Für Juliane war spätestens jetzt Hertz für immer gestorben. Sie stand auf und ging. Ich fragte den Burschen höflich, ob Geld nicht Geld wäre? Natürlich, aber die Guidelines, wegen Safety und Security und so. Ja ja, so so! Bestimmt ging es dabei nicht um meine Sicherheit. Soviel also zum Kapitalismus und dem freien Westen! Zahlungsfähig, verheiratet, gültige Dokumente und kreditwürdig, alles egal? Alle propagierten Werte der US-amerikanischen „Freiheit“ auf dem Altar der angeblichen „Sicherheit“ geopfert? Dem jungen Mann war meine Polemik natürlich völlig wurscht, das war mir eh klar. Ihn interessierten nur die Vorgaben seines Jobs. Die Zufriedenheit seines Arbeitgebers war ihm wichtiger als die der Kunden. Und was hatte er mit seinem Verhalten gewonnen? Was hatte er jetzt davon? Juliane war zornig aus dem Hotel gestürmt, hatte die Konkurrenz angerufen, und innerhalb von fünf Minuten ein Auto gemietet! Zwei Kunden für immer verloren, Enterprise machte das Geschäft, Hertz und ihr Filialbetreuer haben eine blöde Nachrede! Was jedoch das Schlimmste daran sein wird, der ganze Ärger wird bei dem Jungen wirkungslos verpuffen, und uns wurden zwei Stunden Lebenszeit von unsinniger- und kapitalismuswidriger Firmenbürokratie gestohlen.

Auf der Uber-Fahrt in das Industriegebiet, das mich herzerwärmend an die Automeile Tulln erinnerte, erfuhren wir, dass alle Ortsansässigen nur zu Enterprise gingen, wenn sie ein Mietauto brauchten. Wir hätten uns also gleich an diesen Anbieter wenden sollen. Wir bekamen sogar ein kostenloses Upgrade, und ich fuhr in einem extra für mich gewaschenen Dodge-Van vom Parkplatz. Ich hätte sogar einen Ford Explorer haben können, aber was sollte ich mit so einem Schlachtschiff anfangen?

Es waren Erlebnisse wie dieses, oder der jedes Mal genau gleich und verlässlich wiederkehrende Ärger beim Refill eines meiner Medikamente, die in mir die Erinnerung an meinen Großvater weckten. Wie er in sich zusammengesunken in seinem Polstersessel im Wohnzimmer seiner dritten Frau saß und mich mit traurigem Gesicht fragte: „Wie konnten wir nur verlieren? Wir waren so gut!“ Und wider besseres Wissen und Gewissen fragte ich mich in meinem Ärger über diese Widerstände und vor sich hergetragener Ignoranz, wie die USA ihren Weltmachtstatus erlangen und dieses Image weltweit aufrechterhalten konnten? Und als ich in meinem gemieteten Dodge, den ich liebevoll „Al“ nannte (nach Al Bundy), an all den Konföderierten-Fahnen in Gettysburg vorbei fuhr, wurde mir klar, dass sich dieselbe Frage auch einige andere Nachkommen auf dieser Welt stellten. Nur mit anderen Vorzeichen und Symbolen. Und vor meinem geistigem Auge sah ich all die Großväter von damals im Süden, die ihren Enkelkindern dieselbe Frage stellten: „Wie konnten wir nur verlieren? Wir waren so gut!“ Enkeltöchtern wie Margret Mitchell.

Und mich beschlich das ungute Gefühl, dass die Antwort auf diese Frage im Süden der USA und in der Mitte von Europa gleich lautete. Und diese Antwort war auch der Grund, warum die Lieder der Iren auf beiden Seiten des Bürgerkriegs bis heute gesungen wurden, aber die Stimmen der „Germans“ verstummt waren. Und heute jedes Jahr ganze Regimenter aus Deutschland mutmaßlich für die andere Seite als ihre Vorfahren zum Bürgerkriegsspielen nach Gettysburg reisten.

Nach dem Ende eines Krieges herrschte stets Uneinigkeit für die Ursachen und Gründe seines Ausgangs. Eine „Dolchstoßlegende“ war dabei immer wieder recht schnell zur Hand. In den meisten Fällen war die Opposition innerhalb der eigenen Reihen an der Niederlage schuld. Im Fall des US-Bürgerkriegs allen voran die so genannten „Copperheads“, Demokraten und bekennende Kriegsgegner, wie die namensgebende Giftschlange im Nordosten der USA beheimatet. (Wer jetzt aber von gegenwärtigen politischen Vorurteilen gelenkt denkt, dass diese Fraktion sympathisch gewesen wäre, der irrt. Diese Leute waren Anti-Abolitionisten.) Einig waren sich Militärhistoriker, vor allem mit Diensterfahrung, darüber, wie eine Schlacht oder ein Krieg anfing: Zwei x-beliebige Typen verloren die Nerven und schossen aufeinander. Diese simple und uralte Erkenntnis findet sich schon in der klassischen (noch nicht von Guy Ritchie als Blockbuster-Film hingemordeten) Artus-Sage. Die finale Schlacht zwischen König Artus und seinem Sohn (und Neffen!) Mordred begann, weil ein Schildknappe vor einer Giftschlange zu seinen Füßen erschrak und sein Schwert zog. (Wir bemerken das psychologische Muster in der Allegorie…) Namen und Dienstränge der Männer, die die ersten Schüsse auf Fort Sumter und in Gettysburg abgaben, sind bis heute bekannt. Waren es im April 1861, zu Kriegsbeginn, Konföderierte, war es am 1. Juli 1863 ein Leutnant der US-Kavallerie, der mit einem geborgten Karabiner gegen 8 Uhr morgens auf die in unmittelbarer Nähe auf der Landstraße vorbeimarschierende konföderierte Infanterie schoss: Marcellus E. Jones. Von einem Zaun auf dem McPherson Ridge aus. Und auf der Chambersburg Pike fand sich rasch jemand, wahrscheinlich unausgeschlafen und mit müden Füßen, der das Feuer erwiderte. Damit begann das dreitägige Gemetzel von Gettysburg, das zum endgültigen Untergang einer überholten und unmenschlichen Lebensweise führen sollte. Nachdem sein gekrümmter Finger am Abzug zehntausenden Männern, einer unbeteiligten Zivilistin und ungezählten Pferden und Maultieren das Leben gekostet hatte, starb er hochgeehrt in hohem Alter an der Wende zum nächsten Jahrhundert (mit 70, am 9. Oktober 1900 in Illinois). Den höchsten Blutzoll zahlte wie immer die Infanterie beider Seiten. Kein Wunder, dass unter ihnen das Scherzwort kursierte: Wer hätte schon jemals einen toten Kavalleristen gesehen?Gott liebt die Infanterie, hieß das entsprechend im deutschsprachigen Raum.

In der Infanterie kämpfte, wie der ältere Name ungeschönt und weniger verschlüsselt verriet, das „Fußvolk“. Einfache Männer auf Schusters Rappen aus dem einfachen Volk mit einfacher Bewaffnung. Und dank der seit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts neu eingeführten Volksarmee auch in sehr großer Zahl. Die Zeit der buntuniformierten und prestigeträchtigen Experten- bzw. Berufsarmeen war seit den Napoleonischen Kriegen (und allerspätestens dem Krimkrieg) endgültig vorbei. Jetzt holten die Anwerber buchstäblich jeden (damals nur Männer, heute auch Frauen) von der Straße zum Dienst an der Waffe. Unnötig zu sagen, dass es die Armee war und ist, die für die so genannten bildungsfernen und sozial schlecht gestellten und/oder ausgegrenzten Menschen ein Ticket aus der Misere bedeutete und bedeutet: Sold, Ausbildung und Bildung. Aber der Einsatz gestaltete sich im Ernstfall als „Kanonenfutter“ (ein weiterer ungeschönter alter Name) in Massenangriffen. Wovon es in Gettysburg eine Menge geben sollte. Und mindestens einen bis heute legendären. Es starben mehr einfache Leute denn je in den so genannten modernen Kriegen, von denen der US-Bürgerkrieg als der erste gilt, und der WKII als der bislang größte. Möge dieser Rekord möglichst lange ungebrochen bleiben, bitte.

Als wir uns an Bord unseres „Al“ in den Verkehr einreihten, wurde unsere Beobachtung der letzten Tage noch nachvollziehbarer: Auf dem Land, in diesem Fall in Pennsylvania, waren wir von Veteranen und ehemaligen Soldatinnen umgeben. Auf den, sagen wir einmal, „normalen“ Autos, d.h. der durchschnittlichen PKWs und leistbaren Vans, klebten regelmäßig Aufkleber der US-Armee. Diese Sticker verkündeten, dass der Wagenhalter oder die Fahrerin entweder selbst gedient hatten, oder eines ihrer Kinder. Im zweiten Fall stand da z.B. „Proud Mom of a Soldier“ am Heck des Wagens oder gut sichtbar an der Seite. Wir waren auf unseren Ausflügen schon an mehreren Rekrutierungsbüros vorbeigekommen, auch in New York City mitten auf dem Time Square. Die Werber rührten wie anno dazumal die Trommel, und viele folgten ihrem Ruf. Genau wie es mein Großvater aus Maria Enzersdorf kurz vor dem Ende der Ersten Republik getan hatte, nach dem Bürgerkrieg, nachdem er sein soziales und wirtschaftliches Leben in eine Sackgasse gelenkt hatte.

Entsprechend und entgegen dem Plan der Autotour begannen Juliane und ich unsere Erkundungstour über das Schlachtfeld von Gettysburg im Norden bei Station 2, am Eternal Light Peace Memorial. Am 1. Juli 1863 griffen von hier die Konföderierten an und drängten die Unionstruppen von den McPherson und Oak Ridges in den Süden der Stadt zurück, auf Culps und Cemetary Hill. 75 Jahre nach der Schlacht richteten über 1800 Veteranen hier einen Obelisken auf, an dessen Spitze seither in einer Schale eine Flamme brannte, für „Peace Eternal in a Nation United“ („Ewigen Frieden in einer Vereinten Nation“).

Von hier aus fuhren wir weiter zum Lutherischen Seminar, dem ersten und ältesten durchgehend betriebenen in den USA. Im historischen Gebäude, von dessen Kuppel General Buford (USA) die heranrückende konföderierte Armee beobachtete, ist heute das Seminary Ridge Museum untergebracht. Vor der lutherischen Kirche stand das einzige Denkmal im Nationalpark, das nichts mit der Schlacht oder der Armee bzw. den Armeen zu tun hatte: Martin Luther. Ich wollte diesen Ort unbedingt mit eigenen Augen sehen. General Buford ließ hier die Kavallerie absitzen und zu Fuß gegen die anrückende Infanterie kämpfen, bis General Meade südlich auf Cemetery Hill eingetroffen war. Obwohl die Kuppel für Besucher geöffnet war, blieb sie für mich unerreichbar. Der Ausblick, damals und heute, war in den Ausstellungsräumen nachgebaut. Der Besuch des Museums lohnte sich auf jeden Fall, und ich wollte ihn auf keinen Fall verpassen, bei fellow Lutherans gab es verlässlich etwas Ordentliches zu trinken, behindertengerechte Restrooms und einen Aufzug. Und genau so war es. 
Im Juli 1863 war in den drei Stockwerken des Ziegelbaus ein Lazarett untergebracht. Die Pastorenfamilie Ziegler und Freiwillige versorgten die Verwundeten beider Seiten, Feldchirurgen gaben ihr Bestes. Als die Flut der hereinkommenden Verwundeten nicht enden wollte, kamen den erschöpften Lutheranern katholische Nonnen zu Hilfe. Im Keller des Hauses stapelten sich die einfachen Infanteristen, bis heftige Regenfälle die Kellerräume fluteten, und alle Verletzten hinauf in den dritten Stock getragen werden mussten. In den oberen Ebenen wurden bis dahin die oberen Chargen versorgt. Die damaligen Verhältnisse wurden detailgetreu nachgestellt, auch die Kellertreppe. Der Schwerpunkt der Ausstellung lag auf der medizinischen Versorgung der Soldaten und Offiziere. Auch Originalfotos wurden gezeigt. Ich kannte und besitze derartige Bilder aus einem anderen Krieg einer anderen Zeit. Und besonders kamen mir jene „lustigen“ Faschingsbilder in den Sinn, die mein Großvater beim Österreichischen Bundesheer machen hatte lassen. Da lachte er fröhlich, den linken Arm in der Schlinge und komplett verbunden. Ich hatte auch immer fröhlich gelacht, wenn ich so getan habe, als käme ich nur schwer eine Treppe nach oben. Als Bub fand ich Orry Main in der Fernsehserie „North and South“ ganz toll, nach dem Bürgerkrieg, mit seinem eleganten Stock und seinem steifen Bein. Hätte ich mal lieber mein Hirn benutzt, Patrick Swayze spielte eine Rolle, mein Großvater war echt.

Keinen Steinwurf nach Süden vom Seminar entfernt begann die West Confederate Avenue. Sie zog sich von Seminary Ridge im Norden bis ans südliche Ende des historischen Schlachtfelds, bis nach Warfield Ridge. Und diese Avenue verläuft exakt entlang der Stellungen der Army of Northern Virginia. Wo ihre Artilleriebatterien aufgestellt worden waren, standen auch heute die zeitgenössischen Kanonen. Über 400 waren an den Originalstandorten über das Gelände verteilt, genauso viele wie 1863 zum Einsatz kamen: Etwas mehr als 200 auf Unionsseite und zirka 190 bei den Konföderierten. Wie auf Perlenschnüren aufgereiht, Lafette neben Lafette, Rohr an Rohr. Oft soweit das Auge reichte. Entlang der West Confederate Avenue mündeten die Alleebäume in die Pitzer Woods, in denen General James Longstreet die Infanterie sammelte, um am 2. Juli gegen 4 Uhr nachmittags die Stellungen der Union hinter Warfield Ridge im gegenüberliegenden Osten anzugreifen. Am Straßenrand im Schatten der Bäume parkten, auch wie an einer Perlenschnur, die Besucherautos. Pickup an Pickup, Muscle Car an Muscle Car. Polierter Lack an poliertem Chrom. (Mattlack war keine Option.) Wo Bubenträume und Klischees wahr wurden! Wir fuhren langsam an den auffälligen Fahrzeugen vorbei. Die Nummerntafeln ließen keinen Zweifel offen, in wessen Hand auch 2018 diese Seite des Schlachtfeldes war: North Carolina, Virginia, Texas, Georgia und Alabama. Dieselben Staaten, die auch an den Gedenktafeln aufgelistet waren. Die Familien ringsum waren die Nachfahren jener Männer, die vor 155 Jahren hier campiert hatten. Juliane und ich stiegen auch aus. Mein Kleeblatt erregte keinerlei Aufmerksamkeit. Stock stach Kappe. Diese Leute starrten nicht, machten keine Kommentare. Einige Familien wurden von eigenen Militärhistorikern und Nationalpark Guides begleitet.

Ich atmete durch und trat aus dem Schatten in die Sonne über den Feldern von Gettysburg. Mir war bewusst, an welchem Ort ich mich im Augenblick befand. Links vor mir erhob sich das North Carolina Memorial und weit und winzig vor dem Horizont das Pennsylvania Memorial auf dem Cemetery Ridge. Die unüberschaubare Weite aus Senken, Steigungen, Zäunen und Findlingsmauern, das war jene Distanz, die am 3. Juli 1863 von den angreifenden Südstaatlern überwunden werden musste. Ich hörte den Guides am North Carolina Memorial zu. Sie erzählten den ehrfurchtsstarren Buben Abenteuergeschichten über die auf dem Denkmal abgebildeten Gestalten. Von dem verwundeten Offizier, der selbst schweren Herzens zurück bleiben musste, aber seine Männer weiter voran schickte. Und von dem tapferen Soldaten, dessen Gesichtsausdruck uns schon verriet, dass man ihm nicht erklären musste, wo sein Ziel lag. Dort drüben beim Zentrum der Unionsarmee auf Cemetery Hill. Vorwärts und Hurra! Ich wandte mich angewidert ab und starrte ungläubig über das Feld. Der Fünfzehnjährige, der ich einmal gewesen war, der wäre mitgerannt, mit einem lauten und langen „Yeaah!“ Der Vierzigjährige hielt sich nur mit Mühe zurück, die Ausführungen der Nationalparkführer nicht zu unterbrechen. Ich sah da draußen keinen Ruhm, ich entdeckte nur den sicheren, den sinnlosen Tod. An den Kanonen schwätzten sie weiter, in einem Ton, der sich nur geringfügig von der Erzählweise von Piraten- und Lagerfeuergeschichten unterschied. Da wurden Kanonen wie Spielzeug erklärt, und Knaben überschwänglich gelobt, weil sie ein Streichholz erkannten und entzünden konnten. Das klingt zunächst albern, wer aber schon einmal versucht hat, dieser Tage in den USA eine Packung Streichhölzer zu bekommen weiß, dass das verdammt nochmal nicht einfach ist. Ich verschränkte die Arme. Ich sah mich selbst und meinen Großvater vor dem Heeresgeschichtlichen Museum in Wien, wie er mir die Bedienung und Funktionsweise von historischen Kanonen erklärt hatte. Sein Tonfall hörte sich ganz anders als diese Typen an, die mir mit ihrem begeisternden Ohrenträufeln alle Knöpfchen drückten. In der Stimme meines Großvaters war keine patriotische Begeisterung zu hören gewesen, sondern die Warnung, dass wenn ich es an Verstand und Respekt mangeln ließe und beim Bedienen einen Fehler machte, ich dann unwiederbringlich tot sein würde.

Juliane wies mich darauf hin, dass auch dieses Denkmal von den United Daughters of the Confederacy errichtet worden war (gegründet 1894 in Nashville, Tennessee). Im Gettysburg National Military Park gab es bis in die 1910er- und 1930iger-Jahre kein Denkmal für die Konföderierten. Die heutigen wurden erst nach der Reconstruction Era errichtet, und nicht für Regimenter wie bei den Unionstruppen, sondern für und von Bundesstaaten. Geldgeber waren wie bei vielen anderen in den USA heute umstrittenen Bauwerken auch ebenso diskussionswürdige Organisationen wie die United Daughters of the Confederacy. Das Denkmal für die Soldaten aus Virginia und Robert E. Lee auf dem Seminary Ridge war sogar noch größer als jenes für North Carolina. Die viel jüngeren Denkmäler der Verlierer waren opulenter und prachtvoller als die älteren der Sieger. Das Reiterstandbild des siegreichen George Gordon Meade gegenüber auf Cemetery Hill nahm sich gegen das Robert E. Lees winzig aus. Nur das Pennsylvania Memorial war und blieb das größte Erinnerungsmonument auf dem Gelände. Das war in den Statuten festgeschrieben.

Es war die Generation der Enkel, die diese Monumente errichteten. Die Enkelin Margret Mitchell setzte der mündlichen Überlieferung zudem ein eigenes Denkmal: „Gone with the Wind“ (1936). Für eine verlorene Sache, die als „The Lost Cause of the Confederacy“ sprichwörtlich wurde und ihrerseits Geschichte schrieb.

Vom Virginia Memorial reichte der Blick von Bodenverwerfungen und Zäunen relativ unbehindert über das, was später am 3. Juli „Pickett´s Charge“ werden sollte. (Dazu später mehr.) Dort wo am Horizont winzig die Kuppel des Pennsylvania Memorial zu sehen war, lagen Cemetery Hill und Cemetery Ridge, wo das Zentrum der Verteidigungslinie aus Unionstruppen unter Hancock und das Hauptquartier von General Meade gewesen waren. Ich hörte es deutlich zwischen den Ohren, die Skulpturen flüsterten in einer vertrauten Stimme zu mir: „Wie konnten wir nur verlieren? Wir waren so gut!“ Als ich als Fünfzehnjähriger meinen Großvater fragte, auf welcher Seite des Bürgerkriegs er wohl gestanden hätte, antwortete er: Auf Seiten der Kavaliere des Südens, die bis zuletzt tapfer und ehrenvoll gegen die Übermacht des reichen Nordens gekämpft hatten. Das leuchtete mir ein. Der Vierzigjährige sah diese Dinge jetzt anders. Und hier wurde es schmerzhaft:

Auch an einem anderen Ort dieser Welt erzog eine Kriegsgeneration eine Deckergeneration, gab es eine Reconstruction Era, einen Wiederaufbau. Deckergeneration und traumatisierte Kriegskinder wurden in Wahrheit vor keine Wahl gestellt, sie sollten die Taten der Eltern entweder rechtfertigen und verharmlosen, oder vergessen und damit ungeschehen machen. Ein Großteil tat so, als ginge das Vergangene sie nichts an, die Schuldigen waren ja bloß die Anderen, der politische Gegner. Andere weigerten sich, überhaupt zurückzuschauen und erstarrten im Vorwärtsblicken zur Salzsäule. Oder die eigenen Leute wurden als kleine Mitläufer verharmlost. Früher war ja alles ganz anders. Aber oje, etwas später wurden die Kriegsenkel geboren, Menschen, die wie Margret Mitchell mit Erzählungen aus einer verlorenen, gedemütigten Welt aufgewachsen waren, d.h. unter dem Einfluss einer schwärenden Wunde. Und diese Wunde sollte zu Fragen provozieren, wiederum genau wie in der Artussage.

Die verlorene Welt, von der ich immer wieder hörte, das waren Nordafrika einerseits und Ostpreußen andererseits. Der Verlust von Ehre und Existenz trotz aufopfernden Kampfes wurde jedenfalls für mich so real wie kaum etwas anderes. Auch die Flüchtlingstrecks. In mir brannte nicht Atlanta, in mir brannten Rastenburg und El Alamein. Die Wunde wurde erfolgreich vererbt. Und weit und breit war kein reiner Tor, kein Ritter Parsifal, in Sicht, der fragte, woher die Schmerzen kamen, um sie zu beenden. Eine Lady Parsifal wäre mir eh lieber gewesen. Aber ganz im Gegenteil: Dass die Verlierer auch immer die Ruhe der Sieger, Gewinnler, Profiteure und Verdränger, kurz: der neuen sozialen Ordnung, stören mussten. Eine unangenehme und lästige Eigenschaft, die sie mit den Opfern von Genoziden und Sklaverei gemeinsam haben. Und als der Leidensdruck für mich unerträglich wurde, musste ich mir selbst einen Arzt suchen und meine Wunden verstehen lernen. Vor allem, dass die Ecksteine der noblen Haltung auf Unrecht gegründet lagen. Wie die gerade-doch-nicht-tödliche Wunde des Gralskönigs wurzelte auch diese Verletzung in Verführung und Sünde. Darin unterschied sich der siechende Amfortas nicht vom Southern Chevalier, der nicht vom Alt-Österreichischen Soldaten, und der wiederum nicht vom Preußischen Junker. Heute ist der Schatten ein Teil von mir, und ich sehe dem Irrtum meiner Großeltern ohne Furcht ins Auge. Während das verordnete Schweigen und Umdeuten in der breiten Öffentlichkeit eine ordentliche Anamnese und Therapie verhinderte, eiterte die Wunde an vielen anderen unter der Oberfläche weiter. Immer mehr Lagen Make-up und Abdeckcreme darüber geschminkt. Die Verklärung breitete sich darunter wie Metastasen aus. Und wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund endlich über. Und wovor ich mich angesichts dieser Denkmäler in Gettysburg plötzlich fürchtete, das war ein kluges warnendes Wort einer meiner Universitätslehrer. Sinngemäß lautete es: Einmal, wir werden es vielleicht nicht mehr erleben, wird der Tag kommen, an dem man dem GRÖFAZ und der Wehrmacht in Mitteleuropa Monumente errichten wird. Für die größte Ausdehnung des Deutschen Reiches in der Geschichte. Und für die verlorene Sache. Sowas kommt von sowas.

Aber diese dunklen Nebelschwaden hatten ihre wahre Form noch nicht enthüllt, als ich mit Juliane im Nationalpark unterwegs gewesen war. Die schwankenden Gestalten nahten sich erst zuhause wieder. In der Nacht, wie alle Gespenster. An diesem sonnigen Tag in Pennsylvania überwog die Freude über das Erlebte. Juliane und ich kletterten wieder in unseren „Al“ und fuhren langsam entlang der West Confederate Avenue weiter nach Süden. Wo sich damals die Konföderierten sammelten und formierten, saß heute ein Motorradfahrer im Schatten der hohen Bäume und aß sein mitgebrachtes Wurstbrot. Das war auf dem kleinen Parkplatz kurz vor der Frontlinie auf dem Warfield Ridge, wo gegen 4 Uhr nachmittags des 2. Juli Longstreets (CSA) Angriff auf die Unionstruppen begann. Am Nachmittag, damit die Infanterie aus Texas und Alabama bei ihrem Ansturm die Sonne im Rücken hatte. Und ab hier begann der steile Anstieg auf die Hügelkette, die damals von der Unionsarmee gehalten wurde. Der größte von ihnen war und ist Big Round Top. Aber er ist nicht der berühmteste. Einer meiner ganz persönlichen und auch tatsächlichen Helden der Schlacht von Gettysburg (und des weiteren Bürgerkriegs) war bzw. ist Joshua Lawrence Chamberlain. Am 2. Juli 1863 war er der Colonel des 20th of Maine, einem Infanterieregiment der Unionsarmee. Deren Stellung lag an der linken Flanke von Little Round Top. Dieser Gipfel ist der berühmteste, wegen Chamberlain und des 20th of Maine. Und dass wir angekommen waren, bemerkten wir ganz einfach daran, dass die Parkplätze voll und auch die Straßenseiten zugeparkt waren. Von ganz anderen Autotypen mit Kennzeichen aus unterschiedlichen Bundesstaaten. Überwogen gegenüber im Westen des Parks die Zulassungen von südlich der Mason-Dixon-Linie, waren die Besucher hier im Osten gut durchmischt. Die Stimmung war keineswegs angespannt. Selbst als Männer und Frauen mit blauen Unionskappen an Autos vorbeikamen, die mit kleinen Versionen des „Blood Stained Banner“ geschmückt waren. Die sah man öfters. Auch mein Kleeblatt erregte keinerlei Aufmerksamkeit.

Wir hatten Glück und fanden relativ rasch eine äußerst günstige Parklücke. Das lag wohl auch daran, dass ich mich als Wiener in eine Lücke zu quetschen traute, um die alle anderen hier einen großen Bogen machten. Wir konnten allerdings alle beide bequem aussteigen und nach wenigen Schritten durch den Wald und an runden Granitfelsen vorbei, überblickten wir das Panorama. Vom Little Round Top öffnete sich der Blick über Devil´s Den, Valley of Death, The Wheatfield, The Peach Orchard und ganz rechts bzw. nördlich Plum Run. "Plum Run" bedeutete auch hier, was im vor-republikanischen Alt-österreichisch einmal "Zwetschgenrummel" geheißen hatte. Der Begriff "Zwetschgenrummel" stammte aus dem Siebenjährigen Krieg, und er beschrieb die um ihr Leben rennenden preußischen Soldaten. An diesem Ort meinte "Plum Run" ganz freundlich die blau gekleideten Unionstruppen. Hier wird lustig beschrieben, was in Wahrheit ein mörderischer Blutzoll war. Aber die Landschaft war unvergleichlich. Da wir uns auf riesigen Granitfelsen bewegten – ich tippe auf Wollsackverwitterung und/oder Gletscheraktivität –, beschwerten sich einige US-amerikanische Familienväter über die „mangelnde Sicherheit“. Sie verlangten Geländer, Warnschilder und dergleichen. Davon wären meiner Meinung nach Ausblick und Stimmung völlig ruiniert. Ich wäre als Gehbeeinträchtigter nicht auf die Idee gekommen. Kaum hatte ich meinen abfälligen Gedanken zu Ende, rutschte neben mir eine Leinenhose mit dunkelblauen Polohemd aus. Segelschuh ohne Sohlenprofil am Fuß. Soviel also dazu. Ich verstand augenblicklich, dass Amerikaner und ich unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte von Sicherheit haben mussten.

Juliane und ich spazierten zum südlichen Ende des Gipfels. Hier stand das Denkmal für die New York-Infanterie. Nach dem Pennsylvania-Memorial lange Zeit das höchste auf dem Gelände. Es sah im Wesentlich aus wie ein Bismarck-Turm. Also nicht besonders hübsch. Aber es war allen Gefallenen der New Yorker Infanterie gewidmet. Dass New York das größte Regimentsdenkmal haben musste, war eine Prestigefrage. Klischees kamen ja wie gesagt von irgendwoher. Also wandten sich die Organisatoren an den reichsten der ehemaligen Kameraden, den späteren Erfinder von American Express. Er bezahlte den Repräsentationsbau. Ich glaube nicht, dass ihm und seinen Kameraden gefallen hätte, was im zwanzigsten Jahrhundert gegenüber errichtet worden war. Juliane stieg die schmale Treppe nach oben und fotografierte den Rundblick für mich. Ich wartete derweil im kühlen Schatten im Inneren des Denkmals. Danach wollte ich noch einmal zurück auf die andere Seite.

Noch einmal der Blick über The Wheatfield und The Peach Orchard. Auf dem größten Felsenrundling die Statue von Brig. Gen. Gouverneur K. Warren. Dieser Mann war einer von jenen Unions-Kommandeuren, die beim Zusehen der Ereignisse des 2. Julis 1863 ein äußerst ungutes Gefühl bekamen. In Gettysburg begann sich an diesem zweiten Tag ein Muster abzuzeichnen: Die Konföderierten stürmten aus unterlegenen Positionen gegen höher und vorteilhafter gelegene Angriffsziele an. Völlig entfesselt, betrunken von ihren bisherigen Erfolgen. Das Oberkommando, d.h. Meade, schickte Infanterie entgegen. Diese Einheiten wurden aufgerieben und/oder zurückgedrängt. Und in den Unionsoffizieren brüllte es laut: „O nein! Nicht schon wieder wie vor einem Monat! Kein zweites Chancellorsville!“ Die verheerende Niederlage schien sich Punkt für Punkt vor ihren Augen zu wiederholen. Und Warren wandte sich an Chamberlain mit dem klaren Befehl, er hätte die linke Flanke auf dem Little Round Top zu halten, koste es, was es wolle. Fielen die Hügel im Südosten, fiel Gettysburg, fiel die Army of the Potomac.

Den Ort dieses Gefechtes wollte ich natürlich leibhaftig sehen und spüren. Er lag etwas abseits, wir mussten ein schönes Stück durch den Wald. Außer Juliane und mir hatten sich nur ein Veteran und seine Frau, zwei Bürgerkriegsenthusiasten aus dem Süden und zwei Frauen hierher verirrt. Gut so, dass gab mir die Gelegenheit, den Platz in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Hier, und nicht oben beim Parkplatz, wo Nationalpark-Guides und Uniformierte die Geschichte erzählten, fand der alles entscheidende Augenblick des 2. Juli 1863 an der linken Flanke des Little Round Top statt: Das 20th of Maine unter Joshua L. Chamberlain wehrte den Angriff der überlegenen Infanterie von Alabama und Texas ab. Gedenksteine bezeichneten das rechte Ende ihrer Stellung, das Zentrum, wo die "Colours" standen, die Flagge, und das linke Ende der Stellung. Der größte Stein bezeichnete die Mitte, wo neben der Fahne wahrscheinlich Chamberlain, der spätere Präsident des Bowdoin Colleges und Gouverneur von Maine, gekämpft hatte. Chamberlain gedachte man auf dem Sockel mit einer kleinen Figur aus dem Andenkenladen und Dollar-Cent-Münzen mit seinem Porträt darauf. Woran lag das Besondere an seinem Einsatz? Weil seinen Männern die Munition ausging, befahl er einen Bayonetangriff. Schulter an Schulter stürmte das 20 th of Maine den Hügel hinunter und überrumpelte die Angreifer völlig und entscheidend. Faszinierend für mich war, dass diese Taktik bei der k. k. Armee üblich gewesen war. Zum letzten Mal wurde sie 1866 bei Königgrätz angewandt, mit katastrophalen Ausgang. Anders als die Konföderierten schossen die Preußen unter ihrem Kronprinz mit ihren Zündnadelgewehren die Österreicher einfach über den Haufen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, eine völlig andere „lost cause“. Wie sich die Welt ohne Deutsches Reich entwickelt hätte, werden wir nie erfahren.


Juliane und ich setzten unsere Autotour fort. Nachdem ich mich ein wenig ausrasten hatte müssen, ging es weiter nach Cemetery Ridge. Dort waren sie wenigstens als Regimentssymbol vorhanden, die Native Americans. Und zwar in Form des Denkmals für das Tammany Regiment, dem 42nd New York Regiment.  
Tammany Hall war nicht nur ein Gebäude, sondern auch eine New Yorker Seilschaft der Demokratischen Partei. Benannt wurden beide nach Tamenend, amerikanisch verballhornt zu Tammany, einem Chief der Lenni-Lenape Nation. Ursprünglich um und in Philadelphia beheimatet, im östlichen Pennsylvania, in New Jersey, in New York City und bis nach Long Island, wurden die Lenni-Lenape von weißen Einwanderern und Siedlern nach Oklahoma und Wisconsin verdrängt. Tamenend galt schon zu Lebzeiten (1625-1701) als Symbolfigur für Verhandlungen und friedlichen Konsens. Schon irgendwie seltsam, dass ausgerechnet sein Porträt das Kriegerdenkmal eines Regiments aus New York auf einem Schlachtfeld zierte, das bloß noch mit dem Nachfolgerstaat seiner Nation zu tun hatte. Natives kämpften auf beiden Seiten des Bürgerkriegs. Bei der Union allerdings in den Freiwilligenregimentern für Farbige, darunter auch Mashantucket Pequot aus Connecticut.

Nach einem Imbiss im Besucherzentrum und der zweiten Runde durch den Nationalpark, parkten wir unseren „Al“ im Herzen der Unionstruppen auf dem Cemetery Ridge. Direkt beim Pennsylvania Memorial. Das größte der Denkmäler im Nationalpark. Und fast alle Namen waren deutsch. Die Gefallenenlisten lasen sich wie die Einwohnerregister einer deutsch-österreichischen Kleinstadt. Das Erbe der Pennsylvania Germans. Juliane las einige Namen laut vor. Sofort wurden wir argwöhnisch aus den Augenwinkeln von oben bis unten gemustert. Ja, danke an die beiden Weltkriege, dass diese Tradition den Bach runter ist...

Vom Pennsylvania Memorial bogen wir diesmal ab in den weniger berühmten, aber genauso mörderischen Teil der Schlacht im Osten: In das malerische Spangler´s Spring. Die namensgebende Quelle, von einem gemauerten Schloss eingefasst, führt noch immer Wasser. An jeder Seite jeweils ein Blumenstrauß. Einmal mit Battle Flag, einmal mit Stars and Stripes. Vor dem Massaker ein beliebter Picknickort. Und immer noch pittoresk. Graue kugelige Felsen lagen in einer saftig grünen Wiese unter den Wipfeln von schlanken Laubbäumen. Sonnenlicht und Schatten wechselten sich ab, tauchten die Szenerie in flirrendes Licht. Wechselnde Verhältnisse, die mich fast die Straße aus den Augen verlieren hatten lassen. Vielen Dank an dieser Stelle an mein Unbewusstes, es machte mir auf der Tour nicht nur Bedenken, ich stand schon auf der Bremse, als Juliane alarmiert quietschte. Wäre ich gerade weiter gefahren, nicht die Kurve, ich hätte zwei oder drei Regimentsdenkmäler umgelegt, an der nächsten Kurve einen parkenden Familienvan gerammt, bis ich an einem niedlichen Felsen zum Stehen gekommen wäre. Auf dem Dach. Da hätten sich die 15 Dollar Aufpreis für den Vollkasko gerechnet. Aber nichts geschehen, alles gut.

Wir hatten eine Station der Autotour bisher vor uns hergeschoben: High Water Mark. Der "Höhepunkt" der Schlacht und der Tour. Von Kanonen und aufgeschichteten Kugeln flankiert, eine Terrasse mit Steinplatten gepflastert. Darauf lag aufgeschlagen ein großes bronzenes Buch auf einem Steinsockel. Hinter dem Buch ein eingezäunter Hain. Wir befanden uns im Zentrum der Unionslinien auf Cemetary Hill. Gegenüber, von der Abendsonne in goldenes Licht getaucht, sahen wir die Bäume an der West Confederate Avenue und Pitzer Woods, wo sich vor 155 Jahren Longstreet´s (CSA) Infanterie zum letzten und entscheidenden Schlag gesammelt hatte.

Am 3. Juli 1863 eröffnete die konföderierte Artillerie ein zweistündiges Bombardement der Unionstruppen auf Cemetary Ridge und Cemetary Hill. Die Unionsartillerie antwortete unverzüglich und pausenlos. Als die konföderierte Artillerie verstummte, ahnten die erfahrenen Kommandanten der Unionsarmee, was im nächsten Moment buchstäblich auf sie zukommen sollte: Robert E. Lee befahl den Sturmangriff auf die schwächste Stelle seines Gegners George Gordon Meade, auf sein Zentrum. General Longstreet schickte 12 000 Mann über die Felder, die allgemein als großartiger Grund zum Kämpfen gepriesen wurden und werden. Rund 7000 Unionssoldaten und der US-Artillerie entgegen. Und ich bin überzeugt, nach allem, was ich hier gesehen und gelernt habe, beide erwarteten, Lee und Longstreet, dass ihnen die Unionstruppen entgegenkamen und sich der offenen Feldschlacht stellten. Aber Meade war nicht der Mann, der die Fehler seiner Vorgänger wiederholte. Die Unionstruppen hielten ihre Stellungen, bewegten sich nicht und feuerten aus allen Rohren. Zuletzt mit Streumunition auf Infanteriereihen in rund 4 Meter Distanz. Von den Männern blieb nichts als rosafarbener Pulverdampf. Der Angriff über die ungeheure Distanz und ohne jede Deckung kostete 5000 Menschenleben in einer Stunde! Diese Hybris, dieser Wahnsinn, ging als "Pickett´s Charge" in die Geschichte ein. Es war Pickett´s Division, die hier bis auf den letzten Mann aufgerieben wurde. Der kleine umzäunte Hain war ihr Massengrab.


Als mir das bewusst wurde, konnte ich mich nicht mehr länger zurückhalten. Ich erinnerte mich an die Zickzacknarben, die Schusskanäle und die aufgrund dieser schweren Armverletzungen zusammengezogenen Finger an der linken Hand meines Großvaters. Eine Granate hatte seine linke Körperseite, Schulter und Oberarm komplett zerfetzt. Das linke Bein unter einer Geschützlafette eingeklemmt. Als er mit diesen Verletzungen heimkam, erfuhr er dort, dass in seiner Abwesenheit sein Bruder in der Euthanasieanstalt Schloss Hartheim vergast worden war. Obwohl mich Juliane im Auto vor dem Aussteigen noch einmal abgeprüft hatte, „auf wessen Seite wir stehen“, und ich die Prüfung bestanden hatte, jetzt entließ ich so lange und so laut ich konnte, einen Rebell Yell in die Dämmerung. Mein „Yeaah!“ war noch nicht verklungen, bekam ich Antwort von der anderen Seite. Und wenn ich daran denke, bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut. Juliane meinte, dass sei typisch: Sie würden sich niemals trauen anzufangen, aber mit machten sie sofort.

Zum Abschluss, das bescheidene Reiterdenkmal jenes Generals der am fünften Tag seiner Amtszeit den wahrscheinlich wichtigsten Sieg des Bürgerkriegs und der US-amerikanischen Geschichte erstritten hat: George Gordon Meade. Zum Dank wurde er nicht einmal am Ort seines größten Sieges erkannt. Sein Reiterstandbild stand auf dem Platz seines damaligen Hauptquartiers. Die US-amerikanischen Besucher verwechselten ihn mit Ulysses S. Grant. Für wen ich ihn gehalten habe, trau ich mir fast nicht sagen, ich hielt ihn auf den ersten Blick für Lee...

Fortsetzung folgt…