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Donnerstag, 8. März 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 27)


Teil 27: Europareise


Schon wieder. Wie zu erwarten war, bin ich froh, dass es vorbei ist. Das ist jetzt gar nicht abwertend oder despektierlich wider die Alte Welt gemeint. Europareisen stehen für Juliane und mich einfach unter keinem guten Stern. Das beweist sich leider immer wieder. Utrecht bleibt mir diesbezüglich unvergessen. Und auch diese Heimreise gestaltete sich – naja, sagen wir mal: anspruchsvoll.
Dabei hat die Reise ganz normal begonnen. Ausführliche Planung half den Irrtum durch den Fehler zu ersetzen. Und zu unserer großen Freude war uns vor und am Start keiner unterlaufen. Meine neu verschriebenen Medikamente hatte ich noch nicht erhalten (und ich habe sie noch immer nicht), zu viele offene Fragen vonseiten der Krankenversicherung. Aber meine Freundinnen, die Krankenschwestern der Photopheresestation, versicherten mir, dass ein Transatlantikflug nicht der Ort war, wo ich mit Immunsuppressivum sein wollte. Die Grippewelle war in vollem Schwange. Dies Menetekel vor Augen gab uns Hatty den Rat, im engen Flieger einen Mundschutz zu tragen. Mehr noch, sie gab uns die entsprechenden Masken gleich mit. Krankenhausstandard in dezentem Rosa. So waren uns Raum und Beinfreiheit garantiert. Dazu noch ein wenig gehustet, mit dem geröchelten Hinweis: „Ich habe die Pest!“, schon konnte man sich ausstrecken und breit machen. So der Plan. Der perfide.
Wir hatten sorgfältig nur das Notwendigste gepackt. In meinem Fall beinhaltete das zusätzlich einen mobilen Handlauf für das Bad und einen formschönen, äußerst eleganten Sitz für rückwärtige Angelegenheiten. Zwei Accessoires, die mir das unstete Gefühl vermittelten, nicht bloß besondere Bedürfnisse zu haben, sondern downhill unterwegs auf den Kompost zu sein. Kurz: Ich fühlte mich angesichts dieser notwendig gewordenen, sperrigen Mitbringsel reichlich alt und hinfällig. Mein unbedachter Kommentar zu dieser Beobachtung zog eine erfrischende Kopfwäsche vonseiten der Gattin nach sich, die mir nicht nur die Wadeln nach vorne, sondern auch den Sinn wieder zurecht rückte. Mein loses Mundwerk verwünschend fand ich mich zwei riesigen Überseekoffern gegenüber, zu denen sich auch noch das Kabinengepäck gesellte. Kaum zu glauben, was für Zeug wir mit uns führten, um gerade Mal vierzehn Tage in Europa zu verbringen.
Wobei die Reise nicht bloßes Vergnügen war, und schon gar kein Urlaub. Unsere Visa mussten an der US-Botschaft in Wien verlängert werden. Das heißt, wir mussten ausreisen, um den Antrag auf Verlängerung an der ausstellenden Behörde stellen. Hätten die USA irgendwelche Gründe, uns nicht wieder hinein zu lassen gehabt, wären wir draußen geblieben. Da half kein Murren und Knurren. Und Termine an der US-Botschaft waren kostspielig. Aber dazu später mehr.
Um es einmal in der Sprache der von mir sehr geschätzten Sciencefiction zu formulieren, der erste FTL-Sprung (= „faster than light“-„Schneller als das Licht“) war für mich nie das Problem. Weder körperlich noch geistig. Es war bisher immer der vermaledeite zweite. So war der erste, der Transatlantikflug, weder für Juliane noch für mich ein Problem. Dank massiven Rückenwindes brauchten wir lediglich rund sechseinhalb Stunden für den Weg nach Europa, namentlich nach Dublin im schönen und grünen Irland. Von dort ging es weiter nach Schiphol in den Niederlanden. Wir hatten Special Service gebucht, weil ich die Distanzen auf den internationalen Flughäfen nicht mehr laufen kann. Auch der Weg durch den Schlauch in das Flugzeug wird immer schwieriger. Kurz gesagt, jemand muss mich im Rollstuhl bis an die Flugzeugtüre fahren. Das geschieht idealerweise in dem Zeitfenster zwischen dem Einsteigen der Businessklasse, der Familien mit Kleinkindern und der Economyklasse. Das erspart allen Beteiligten jede Menge Ärger und vor allem mir das ungenierte Gaffen beim Hinsetzen. Leider hatte das in Dublin dieses Mal gar nicht geklappt. Special an meinem Special Service war bloß, dass ich fast als Letzter in das Flugzeug gelassen wurde. Ich wurde von unserem Kabinengepäck getrennt, weil aller Stauraum in der Kabine schon mit Handgepäck voll war. Pech gehabt, könnte man meinen. Nur dass in meinem halt meine Medikamente sind, die ich schon ganz gerne bei mir hätte. Außerdem bin ich beim Ausziehen und Hinsetzen auch nicht gerne die Attraktion für Zeitgenossen, die ihre Mimik nicht im Griff haben. Schon gar nicht frühmorgens um fünf und mit einem Transatlantikflug in den Knochen und Gelenken. Besonders gefreut habe ich mich dann über die Konversation mit einer jugendlichen Handelsreisenden, die partout nicht verstehen wollte, inhaltlich wie akustisch, dass mir völlig klar war, dass sie den Sitzplatz in derselben Reihe gebucht hatte, ich aber ohne Hilfe nicht alleine aufstehen konnte, um sie dorthin zu lassen. Wenigstens begriff ihr Begleiter, an den sie sich hilfeheischend gewandt hatte, mein Problem. Juliane und er halfen mir auf die Beine, und meine neue Reisebekanntschaft konnte sich endlich setzen. Besagte junge Dame schrumpfte wenig später in ihrem Sitz zusammen, als ich mich bei der Stewardess über diesen extravaganten Special Service beschwerte. Ich wusste (und erklärte), dass das Kabinenpersonal nicht dafür verantwortlich zu machen war, aber ich hatte einfach das Bedürfnis, meinem Ärger Luft zu machen. Ich versuchte der wirklich freundlichen und verständigen Flugbegleiterin auch klar zu machen, dass es mir nicht um Vorteilsnahme ging. Wir waren alle gleich und hatten alle unsere Tickets bezahlt. Aber ich war der mit den chronischen Schmerzen und dem Schauwert für Einfältige. Behinderung ist kein Privileg, sie ist eine Last.
Die Ankunft in Schiphol entschädigte mich für all den Ärger. Ich fiel in die fürsorglichen Hände einer Flughafenangestellten aus Kap Verde, die Juliane und mich gutgelaunt und flink quer durch den riesigen internationalen Flughafen Amsterdam, an unser Gepäck und ins Taxi lotste. Ihren fröhlichen und zugleich autoritären Warnruf an Passanten hätte ich gerne als Klingelton. Die elektrischen Flughafengefährte fühlen sich außerordentlich schnell an, und bei den Reaktionszeiten mancher Fußgänger auf Warnung und Zuruf wird es einem als Fahrgast manchmal Angst und bange. Assoziationen und Ähnlichkeiten mit flüchtenden Herdentieren in Naturfilmen sind naturgemäß rein zufällig.
Auch im Taxi fühlte ich mich widernatürlich beschleunigt. Der Fahrer war jung und südländisch und führte mir eindrücklich die Mentalitätsunterschiede zwischen den USA und Europa vor Augen. Auf den Highways ging es alles in allem doch recht ruhiger als auf den Autobahnen zu. Ich saß vorne im schnittigen Mercedes, mein Magen gab sich fröhlich der Fliehkraft hin, und meine Finger krallten sich unweigerlich in den Türgriff. Vielleicht war der Taxifahrer auch enttäuscht, dass unser Fahrziel so nahe am Flughafen lag und wollte die Fuhr so schnell wie möglich erledigt haben. Jedenfalls nahmen wir die Auf- und Abfahrten recht sportlich und überholten und schnitten wie die Weltmeister. Erstmalig verspürte ich so etwas wie Sehnsucht nach den behäbigen Automatikautos in den USA.
Wobei mein erster Eindruck ein völlig anderer war. Der Blick aus den Seitenfenstern des Taxis offenbarte eine völlig andere Welt. Im Vergleich mit den USA, insbesondere mit dem baufälligen Flughafen La Guardia und den schlaglochverseuchten Stadtautobahnen von New York, wirkten die Niederlande besenrein. Den Reinigungstrupp mit der Kehrmaschine mussten wir gerade verpasst haben. Nirgends lag Abfall oder Plastikmüll in der Landschaft. Auch nicht an den Autobahnrändern unter den Leitplanken, wo sich an den Highways vom Becher bis zum Hirschkadaver alles türmt und häuft, was Gott aus Respekt vor der Schöpfung verboten hat. Wasser und Uferböschungen der Grachten waren nicht sauber, sondern rein. Der Asphalt schimmerte blassgrau und makellos in der lückenlosen Straßenbeleuchtung. Umgekehrt wirkten Häuser und Straßenzüge (mit Ausnahme der gigantischen Flughafenhallen von Schiphol) wie Modelle. Wie eine sauberere und dadurch zum Großteil hübschere Kleinbahnanlage. Sogar die Schottergruben und LKWs wirkten wie maßstabsgetreue Miniaturen. Im Vergleich zu den Dimensionen dergleichen Infrastruktur in den USA. Aus dem gleichen Blickwinkel sah von einem Truck in den USA zum Beispiel nur einen Reifen und ein bisschen was vom Kotflügel. Vom europäischen Lastraftwagen auf der Nebenspur sah ich hier etwas mehr. So gestaltete sich der kurze Fahrweg von der Ankunftshalle in unser Hotel schon zum intensiven und lehrreichen Kontrastprogramm. Wie schnell gewöhnten wir uns an Lebensumstände. Umgebung und Umgang wurden so schnell als selbstverständlich und gegeben akzeptiert, dass es einen Flug über einen Atlantik brauchte, um mir das Alltägliche als das Besondere erfahrbar zu machen.
So etwas wie einen Jetlag kannte ich bisher nicht. Noch nicht einmal, als ich nach Neuseeland geflogen war. Aber der Mensch wird nicht jünger, und bei mir zeigten sich bei Ankunft im Hotelzimmer unleugbare Zeichen von Materialermüdung. Ich verschlief quasi einen ganzen Tag und wurde nur von dem meiner Meinung nach typisch österreichischen Schreck geweckt, das Abendessen zu verpassen. Dies geschah uns nicht, und Juliane und ich aßen redlich und für vier. Obwohl die Hotelküche eine Allerweltsvariation aus Tiefkühl- und Halbfertiggerichten anbot, schmeckte das alles ganz vorzüglich. Bestimmt, weil die Hauptzutaten der Fertigkost nicht wie andernorts Zucker und/oder Fett waren. Nach dem opulenten Mahl gingen wir zurück ins Bett. Um vier Uhr morgens waren wir putzmunter und nahmen einen Lavendeltee. Nur wenige Stunden später ging es mit dem Zug nach Frankfurt am Main.
Der Bahnhof lag fußläufig. In nur wenigen Minuten, einmal über die Straße, eine steile Treppe nach oben und durch einen elektrischen Schranken (Durchgang nur mit gültigem Bahnticket), standen wir mit unserem Gepäck auf dem Bahnsteig. Einziges Problem, es war der falsche Bahnhof. Nicht Schiphol Airport, sondern eine Station weiter. Anders wäre es ja auch zu einfach gewesen. Nicht nur das, die siebzig Euro Kosten für die Fahrt nach Amsterdam Hauptbahnhof wollten wir mit einer Fahrt in der Regionalbahn sparen. Gut so, denn wir sollten dort gar nicht hin. Unser ICE nach Frankfurt fuhr von Utrecht Hautbahnhof (nicht von Amsterdam Hauptbahnhof). Nun war so etwas in den Niederlanden zum Glück kein Problem, weil gefühlt und tatsächlich alle drei bis vier Minuten Züge in alle Richtungen fuhren. Gut mit Fahrgästen jeden Alters gefüllte Garnituren, die einmal mehr belegen, dass wenn ein Nahverkehrsangebot besteht, es auch genutzt wird. Mit einem solchen Pendelzug erreichten wir ausreichend im Voraus Schiphol Airport und konnten in den Zug nach Utrecht Hauptbahnhof einsteigen. Als selbiger Zug in die Station einfuhr, erkannten wir, dass es genau der war, der die ganze Zeit über leer im letzten Bahnhof gestanden hatte. Da aber leider keine Zugnummer angezeigt worden war, hatten wir ihn nicht erkannt. Die freie Platzwahl hatten wir somit verpasst, in Schiphol füllte er sich rasch bis auf den letzten Sitzplatz. Juliane und ich fanden in der zweiten Klasse keine freie Bank mehr, also reisten wir stilsicher auf den Klappsesseln neben den Waggontüren in der ersten Klasse. Wobei Juliane ihren Sitzplatz für ein Mädchen auf Krücken aufgab und den Rest der Fahrt nach Utrecht stand. Vor den kleinen Gangfenstern flog die Landschaft rasch vorbei. Grün und besenrein. Und alles andere als menschenleer. Kein Fleckchen Erde, dem Meere abgetrotzt, präsentierte sich unbewohnt oder unbestellt. Endlich entdeckte ich Plastikmüll. „Endlich“ nur um der Vollständigkeit willen. Zu groß wäre andernfalls der Schock gewesen. Weiß schwammen Flaschen und Beutel auf der Wasserspiegelfläche der Grachten und Kanäle. Bis ich begriff, dass es sich bei dem auf den Wellen tanzenden „Müll“ um fröhlich paddelnde Enten handelte.
Die Durchquerung des Ruhrpotts lieferte indes wieder vertraute Eindrücke. Eingestürzte Werkhallen, verlassene Güterbahnhöfe, Industrieruinen mit Graffitiverzierungen geringen künstlerischen Werts und endlich ein bisschen Dreck auf der Böschung. Immer noch zu wenig, um anheimelnd zu wirken, aber immerhin vorhanden. Frankfurt, allen gehegten Vorurteilen zum Trotz, zeigte sich sogar im Bahnhofsviertel von seiner einladenden Seite. Langsam regte sich in mir der Verdacht, ein moderner Potemkin scheuchte Kulissenmaler und Reinigungstrupps vor mir her. Europa war während meiner einjährigen Abwesenheit beunruhigend sauber geworden. Es gab öffentlichen Raum. Menschen gingen auf gekehrten Fußwegen, Kindergruppen liefen über Grünflächen und Spaziergänger durch Parkanlagen. Was war mit mir passiert, dass sogar die unattraktiven Teile der hessischen Bankenstadt anheimelnd und wohnlich auf mich wirkten. Ins Schwärmen hätte ich kommen können, hätte mich der „hessische Charme“ nicht wieder auf den Boden der Tatsachen geholt. US-amerikanischen und österreichischen Umgangston gewöhnt, erfrischt ein wenig bundesdeutsche Authentizität wie ein kalter Wasserguss ins Genick. Besonders wenn ein Kellner auf „hessisch“ spaßig wird und mit mir über Fußball „scherzen“ will. Fußball? Kenn ich nicht. Moment! Klar doch: Philadelphia Eagles gegen New England Patriots! Ach, das meinen Sie nicht? Dann weiß ich auch nicht…
Aber ich will kein undankbarer Gastfreund sein. Ich muss mich an der Stelle bei unserem Gastgeber bedanken, der mich solange in seiner Wohnung hausen ließ wie Juliane ihr Blockseminar unterrichtete und ihre Gutachter traf. Mit ihm gab es einige gute Gespräche buchstäblich über Gott und die Welt. Aber auch der aktuellen politischen Situation geschuldete Trauerarbeit. Über Zustand und Verfassung der SPD und neuangelobte Regierungen in Nachbarstaaten. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, mich in aller Ruhe auf meine Aufnahmen im ORF-Funkhaus vorzubereiten. Es gab einiges an Texten zu überarbeiten und auszuformulieren.
Jetzt folgte der zweite FTL-Sprung: Sieben Stunden im ICE von Frankfurt nach Wien. Im Geiste verfasste ich einen neuen potentiellen Rammstein-Hit, mit dem Titel „Mir tut der Arsch so weh!“ Die Reise war fatal. Unterwegs bekam ich einen Gusto auf ein Paar Frankfurter. Bedauerlicherweise gab es im Speisewagen noch nicht einmal „Wiener Würstchen“, bloß Currywurst. Wer wird mit seiner Gattin streiten, wenn sie einem eine Freude machen möchte. Ich brachte es nicht übers Herz, die von ihr mitgebrachte Speise abzulehnen und aß die Currywurst in ihrer fragwürdigen Gewürztunke. Ab Passau wuchs das ungute Gefühl in mir, in St. Pölten schäumte mir der Magen. Die Eltern holten uns ab, es gab ein schönes Wiedersehen. Kaum schloss ich hinter beiden die Eingangstür, gab es für die Currywurst kein Halten mehr. Unbedingt wollte sie einen Blick auf unser Wiener Vorzimmer, die Toilette und das Badezimmer werfen. Der Wiener und die Currywurst konnten nicht zusammenbleiben. Geschweige denn zusammen ruhen. Das war ein freudiges Hallo bis zum Morgengrauen. Nur gut, dass wir um 8:30 schon den Termin auf der US-Botschaft hatten.
Auf der US-Botschaft zeigte es sich, dass Juliane und ich die Ersten in der Warteschlange waren. Wir waren pünktlich erschienen. Wir waren sogar etwas zu früh. Wir waren da. Unsere Anträge nicht. Der Mann am Schalter sagte, er könne uns nicht helfen. Wir müssten wiederkommen. Jeder Termin mit der US-Botschaft kostete mehrere hundert Dollar. Pro Person. Diese Tatsache trug nicht gerade zur Entspannung der Situation bei. Zum Glück war meine liebe Frau recht schnell für meinen Einwand offen, dass es sich nicht empfahl, in einer militärbewachten US-Einrichtung zu randalieren. Die Herren trugen uns hinaus, bevor wir unseren Einwand formulieren konnten. Der Mann hinter der Glasscheibe zeigte aber auch das Beamtengesicht Österreichs. Das zu interpretieren, musste man gelernter Österreicher sein. Karl Kraus gelesen zu haben, half maßgeblich. Die teilnahmslose Blässe durfte man jetzt nicht mit Unfreundlichkeit verwechseln, wies er doch verklausuliert deutlich auf die Hintertür hin: Da stand ein Computer für den Publikumsverkehr bereit, von dem wir unsere Anträge stellen konnten. Beeilten wir uns, das Ding in die Finger zu bekommen und alles auszufüllen, brauchten wir keinen neuen Termin. Juliane hatte bestens organisiert alles Notwendige bei sich. Trotzdem brauchten wir für jedes Formular fast eineinhalb Stunden. Und das für jeden von uns. Zum Glück waren wir so früh da gewesen. Und im letzten Moment drohte trotzdem noch alles zu scheitern. Die offiziellen Bilddateien für das Visum waren zu groß, um sie hochzuladen. Ich versuchte die Dateien irgendwie zu verkleinern. Indes das Bildbearbeitungsprogramm auf dem Rechner war in Chinesisch. Meine Nerven lagen blank. Just jetzt wollte eine andere Antragstellerin von mir wissen, wann sie den Computer nutzen konnte. Ob ich ein Problem hätte, und ob sie mir helfen konnte. Ich war kurz davor, ein wenig mehr Privatheit einzufordern. Ich entschied mich dagegen, überließ Juliane das Reden. Es zeigte sich, dass uns das Schicksal eine türkische Bildbearbeiterin geschickt hatte. Sie reduzierte, die Götter wissen wie, die Bildgröße unserer Dateien um genau so viel, dass wir sie hochladen konnten. Unsere Anträge gingen dank ihr direkt nach Washington und kamen recht flott bearbeitet wieder zurück. Unsere Visa wurden verlängert. Drei Tage später kamen sie mit dem Botendienst.
Da lag ich schon krank im Bett. Am Wochenende konnte ich gerade noch meine Kernfamilie anlässlich meines vierzigsten Geburtstags treffen, und sie bei dieser feierlichen Gelegenheit auch gleich alle anstecken. Schon an diesem Abend rüttelte mich der Schüttelfrost und klapperten mir die Zähne im Fieber. Die Grippe nahm mir die Entscheidung ab, wen ich aller in der kurzen Zeit meines Wienaufenthaltes treffen konnte. Die Antwort war simpel: Niemanden. Das einzige, was ich von Wien zu sehen bekam, waren meine Wohnung und mein Bett. Kaum ging es mir halbwegs besser, gesellte sich Juliane zu mir aufs Krankenbett. Da lagen wir jetzt beide im Fieber und fürchteten um den Rückflug. Mit Grippe überquerte es sich so schlecht den Atlantik.
Doch die Viren hatten ein Einsehen. Sie starben rechtzeitig, so dass wir unseren Rückflug nehmen konnten. Bevor es soweit war, konnte ich noch einen notwendigen Behördenweg erledigen. Ich erfreute mich am zuerst süffisanten Beamtenlächeln, das sich zum Ende unseres Gesprächs in eine helfende Hand beim Aufstehen verwandelte. Ehrlich gesagt, es wäre mir auch lieber gewesen, wenn ich diesen Termin niemals hätte wahrnehmen müssen. Aber wie der große Philosoph Robbie Williams einmal sang: „I sit and talk to God. And he just laughs at my plans.
Und dann der Rausschmeißer: Aus Gründen, die nur der wahre Freund und Kenner von Unternehmensprosa der Telekommunikationsbranche verstehen und schätzen kann, wurde meine Geschäftsemailadresse gelöscht. Ich hatte einen mobilen Datenstick gekündigt, aber im Schreiben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alle anderen Vereinbarungen davon unberührt bleiben sollten. Seither bemüht sich der technische Support des Service Teams um die Wiederherstellung meiner Mailbox. Ärgerlicher Weise liegt die Betonung auf „bemühen“. Nach mehreren leeren Versprechungen habe ich die Hoffnung aufgegeben, meine Adresse jemals wiederhergestellt zu bekommen. Man wünschte sich, die Anbieter wären beim Kundenservice so prompt und buchstabengetreu wie zu ihren eigenen Gunsten.
Ein bisschen schwitzend vom Reise- und restlichem Grippefieber traten wir montags und zu nachtschlafender Zeit den Heimflug in die USA an. Daheim, das war für mich da, wo ich meinen gemeinsamen Haushalt mit meiner Frau habe. Das wurde mir auf dieser Reise so richtig klar. Ob dieser Ort nun in Dschibuti oder auf Grönland lag, war mir inzwischen herzlich egal. Überhaupt hat sich meine Perspektive verändert. Gemessen schon alleine daran, dass in meinem geschätzten Heimatland so viele Menschen leben wie in der Stadt New York. Diesen geliebten Moloch, dieses Gebirge aus Hochhäusern und Wolkenkratzen, den Schmelztiegel der Nationen flogen wir von Kopenhagen an. Dank Inger habe ich inzwischen ein positives Vorurteil für Dänemark entwickelt, indes der Flughafen von Kopenhagen gab sich unglaublich elegant und gastlich. Der Special Service verfügte über einen eigenen Aufenthaltsbereich mit Polstermöbeln und Trinkwasser. Durch die unterschiedliche Lichttemperatur der Lampen und den Bäumen vor den Fenstern, wirkte dieser Bereich etwas wie auf einer Raumstation. Ein bisschen unwirklich. Ich saß pünktlich und ohne Verzögerungen im Flugzeug. Einziger Wermutstropfen: Ich konnte den herrlichen Lego-Laden nicht besuchen. Juliane hätte sich allerdings auch wenig gefreut, glaube ich, hätte ich ihr eine Legoburg angeschleppt und in New Haven im Wohnzimmer aufgebaut.
Die wahre Größe der Vereinigten Staaten wird erst nach einem Transatlantikflug wirklich erfassbar. In Newark gelandet waren wir gegen halb zwei nachmittags. Es tat gut, die etwas schäbige Monstrosität der Neuen Welt wiederzusehen. Sofort fühlte ich mich wieder zuhause. Die bloßen Füße in Flipflops und die Leggings bei Wintertemperaturen und Schnee trugen ihren Teil dazu bei. Die afroamerikanische Dame, die meinen Rollstuhl schob, war um vieles älter als ich und wirkte gesundheitlich auch um einiges hinfälliger als ich auf mich. Was objektiv Unfug war, aber Menschen in diesem Alter arbeiten in Europa nicht mehr. Dank ihr hatten wir gegen drei unsere Koffer und waren schon beim Shuttledienst für unsere Fahrt nach New Haven angemeldet. In Europa lagen wir höchstens nach einer Stunde schon frisch geduscht in einem Bett. Hier dauerte es eine Stunde bis uns unser Fahrer abholte. Wir waren natürlich just in das Zeitfenster gelandet, in dem keine Züge von Newark nach New Haven fuhren. Und bis abends wollten wir nicht warten. Unsere Limousine, ein schwarzer Lincoln, kam auch etwas früher als befürchtet. Und wir waren die einzigen Fahrgäste, so dass uns der Driver auch zu unserer Wohnadresse fahren konnte. Andernfalls hätten wir einen Uber von der Uni nehmen müssen. Das blieb uns erspart. Nicht aber die Rushhour. Und man fragt sich wirklich, warum dieser Zustand so genannt wird, weil dann nämlich gar nichts „eilt“, sondern alles stillsteht. Um halb sieben abends waren wir endlich zuhause. Und keine Dreiviertelstunde später beide frisch geduscht im Bett.

Fortsetzung folgt…

Wir waren rechtzeitig zum nächsten Schneesturm zurück, mit Blitz und Donner...