Teil 27: Europareise
Schon wieder. Wie zu erwarten war,
bin ich froh, dass es vorbei ist. Das ist jetzt gar nicht abwertend oder despektierlich
wider die Alte Welt gemeint. Europareisen stehen für Juliane und mich einfach
unter keinem guten Stern. Das beweist sich leider immer wieder. Utrecht bleibt
mir diesbezüglich unvergessen. Und auch diese Heimreise gestaltete sich – naja,
sagen wir mal: anspruchsvoll.
Dabei hat die Reise ganz normal
begonnen. Ausführliche Planung half den Irrtum durch den Fehler zu ersetzen.
Und zu unserer großen Freude war uns vor und am Start keiner unterlaufen. Meine
neu verschriebenen Medikamente hatte ich noch nicht erhalten (und ich habe sie
noch immer nicht), zu viele offene Fragen vonseiten der Krankenversicherung.
Aber meine Freundinnen, die Krankenschwestern der Photopheresestation,
versicherten mir, dass ein Transatlantikflug nicht der Ort war, wo ich mit
Immunsuppressivum sein wollte. Die Grippewelle war in vollem Schwange. Dies
Menetekel vor Augen gab uns Hatty den Rat, im engen Flieger einen Mundschutz zu
tragen. Mehr noch, sie gab uns die entsprechenden Masken gleich mit.
Krankenhausstandard in dezentem Rosa. So waren uns Raum und Beinfreiheit
garantiert. Dazu noch ein wenig gehustet, mit dem geröchelten Hinweis: „Ich
habe die Pest!“, schon konnte man sich ausstrecken und breit machen. So der
Plan. Der perfide.
Wir hatten sorgfältig nur das
Notwendigste gepackt. In meinem Fall beinhaltete das zusätzlich einen mobilen
Handlauf für das Bad und einen formschönen, äußerst eleganten Sitz für
rückwärtige Angelegenheiten. Zwei Accessoires, die mir das unstete Gefühl
vermittelten, nicht bloß besondere Bedürfnisse zu haben, sondern downhill
unterwegs auf den Kompost zu sein. Kurz: Ich fühlte mich angesichts dieser
notwendig gewordenen, sperrigen Mitbringsel reichlich alt und hinfällig. Mein
unbedachter Kommentar zu dieser Beobachtung zog eine erfrischende Kopfwäsche
vonseiten der Gattin nach sich, die mir nicht nur die Wadeln nach vorne,
sondern auch den Sinn wieder zurecht rückte. Mein loses Mundwerk verwünschend
fand ich mich zwei riesigen Überseekoffern gegenüber, zu denen sich auch noch
das Kabinengepäck gesellte. Kaum zu glauben, was für Zeug wir mit uns führten,
um gerade Mal vierzehn Tage in Europa zu verbringen.
Wobei die Reise nicht bloßes
Vergnügen war, und schon gar kein Urlaub. Unsere Visa mussten an der
US-Botschaft in Wien verlängert werden. Das heißt, wir mussten ausreisen, um
den Antrag auf Verlängerung an der ausstellenden Behörde stellen. Hätten die
USA irgendwelche Gründe, uns nicht wieder hinein zu lassen gehabt, wären wir
draußen geblieben. Da half kein Murren und Knurren. Und Termine an der
US-Botschaft waren kostspielig. Aber dazu später mehr.
Um es einmal in der Sprache der
von mir sehr geschätzten Sciencefiction zu formulieren, der erste FTL-Sprung (=
„faster than light“-„Schneller als das Licht“) war für mich nie das Problem. Weder
körperlich noch geistig. Es war bisher immer der vermaledeite zweite. So war der
erste, der Transatlantikflug, weder für Juliane noch für mich ein Problem. Dank
massiven Rückenwindes brauchten wir lediglich rund sechseinhalb Stunden für den
Weg nach Europa, namentlich nach Dublin im schönen und grünen Irland. Von dort
ging es weiter nach Schiphol in den Niederlanden. Wir hatten Special Service
gebucht, weil ich die Distanzen auf den internationalen Flughäfen nicht mehr
laufen kann. Auch der Weg durch den Schlauch in das Flugzeug wird immer schwieriger.
Kurz gesagt, jemand muss mich im Rollstuhl bis an die Flugzeugtüre fahren. Das
geschieht idealerweise in dem Zeitfenster zwischen dem Einsteigen der Businessklasse,
der Familien mit Kleinkindern und der Economyklasse. Das erspart allen
Beteiligten jede Menge Ärger und vor allem mir das ungenierte Gaffen beim
Hinsetzen. Leider hatte das in Dublin dieses Mal gar nicht geklappt. Special an
meinem Special Service war bloß, dass ich fast als Letzter in das Flugzeug
gelassen wurde. Ich wurde von unserem Kabinengepäck getrennt, weil aller
Stauraum in der Kabine schon mit Handgepäck voll war. Pech gehabt, könnte man
meinen. Nur dass in meinem halt meine Medikamente sind, die ich schon ganz
gerne bei mir hätte. Außerdem bin ich beim Ausziehen und Hinsetzen auch nicht
gerne die Attraktion für Zeitgenossen, die ihre Mimik nicht im Griff haben.
Schon gar nicht frühmorgens um fünf und mit einem Transatlantikflug in den
Knochen und Gelenken. Besonders gefreut habe ich mich dann über die
Konversation mit einer jugendlichen Handelsreisenden, die partout nicht verstehen
wollte, inhaltlich wie akustisch, dass mir völlig klar war, dass sie den
Sitzplatz in derselben Reihe gebucht hatte, ich aber ohne Hilfe nicht alleine
aufstehen konnte, um sie dorthin zu lassen. Wenigstens begriff ihr Begleiter,
an den sie sich hilfeheischend gewandt hatte, mein Problem. Juliane und er
halfen mir auf die Beine, und meine neue Reisebekanntschaft konnte sich endlich
setzen. Besagte junge Dame schrumpfte wenig später in ihrem Sitz zusammen, als
ich mich bei der Stewardess über diesen extravaganten Special Service
beschwerte. Ich wusste (und erklärte), dass das Kabinenpersonal nicht dafür
verantwortlich zu machen war, aber ich hatte einfach das Bedürfnis, meinem
Ärger Luft zu machen. Ich versuchte der wirklich freundlichen und verständigen Flugbegleiterin
auch klar zu machen, dass es mir nicht um Vorteilsnahme ging. Wir waren alle
gleich und hatten alle unsere Tickets bezahlt. Aber ich war der mit den
chronischen Schmerzen und dem Schauwert für Einfältige. Behinderung ist kein
Privileg, sie ist eine Last.
Die Ankunft in Schiphol entschädigte
mich für all den Ärger. Ich fiel in die fürsorglichen Hände einer
Flughafenangestellten aus Kap Verde, die Juliane und mich gutgelaunt und flink
quer durch den riesigen internationalen Flughafen Amsterdam, an unser Gepäck
und ins Taxi lotste. Ihren fröhlichen und zugleich autoritären Warnruf an
Passanten hätte ich gerne als Klingelton. Die elektrischen Flughafengefährte
fühlen sich außerordentlich schnell an, und bei den Reaktionszeiten mancher
Fußgänger auf Warnung und Zuruf wird es einem als Fahrgast manchmal Angst und
bange. Assoziationen und Ähnlichkeiten mit flüchtenden Herdentieren in
Naturfilmen sind naturgemäß rein zufällig.
Auch im Taxi fühlte ich mich
widernatürlich beschleunigt. Der Fahrer war jung und südländisch und führte mir
eindrücklich die Mentalitätsunterschiede zwischen den USA und Europa vor Augen.
Auf den Highways ging es alles in allem doch recht ruhiger als auf den
Autobahnen zu. Ich saß vorne im schnittigen Mercedes, mein Magen gab sich
fröhlich der Fliehkraft hin, und meine Finger krallten sich unweigerlich in den
Türgriff. Vielleicht war der Taxifahrer auch enttäuscht, dass unser Fahrziel so
nahe am Flughafen lag und wollte die Fuhr so schnell wie möglich erledigt
haben. Jedenfalls nahmen wir die Auf- und Abfahrten recht sportlich und
überholten und schnitten wie die Weltmeister. Erstmalig verspürte ich so etwas wie
Sehnsucht nach den behäbigen Automatikautos in den USA.
Wobei mein erster Eindruck ein
völlig anderer war. Der Blick aus den Seitenfenstern des Taxis offenbarte eine
völlig andere Welt. Im Vergleich mit den USA, insbesondere mit dem baufälligen
Flughafen La Guardia und den schlaglochverseuchten Stadtautobahnen von New
York, wirkten die Niederlande besenrein. Den Reinigungstrupp mit der
Kehrmaschine mussten wir gerade verpasst haben. Nirgends lag Abfall oder
Plastikmüll in der Landschaft. Auch nicht an den Autobahnrändern unter den
Leitplanken, wo sich an den Highways vom Becher bis zum Hirschkadaver alles
türmt und häuft, was Gott aus Respekt vor der Schöpfung verboten hat. Wasser
und Uferböschungen der Grachten waren nicht sauber, sondern rein. Der Asphalt
schimmerte blassgrau und makellos in der lückenlosen Straßenbeleuchtung. Umgekehrt
wirkten Häuser und Straßenzüge (mit Ausnahme der gigantischen Flughafenhallen
von Schiphol) wie Modelle. Wie eine sauberere und dadurch zum Großteil hübschere
Kleinbahnanlage. Sogar die Schottergruben und LKWs wirkten wie maßstabsgetreue
Miniaturen. Im Vergleich zu den Dimensionen dergleichen Infrastruktur in den
USA. Aus dem gleichen Blickwinkel sah von einem Truck in den USA zum Beispiel
nur einen Reifen und ein bisschen was vom Kotflügel. Vom europäischen Lastraftwagen
auf der Nebenspur sah ich hier etwas mehr. So gestaltete sich der kurze Fahrweg
von der Ankunftshalle in unser Hotel schon zum intensiven und lehrreichen Kontrastprogramm.
Wie schnell gewöhnten wir uns an Lebensumstände. Umgebung und Umgang wurden so
schnell als selbstverständlich und gegeben akzeptiert, dass es einen Flug über
einen Atlantik brauchte, um mir das Alltägliche als das Besondere erfahrbar zu
machen.
So etwas wie einen Jetlag kannte
ich bisher nicht. Noch nicht einmal, als ich nach Neuseeland geflogen war. Aber
der Mensch wird nicht jünger, und bei mir zeigten sich bei Ankunft im
Hotelzimmer unleugbare Zeichen von Materialermüdung. Ich verschlief quasi einen
ganzen Tag und wurde nur von dem meiner Meinung nach typisch österreichischen
Schreck geweckt, das Abendessen zu verpassen. Dies geschah uns nicht, und
Juliane und ich aßen redlich und für vier. Obwohl die Hotelküche eine Allerweltsvariation
aus Tiefkühl- und Halbfertiggerichten anbot, schmeckte das alles ganz
vorzüglich. Bestimmt, weil die Hauptzutaten der Fertigkost nicht wie andernorts
Zucker und/oder Fett waren. Nach dem opulenten Mahl gingen wir zurück ins Bett.
Um vier Uhr morgens waren wir putzmunter und nahmen einen Lavendeltee. Nur wenige
Stunden später ging es mit dem Zug nach Frankfurt am Main.
Der Bahnhof lag fußläufig. In nur
wenigen Minuten, einmal über die Straße, eine steile Treppe nach oben und durch
einen elektrischen Schranken (Durchgang nur mit gültigem Bahnticket), standen
wir mit unserem Gepäck auf dem Bahnsteig. Einziges Problem, es war der falsche
Bahnhof. Nicht Schiphol Airport, sondern eine Station weiter. Anders wäre es ja
auch zu einfach gewesen. Nicht nur das, die siebzig Euro Kosten für die Fahrt
nach Amsterdam Hauptbahnhof wollten wir mit einer Fahrt in der Regionalbahn
sparen. Gut so, denn wir sollten dort gar nicht hin. Unser ICE nach Frankfurt
fuhr von Utrecht Hautbahnhof (nicht von Amsterdam Hauptbahnhof). Nun war so
etwas in den Niederlanden zum Glück kein Problem, weil gefühlt und tatsächlich
alle drei bis vier Minuten Züge in alle Richtungen fuhren. Gut mit Fahrgästen
jeden Alters gefüllte Garnituren, die einmal mehr belegen, dass wenn ein
Nahverkehrsangebot besteht, es auch genutzt wird. Mit einem solchen Pendelzug
erreichten wir ausreichend im Voraus Schiphol Airport und konnten in den Zug
nach Utrecht Hauptbahnhof einsteigen. Als selbiger Zug in die Station einfuhr,
erkannten wir, dass es genau der war, der die ganze Zeit über leer im letzten
Bahnhof gestanden hatte. Da aber leider keine Zugnummer angezeigt worden war,
hatten wir ihn nicht erkannt. Die freie Platzwahl hatten wir somit verpasst, in
Schiphol füllte er sich rasch bis auf den letzten Sitzplatz. Juliane und ich
fanden in der zweiten Klasse keine freie Bank mehr, also reisten wir stilsicher
auf den Klappsesseln neben den Waggontüren in der ersten Klasse. Wobei Juliane
ihren Sitzplatz für ein Mädchen auf Krücken aufgab und den Rest der Fahrt nach
Utrecht stand. Vor den kleinen Gangfenstern flog die Landschaft rasch vorbei. Grün
und besenrein. Und alles andere als menschenleer. Kein Fleckchen Erde, dem
Meere abgetrotzt, präsentierte sich unbewohnt oder unbestellt. Endlich
entdeckte ich Plastikmüll. „Endlich“ nur um der Vollständigkeit willen. Zu groß
wäre andernfalls der Schock gewesen. Weiß schwammen Flaschen und Beutel auf der
Wasserspiegelfläche der Grachten und Kanäle. Bis ich begriff, dass es sich bei
dem auf den Wellen tanzenden „Müll“ um fröhlich paddelnde Enten handelte.
Die Durchquerung des Ruhrpotts
lieferte indes wieder vertraute Eindrücke. Eingestürzte Werkhallen, verlassene
Güterbahnhöfe, Industrieruinen mit Graffitiverzierungen geringen künstlerischen
Werts und endlich ein bisschen Dreck auf der Böschung. Immer noch zu wenig, um
anheimelnd zu wirken, aber immerhin vorhanden. Frankfurt, allen gehegten
Vorurteilen zum Trotz, zeigte sich sogar im Bahnhofsviertel von seiner
einladenden Seite. Langsam regte sich in mir der Verdacht, ein moderner Potemkin
scheuchte Kulissenmaler und Reinigungstrupps vor mir her. Europa war während
meiner einjährigen Abwesenheit beunruhigend sauber geworden. Es gab
öffentlichen Raum. Menschen gingen auf gekehrten Fußwegen, Kindergruppen liefen
über Grünflächen und Spaziergänger durch Parkanlagen. Was war mit mir passiert,
dass sogar die unattraktiven Teile der hessischen Bankenstadt anheimelnd und
wohnlich auf mich wirkten. Ins Schwärmen hätte ich kommen können, hätte mich
der „hessische Charme“ nicht wieder auf den Boden der Tatsachen geholt.
US-amerikanischen und österreichischen Umgangston gewöhnt, erfrischt ein wenig
bundesdeutsche Authentizität wie ein kalter Wasserguss ins Genick. Besonders wenn
ein Kellner auf „hessisch“ spaßig wird und mit mir über Fußball „scherzen“
will. Fußball? Kenn ich nicht. Moment! Klar doch: Philadelphia Eagles gegen New
England Patriots! Ach, das meinen Sie nicht? Dann weiß ich auch nicht…
Aber ich will kein undankbarer
Gastfreund sein. Ich muss mich an der Stelle bei unserem Gastgeber bedanken,
der mich solange in seiner Wohnung hausen ließ wie Juliane ihr Blockseminar
unterrichtete und ihre Gutachter traf. Mit ihm gab es einige gute Gespräche buchstäblich
über Gott und die Welt. Aber auch der aktuellen politischen Situation
geschuldete Trauerarbeit. Über Zustand und Verfassung der SPD und neuangelobte
Regierungen in Nachbarstaaten. Die meiste Zeit verbrachte ich damit, mich in
aller Ruhe auf meine Aufnahmen im ORF-Funkhaus vorzubereiten. Es gab einiges an
Texten zu überarbeiten und auszuformulieren.
Jetzt folgte der zweite
FTL-Sprung: Sieben Stunden im ICE von Frankfurt nach Wien. Im Geiste verfasste
ich einen neuen potentiellen Rammstein-Hit,
mit dem Titel „Mir tut der Arsch so weh!“ Die Reise war fatal. Unterwegs bekam
ich einen Gusto auf ein Paar Frankfurter. Bedauerlicherweise gab es im
Speisewagen noch nicht einmal „Wiener Würstchen“, bloß Currywurst. Wer wird mit
seiner Gattin streiten, wenn sie einem eine Freude machen möchte. Ich brachte
es nicht übers Herz, die von ihr mitgebrachte Speise abzulehnen und aß die Currywurst
in ihrer fragwürdigen Gewürztunke. Ab Passau wuchs das ungute Gefühl in mir, in
St. Pölten schäumte mir der Magen. Die Eltern holten uns ab, es gab ein schönes
Wiedersehen. Kaum schloss ich hinter beiden die Eingangstür, gab es für die Currywurst
kein Halten mehr. Unbedingt wollte sie einen Blick auf unser Wiener Vorzimmer,
die Toilette und das Badezimmer werfen. Der Wiener und die Currywurst konnten
nicht zusammenbleiben. Geschweige denn zusammen ruhen. Das war ein freudiges
Hallo bis zum Morgengrauen. Nur gut, dass wir um 8:30 schon den Termin auf der
US-Botschaft hatten.
Auf der US-Botschaft zeigte es
sich, dass Juliane und ich die Ersten in der Warteschlange waren. Wir waren
pünktlich erschienen. Wir waren sogar etwas zu früh. Wir waren da. Unsere
Anträge nicht. Der Mann am Schalter sagte, er könne uns nicht helfen. Wir
müssten wiederkommen. Jeder Termin mit der US-Botschaft kostete mehrere hundert
Dollar. Pro Person. Diese Tatsache trug nicht gerade zur Entspannung der
Situation bei. Zum Glück war meine liebe Frau recht schnell für meinen Einwand
offen, dass es sich nicht empfahl, in einer militärbewachten US-Einrichtung zu
randalieren. Die Herren trugen uns hinaus, bevor wir unseren Einwand
formulieren konnten. Der Mann hinter der Glasscheibe zeigte aber auch das
Beamtengesicht Österreichs. Das zu interpretieren, musste man gelernter
Österreicher sein. Karl Kraus gelesen zu haben, half maßgeblich. Die
teilnahmslose Blässe durfte man jetzt nicht mit Unfreundlichkeit verwechseln,
wies er doch verklausuliert deutlich auf die Hintertür hin: Da stand ein
Computer für den Publikumsverkehr bereit, von dem wir unsere Anträge stellen
konnten. Beeilten wir uns, das Ding in die Finger zu bekommen und alles
auszufüllen, brauchten wir keinen neuen Termin. Juliane hatte bestens
organisiert alles Notwendige bei sich. Trotzdem brauchten wir für jedes
Formular fast eineinhalb Stunden. Und das für jeden von uns. Zum Glück waren
wir so früh da gewesen. Und im letzten Moment drohte trotzdem noch alles zu
scheitern. Die offiziellen Bilddateien für das Visum waren zu groß, um sie
hochzuladen. Ich versuchte die Dateien irgendwie zu verkleinern. Indes das
Bildbearbeitungsprogramm auf dem Rechner war in Chinesisch. Meine Nerven lagen
blank. Just jetzt wollte eine andere Antragstellerin von mir wissen, wann sie
den Computer nutzen konnte. Ob ich ein Problem hätte, und ob sie mir helfen
konnte. Ich war kurz davor, ein wenig mehr Privatheit einzufordern. Ich
entschied mich dagegen, überließ Juliane das Reden. Es zeigte sich, dass uns
das Schicksal eine türkische Bildbearbeiterin geschickt hatte. Sie reduzierte,
die Götter wissen wie, die Bildgröße unserer Dateien um genau so viel, dass wir
sie hochladen konnten. Unsere Anträge gingen dank ihr direkt nach Washington
und kamen recht flott bearbeitet wieder zurück. Unsere Visa wurden verlängert. Drei
Tage später kamen sie mit dem Botendienst.
Da lag ich schon krank im Bett.
Am Wochenende konnte ich gerade noch meine Kernfamilie anlässlich meines
vierzigsten Geburtstags treffen, und sie bei dieser feierlichen Gelegenheit
auch gleich alle anstecken. Schon an diesem Abend rüttelte mich der
Schüttelfrost und klapperten mir die Zähne im Fieber. Die Grippe nahm mir die
Entscheidung ab, wen ich aller in der kurzen Zeit meines Wienaufenthaltes
treffen konnte. Die Antwort war simpel: Niemanden. Das einzige, was ich von
Wien zu sehen bekam, waren meine Wohnung und mein Bett. Kaum ging es mir halbwegs
besser, gesellte sich Juliane zu mir aufs Krankenbett. Da lagen wir jetzt beide
im Fieber und fürchteten um den Rückflug. Mit Grippe überquerte es sich so
schlecht den Atlantik.
Doch die Viren hatten ein
Einsehen. Sie starben rechtzeitig, so dass wir unseren Rückflug nehmen konnten.
Bevor es soweit war, konnte ich noch einen notwendigen Behördenweg erledigen.
Ich erfreute mich am zuerst süffisanten Beamtenlächeln, das sich zum Ende
unseres Gesprächs in eine helfende Hand beim Aufstehen verwandelte. Ehrlich
gesagt, es wäre mir auch lieber gewesen, wenn ich diesen Termin niemals hätte
wahrnehmen müssen. Aber wie
der große Philosoph Robbie Williams einmal sang: „I sit and talk to God. And he just laughs at my plans.”
Und dann der Rausschmeißer: Aus
Gründen, die nur der wahre Freund und Kenner von Unternehmensprosa der
Telekommunikationsbranche verstehen und schätzen kann, wurde meine
Geschäftsemailadresse gelöscht. Ich hatte einen mobilen Datenstick gekündigt,
aber im Schreiben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass alle anderen
Vereinbarungen davon unberührt bleiben sollten. Seither bemüht sich der
technische Support des Service Teams um die Wiederherstellung meiner Mailbox.
Ärgerlicher Weise liegt die Betonung auf „bemühen“. Nach mehreren leeren
Versprechungen habe ich die Hoffnung aufgegeben, meine Adresse jemals
wiederhergestellt zu bekommen. Man wünschte sich, die Anbieter wären beim
Kundenservice so prompt und buchstabengetreu wie zu ihren eigenen Gunsten.
Ein bisschen schwitzend vom
Reise- und restlichem Grippefieber traten wir montags und zu nachtschlafender
Zeit den Heimflug in die USA an. Daheim, das war für mich da, wo ich meinen
gemeinsamen Haushalt mit meiner Frau habe. Das wurde mir auf dieser Reise so
richtig klar. Ob dieser Ort nun in Dschibuti oder auf Grönland lag, war mir
inzwischen herzlich egal. Überhaupt hat sich meine Perspektive verändert.
Gemessen schon alleine daran, dass in meinem geschätzten Heimatland so viele
Menschen leben wie in der Stadt New York. Diesen geliebten Moloch, dieses
Gebirge aus Hochhäusern und Wolkenkratzen, den Schmelztiegel der Nationen
flogen wir von Kopenhagen an. Dank Inger habe ich inzwischen ein positives
Vorurteil für Dänemark entwickelt, indes der Flughafen von Kopenhagen gab sich
unglaublich elegant und gastlich. Der Special Service verfügte über einen
eigenen Aufenthaltsbereich mit Polstermöbeln und Trinkwasser. Durch die
unterschiedliche Lichttemperatur der Lampen und den Bäumen vor den Fenstern,
wirkte dieser Bereich etwas wie auf einer Raumstation. Ein bisschen unwirklich.
Ich saß pünktlich und ohne Verzögerungen im Flugzeug. Einziger Wermutstropfen:
Ich konnte den herrlichen Lego-Laden
nicht besuchen. Juliane hätte sich allerdings auch wenig gefreut, glaube ich,
hätte ich ihr eine Legoburg
angeschleppt und in New Haven im Wohnzimmer aufgebaut.
Die wahre Größe der Vereinigten
Staaten wird erst nach einem Transatlantikflug wirklich erfassbar. In Newark
gelandet waren wir gegen halb zwei nachmittags. Es tat gut, die etwas schäbige
Monstrosität der Neuen Welt wiederzusehen. Sofort fühlte ich mich wieder zuhause.
Die bloßen Füße in Flipflops und die Leggings bei Wintertemperaturen und Schnee
trugen ihren Teil dazu bei. Die afroamerikanische Dame, die meinen Rollstuhl
schob, war um vieles älter als ich und wirkte gesundheitlich auch um einiges hinfälliger
als ich auf mich. Was objektiv Unfug war, aber Menschen in diesem Alter
arbeiten in Europa nicht mehr. Dank ihr hatten wir gegen drei unsere Koffer und
waren schon beim Shuttledienst für unsere Fahrt nach New Haven angemeldet. In
Europa lagen wir höchstens nach einer Stunde schon frisch geduscht in einem
Bett. Hier dauerte es eine Stunde bis uns unser Fahrer abholte. Wir waren
natürlich just in das Zeitfenster gelandet, in dem keine Züge von Newark nach
New Haven fuhren. Und bis abends wollten wir nicht warten. Unsere Limousine,
ein schwarzer Lincoln, kam auch etwas früher als befürchtet. Und wir waren die
einzigen Fahrgäste, so dass uns der Driver auch zu unserer Wohnadresse fahren
konnte. Andernfalls hätten wir einen Uber von der Uni nehmen müssen. Das blieb
uns erspart. Nicht aber die Rushhour. Und man fragt sich wirklich, warum dieser
Zustand so genannt wird, weil dann nämlich gar nichts „eilt“, sondern alles
stillsteht. Um halb sieben abends waren wir endlich zuhause. Und keine
Dreiviertelstunde später beide frisch geduscht im Bett.
Fortsetzung folgt…
Wir waren rechtzeitig zum nächsten Schneesturm zurück, mit Blitz und Donner... |