Teil 18: Happy Halloween! Angst und Schrecken in finsterer Nacht.
Heute ist Allerseelen und unser
erstes Halloween in den USA ist auch schon wieder vorbei. Auch der
fünfhundertste Jahrestag der Reformation. Auf beides habe ich mich lange
gefreut, auf „Luther 2017“ mehrere Jahre. Auf Halloween in den USA sogar noch
länger, seit ich die „Treehouse of Horror“-Specials
der Simpsons (1-28) verfolgt habe.
Letztere, nämlich die Macher der Simpsons,
versprachen mir, dass nachdem die kleinen Quälgeister mit ihren erbeuteten
Süßigkeiten ins Bett gebracht sein würden, die großen Dämonen von der Leine
gelassen, und das Halloween für Erwachsene beginnen würde. Lügner, schamlose!
In einer Universitätsstadt hatte
ich mir von Halloween einiges erwartet. Besonders bei um die 20 Grad Celsius Außentemperatur
und Indian Summer. Ideale Bedingungen zum Verkleiden und Ausgehen. Doch nichts,
rein gar nichts war los. Bis auf ein paar erwartungsfrohe alte Säcke wie mich
und ein paar junggebliebene Hexen. Ich bin mit einem Sack Schokolade neben der
Tür gesessen, um auf „trick or treat“ zu warten. Aber das Gruseligste dieses
Abends war das Lauschen auf das Schweigen der Türklingel, das Rauschen der
Bäume und die Stille der Nacht vor den Fenstern. Okay, zwei oder drei
Nachbarskinder krähten fröhlich aus dem offenen Fenster, und irgendwelche
Besoffenen aus einem angrenzenden Viertel bekamen sich in die Haare. Das waren
aber die ganz alltäglichen Typen, und sie waren auch nicht verkleidet. Die schauen
zwar wie Zombies aus, sind aber keine. Wie an jedem anderen Wochentag waren
spätestens um Mitternacht ringsum alle Lichter aus und alle im Bett. Bis zirka
Drei Uhr morgens, dann nämlich stehen die oberen Nachbarn zum traditionellen
Holzschuhtanz auf, den sie Nacht für Nacht für ihre unteren Mitbewohner
aufführen. Ist man den einen die Klampfe würgenden Studenten los, zieht kurz
darauf der nächste ein. Wir sind hier so unglaublich locker, individuell und
gar nicht spießig. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass zumindest in New
Haven am Abend von Halloween genau die Friedhofstille Einzug gehalten hat, die sich
manche Traditionalisten nach Mitteleuropa zurück wünschen, wo inzwischen Partys
mit sexy Hexen und schaurigen Untoten gefeiert werden. Für die Teilnahme müsste
ich mich nicht einmal schminken, nicht nur bin ich krankheitsbedingt scheckig,
ich bin auch grün vor Neid. Wirklich alles in der Welt scheint einem Kreislauf,
einem Auf-und-Ab und Hin-und-Her unterworfen.
Halloween ist die irische
Variante des keltischen samuin oder
Samhain-Fests. Die keltische Kultur nahm in Hallstatt im Salzkammergut ihren
Anfang, mit den Hallstatt-Kelten. Von dort verbreiteten sich Sprache, Brauchtum
und Glauben bis auf die britischen und irischen Inseln. Und von dort weiter in
die USA. Trotzdem habe ich mir neulich eine Dokumentation über die Hallstatt-Kelten (!) angesehen, in dem
kein einziges Wort über den Ort Hallstatt zu hören und kein einziges Bild von
Hallstatt zu sehen war. Nichts, keine Situla von Kuffern, kein Kultwagen von
Strettweg, keine Schnabelkanne vom Dürrnberg. Auch kein Bogenschütze von
Amesbury (Stonehenge). Die interviewten französischen und deutschen Archäologen
haben sich vielmehr gewundert, mit welchem kostbaren Gut diese Vorfahren wohl
gehandelt haben mochten, um derart wertvolle Luxusgüter z.B. von den Griechen zu
erwerben. – *Räusper* - Hall bedeutet
Salz! In Hallstatt im SALZkammergut ist die der Kultur namensgebende Saline. Ob
dieses Auslassen – ich glaube nicht, dass es Unwissen ist – mit der heutigen modernen
und weltoffenen Gesellschaft in Österreich zu tun hat? Wie dem auch sei! An Halloween/Samhain
waren die Tore der Unter- bzw. Anderswelt geöffnet, alle Toten, Geister und
Dämonen hatten zwei Nächte Ausgang. Wenn ich bedenke, dass die
präkolumbianischen Azteken in exakt denselben Nächten (und von Europa
unbeeinflusst) ihr Fest mit genau demselben Inhalt begangen haben, heute heißt
es: Dia de Muertos – dann bekomme ich Gänsehaut.
Während in Europa dank Imperium
Romanum, germanischen Wirtschaftsflüchtlingen (aka Völkerwanderung) und
katholischer Kirche das lebensbejahende Totenfest in ein stilles,
grabsteinschrubbendes und Kerzen anzündendes Allerheiligen verwandelt wurde,
steppten in den USA die Hexen und in Mexiko die Skelette. Durch den
alleinseligmachenden Einfluss der First Church of Income und der Anbetung des
allmächtigen Dollars dreht sich das jetzt alles wieder um. Das heißt, während
meine Nichte und mein Neffe in Österreich eine Halloweenparty feierten,
verabredeten sich die Yale-Studenten zum Lernen, Laufen und Früh-zu-Bett-Gehen.
Jobqualifikation und Selbstoptimierung. Die einzige offizielle Halloweenveranstaltung
der Uni fand zu Mittag statt. Wenigstens einer Stifterstatue an einem College
hat ein Tapferer einen Kürbis aufgesetzt. Es war zum Haare-Raufen.
Die Kinder, auf die ich gewartet
hatte, durften nicht mehr von Haus zu Haus gehen. Ihre Eltern, erzählte man
mir, verabredeten sich nach dem Kindergarten oder der Schule. Man traf sich in
einem Parkhaus, parkte Kofferraum an Kofferraum, und die verkleideten Kleinen
marschierten von einem Auto zum nächsten. Aus den offenen und dekorierten Laderäumen
bekamen sie ihre Tüten und Säcke mit Naschereien gefüllt. Die Geister und
Gespenster blieben unter ihresgleichen. Was zunächst nach Arroganz klingt und
so manche Klassenkämpfer aufschreckt (mein innerer hat auch gleich aufgejault),
hat leider nachvollziehbare soziale Gründe. In letzter Zeit wurden vermehrt
Nadeln, Rasierklingen und sogar Gifte in den Süßigkeiten entdeckt. Ungleichheit,
Neid und Ungerechtigkeit im Zeichen der Freiheit und der Leistungsgesellschaft
tragen Früchte. Was für so viele Generationen von US-Amerikanern für selbstverständlich
galt und die Gemeinschaft gestärkt hat, ist inzwischen zu gefährlich.
Und dann ist der Horror unserer
Tage Wirklichkeit geworden, hat alle Feierstimmung gedämpft. Wie beabsichtigt,
nehme ich an. In Manhattan hat ein Anschlag stattgefunden. Acht Menschen, die
genau wie Juliane und ich den herrlichen Herbsttag bei einem Spaziergang
genossen haben, wurden ermordet. Und ich kann dazu nur schreiben, dass ich inzwischen
erschöpft bin. Vielleicht hätte ich ein anderes Buch als Feierabendlektüre
wählen sollen als Michel Houellebeqs „Unterwerfung.“ Ganz bestimmt hätte ich
nicht die Kommentare auf Facebook lesen sollen, die schalen Witzchen und unpassenden
Vergleiche. Und vor allem hätte ich nicht den Nachrichten über die Hintergründe
des Attentats und der Reaktion Präsident Trumps zuhören sollen. Der Kongress
soll demnächst über die Abschaffung der Greencard-Lotterie, der „diversity
lottery“, abstimmen. Ich möchte hysterisch auflachen wie ein Besessener:
Vielfältiger, bunter und bereichert sollte unsere westliche Kultur werden. Was
wir bekommen haben sind Angst auf die Straße zu gehen, Grenzkontrollen im Schengen-Raum
und Einwanderungsstopps in die Neue Welt. Fromm und keusch bleiben wir zuhause,
schlucken unsere Werte hinunter, ballen die Fäuste in der Tasche und verhüllen
unsere Sexualität. Aus Entdeckern und Eroberern sind Leisetreter geworden.
Gruselig und schauderhaft sind
auch die Tagesdecken in US-amerikanischen Motels und Hotels. Niemals auf den
Gedanken kommen, sich mit einem dieser jauchigen Lappen zuzudecken! Haut- bzw,
Körperkontakt empfehle ich tunlichst zu vermeiden. Ein warnender Hinweis ist
für den geübten Beobachter schon die Tatsache, dass diese kunststoffhaltigen
und steifen Gewebe nur das untere Drittel oder Viertel des Bettes bedecken. Das
rührt daher, dass sich US-Amerikaner unter Tags in Schuhen aufs Bett legen.
Jedenfalls auf ein Hotelbett. Ein Schauermärchen, das mir mein seliger
Großvater noch über „die Russen“ in ihren dreckigen Stiefeln erzählt hat. Die
moderne Highheels- und Turnschuh-Variante ist unter anderem den reality shows des privaten US-Bildungsfernsehens
zu entnehmen.
Im neu renovierten Badezimmer eines
Motels hatte ich dann eine Begegnung der dritten Art mit einer fremden, aber
legendären Spezies. Ich öffnete die Tür und drehte das Licht auf. Da saß sie
mit aufgestellten Fühlern und schreckgeweiteten Facettenaugen: die
Küchenschabe. Dass die Kleine ebenso, wenn nicht noch mehr, von meinem Anblick
entsetzt gewesen ist wie ich von ihrem, war deutlich spürbar. Da stand ich nun,
in aller Allmacht über Leben und Tod in meinen Hausschuhen vor ihr.
Draufsteigen, oder nicht? Ich hatte weder Lust, dieses unschuldige Leben zu
nehmen, noch eine Unzahl von unter den Flügeln mitgebrachten Nachkommen und potentiellen
Rächern über den Fußboden zu verteilen. Die Kleine hatte mir nichts getan. Und
dass sie in den üblichen Verstecken und Ritzen wohl keinen Platz mehr gefunden
hatte, verhieß auch nichts Gutes. Schlafende Riesen soll man nicht wecken. Ich drehte
also das Licht wieder ab. Wie erwartet traf ich meine Küchenschabe kurz darauf
auf dem Flur. Das Laufen auf dem neu verlegten Laminat fiel ihr nicht leicht. Endlich
verschwand sie via Sesselleiste ins Nachbarzimmer. Ich hoffe für sie, dass in
den dunklen Ritzen und Spalten dort noch mehr Platz war. So etwas kommt eben
raus, wenn man seine Wände aus Holz und Papier baut.
Und für alle, die das europäische
Modell der öffentlich-rechtlichen Sender abschaffen möchten, noch ein
zweckdienlicher Hinweis: Bei dem Versuch, mir „Treehouse of Horror XXVIII“ auf FOX anzusehen, musste ich fünf
Werbeunterbrechungen mit jeweils vier bis maximal fünf Werbeclips über mich
ergehen lassen. Und die sind länger und penetranter als in Europa, trust me.
Bei all den angepriesenen Smartphones, Onlinebanking-Optionen und
Versicherungen blieb die größte Herausforderung, der halbstündigen Handlung zu
folgen.
Der ganz alltägliche Terror
offenbarte sich vor jedem Arztbesuch. Hier lauert ein Wust von Organisation auf
die Arglosen. Das Gesundheitssystem ist sauteuer, organisieren darf sich jede
und jeder alles selbst. Zuerst checkt man sich selbst einen Termin, danach
erfährt man, ob der Arzt mit der Krankenversicherung einen Vertrag hat. Davor liegen
jedoch die Rechnung auf dem Tisch, und die Patienten auf dem Spannteppich.
Kommt man dort, zu Füßen der Sprechstundenhilfe, langsam wieder zu sich und hat
den Anblick der Kostenstellen verdaut, kommt das Bezahlen. Fachkundiges
Personal hebt einen auf, dreht auf den Kopf und schüttelt die letzten Nickels, Dimes
und Quarters aus den Taschen. Dann strauchelt man heimwärts und versucht, die
Arzt- und/oder Behandlungskosten ersetzt zu bekommen. Viel Glück dabei!
Auf der Straße scheppern derweil liebevoll
mit Aufklebern zusammengehaltene Rostlauben vorbei, aus deren Fenstern es
dröhnt. Schallwellen rütteln an meinen Ohren, die wie Werkstattgeräusche und rhythmisches
Keuchen und Grunzen klingen. Wohl um die Motor- und Auspuffschäden zu
übertönen. Zunächst bin ich irritiert, dann erinnere ich mich, das soll Hip Hop
sein. Hier sind alle Autofahrer sehr sportlich, auf Asphalt fährt die Mehrheit
Slicks. Die gibt es beim Gebrauchtreifenhändler des Vertrauens zu erwerben. Der
Einsatz profilloser Reifen verleiht einer Taxifahrt in strömendem Regen erst den
letzten, erfrischenden Kick. Um sich das Elend der lizensierten Taxiunternehmen
zu ersparen, bestellt man sich am besten einen Lohnsklaven – *Sorry!* – Uber. Als
nächstes röhrt dann einer ohne Helm auf dem Motorrad vorbei. Er ist ja schon einundzwanzig
und kann tun, was er will. Klar, wer keine Krankenversicherung hat, der braucht
auch keinen Helm.
Last but not least habe ich meine
erste „flash flood warning“ auf das Handy bekommen. Bei dem Alarmgeräusch
mitten in der Nacht habe ich mir beinahe in die Hose gemacht. Zum Glück waren
nur andere, tiefer gelegene Stadtteile von der Springflut direkt betroffen. So
etwas wie „hard rain“ habe ich noch nicht erlebt. Tropisch anmutende
Verhältnisse in Neuengland. Sturm und Regenfall, der innerhalb von Minuten die
Kanalisation überfordert und Straßenzüge unter Wasser setzt. Die riesigen Bäume
trotzten dem Wind, ohne größere Schäden. Aber in einem Holzhaus ist man auch
bei Naturereignissen dieser Art nicht nur dabei, sondern mittendrin. Ich lag im
Bett, starrte an die Decke und hörte den Regen peitschen, die Äste knarzen und
den Sturmwind heulen. Das klang unheimlich und fremd, bis die oberen Nachbarn
ihre Holzschuhe anzogen, und ich wieder ein warmes und heimeliges Gefühl bekam.
Genug des Schreckens. Halloween ist vorbei.
Fortsetzung folgt...