Bisher erschienen:

Bisher erschienen:

Sonntag, 30. September 2018

Freitag, 14. September 2018

"Gedanken für den Tag", ab 17.9.2018 auf Ö1


Hier der Link zur Ö1-Homepage: https://oe1.orf.at/programm/20180917/526830

Und zur Sendereihe: https://oe1.orf.at/gedankenfuerdentag

[Hier stehen dann auch alle Sendungen zum Nachhören bereit.]

Montag, 3. September 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 38)


Teil 38: Hexenjagd


Das so genannte Kommunikations- und Informationszeitalter lässt mich sprachlos zurück. In all dem babylonischen Stimmenwirrwarr – Oder ist es ein regulierter und begradigter Strom? – weiß ich schön langsam nicht mehr, was ich sagen bzw. schreiben soll. Oder ob ich überhaupt noch Worte setzen möchte? Wo doch schon alles gesagt ist und gewusst wird. Ist es sinnvoll, dem anhaltenden Schwirren weiteres Gebrumm hinzuzufügen?
Mich überkommen große Zweifel, dass mich mein Schwarm versteht. Nicht etwa weil ich so schlau, und die andern so dumm sind. (Dieser Gedanke erscheint dieser Tage vielen am wahrscheinlichsten und darum auch am glaubwürdigsten. Gerade weil das so ist, und der Einfallsreichtum der Feindseligen erfahrungsgemäß beschränkt ist, wird dieser vielfältige Trugschluss oft und gerne dem Gegenüber zum Vorwurf gemacht oder zur Intrige und üblen Nachrede genutzt.) Aber nein, sondern weil ich erschüttert und verwirrt bin, ob ich jemals wieder den richtigen Ton treffen werde, dass meine Stimme in dem Kanon da draußen klar und verständlich gehört werden kann. Kanon, weil ich deutlich verschiedene Tonlagen denselben Text zeitversetzt und unter unterschiedlichen Vorzeichen absingen höre.
Das liegt natürlich auch daran, dass ich eine Existenz führe, die mich mit einem Bein in der Neuen und mit dem andern in der Alten Welt stehen lässt. In der Grätsche wie die historisch falsche aber eindrückliche Vorstellung des Kolosses von Rhodos über der Hafeneinfahrt der griechischen Insel. Oder wie der venezianische Markuslöwe, der mit seinen Vorderpfoten auf dem Festland und mit den Hinterpfoten auf dem Meer steht. Zu allem Überfluss hat dieses Wappentier auch noch Flügel, so dass überhaupt nicht mehr klar ersichtlich ist, welches der drei sein Element ist, Wasser, Erde oder Luft. Armes verwirrtes Katzentier. Woher soll ich dann wissen, welche inzwischen meine geistige Heimat ist, Europa oder die USA?
Meine „speziellen Bedürfnisse“ haben meine Sichtweise noch weiter verschoben, sie haben mich noch weiter aus dem Mittelwert gerückt. Hier wie dort auch. Andererseits haben sie meinen Blick geschärft. Es wäre verleugnend, wenn ich die in mir wachsende Enttäuschung übersehen oder verschweigen würde. Könnten wir, d.h. die Bewohner der so genannten westlichen Welt, alle Vorzüge und guten Eigenschaften der Vereinigten Staaten und Europas tatsächlich zu einer Kultur vereinen, wir lebten in der perfekten Welt. Stattdessen werden Argumentationslinien und Gedankenmuster übernommen, die in der sich über Jahrhunderte entwickelten geistigen und wirtschaftlichen Umwelt des jeweils anderen Kontinents keinen Lebensraum hätten. Gäbe es da nicht eine ebenfalls geschichtlich begründete intellektuelle und emotionale Leere, die diese endemischen Geistesunkräuter als ökologische Nischen ausnutzen könnten. Ich lebe im Heiligen Land der First Church of Income, und es ist bei Gott kein Garten Eden. Und es war nicht die Schlange, die den Hain verwüstete, Adam und Eva haben sich selbst in die Rabatten gekackt.
Ich habe auf die harte Tour gelernt, durch langes vergebliches Warten, dass das, was viele Reisende für Freundlichkeit halten, bloße Scharade ist. Der angekündigte Rückruf, ein leeres Versprechen. Und das mit großer Geste gegebene Versprechen, sich um etwas zu kümmern, der Verheißung entspricht, dass das Christkind die Geschenke bringt. Die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen gilt nur während der Bürozeiten. Und im Job macht ja jede und jeder einmal einen Fehler. An dieser Stelle verständiges Zuzwinkern und sich den Ellenbogen verschmitzt grinsend in die Seite stupsen. Schön wäre es, gälte dasselbe auch für die Konsequenzen. Herrlich, wenn alle Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen und Kranken- und Sozialversicherung hätten, sobald in den Regierungsgebäuden die Stechuhr erklingt und das Licht ausgeht. Entweder man macht und hilft sich selbst, oder alles bleibt ungetan. So kommt es, dass man ständig allem und jedem hinterher ist. Wie ein Hund, der die vorbeifahrenden Autos jagt. Bleibt ein Köter dabei auf der Strecke, drüber springen und weiterhetzen. Ständig mit Musik im Ohr, dem Soundtrack des Lebens, kommt einem diese aufgezwungene und atemlose Existenz auch noch interessant vor. Weil der liebe Gott das so wollte, der allmächtige Dollar oder Euro.
Einige Ereignisse der letzten Zeit haben meine Wahrnehmungen und Überzeugungen auf harte Proben gestellt. Aus meiner isolierten Lage lebe ich weltabgewandt, der Gesellschaft (oder den Gesellschaften, der europäischen und amerikanischen) stets als Zuschauer zugewandt. Wie ein berühmter Schriftsteller, ich glaube, es war Frederic Morton, in etwa formuliert hat: Ich bin der Mann, der im Ballsaal tanzt und sich dabei durch das Schlüsselloch zusieht. Ich weiß, vielen ergeht es so wie mir. Und aus Angst, das Falsche zu sagen, schweigen einige für immer. Wie ein „wohlerzogenes“ Kind, das sich aus Angst vor der Reaktion der Eltern auf seine Bedürfnisse selbst verleugnet. Weil sie oder er gefallen will. Oder anders ausgedrückt: Kein Missfallen erregen und keine unberechenbare Reaktion heraufbeschwören möchte. Und das Schweigen, das Mundtotsein, wird nicht als Schüchternheit erkannt, sondern als Arroganz gedeutet. Das Verhalten als verrückt. Man möchte es zurecht rücken. Und geht das nicht, am liebsten ganz aus den Augen verlieren.
Anständig und menschlich ist man naturgemäß immer selbst. Die Entmenschlichung des Gegners ist ein seit jeher bewährtes Kampfmittel. Und so kommt es dann, dass der Karikaturist einer Propagandazeitung einer nationalsozialistischen Arbeiterpartei und der Werbemittelhersteller einer linken städtischen Bürgerpartei unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten auf dasselbe Sujet kommen, den politischen Gegner, das Objekt ihres (noch nicht einmal geleugneten) Hasses darzustellen oder besser gesagt zu diffamieren. Aber auch hier gilt die sprichwörtliche Ansicht, dass wenn zwei das Gleiche tun, es noch lange nicht dasselbe ist. Genannte Ursachen sind Unwissenheit, Naivität und fehlende Ressourcen. Aber in einer Zeit, die mehr als jemals zuvor an Programmierung, Genetik und damit wieder an Prädestination glaubt, erscheint auch dieses Dogma, genau wie diese Ausreden, mehr und mehr hinterfragwürdig. Schon im Bürgerlichen Gesetzbuch schützt Unwissenheit nicht vor Strafe. Auffällig ist auch, dass beim Hinweisen auf gewisse, ganz ähnlich geartete Textstellen in einschlägigen Liederbüchern der politischen Antipode, beinahe wortgleich dieselben Rechtfertigungen von den dort Beschuldigten ins Feld geführt werden: Unwissenheit, Naivität und mangelnde Ressourcen. Aber wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe! Tatsächlich? Allen, fast identischen Ausdrücken muss schließlich derselbe Quellcode, d.h.: eine bestimmte Weltsicht bzw. Menschenwahrnehmung, zugrunde liegen, oder jedenfalls ein nur wenig abweichender. Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über. Oder: An ihren Früchten wirst Du sie erkennen!
In Yale beginnt das neue Semester, und das behütete und aufwendig gehegte akademische Spalierobst kehrt in seine Gärten zurück. Aber auch der fruchtbare Boden dieser besonderen Gated Community wurde zwischenzeitlich von heftigen, unerwarteten Erdstößen erschüttert und aufgewühlt. Ein mittleres Erdbeben breitete sich aus New York City aus, dessen Ausläufer bis nach New Haven und weit darüber hinaus zu spüren waren. Und es waren und sind nicht die süßesten Früchte, die diese Umstände an den Trag bringen. Weder an den frischen grünen Trieben, noch an den tiefer verwurzelten Hölzern.
Am Beginn standen Polizeinotrufe weißer Bürgerrechtlerinnen und anderer Studenten wegen afroamerikanischer oder farbiger Kommilitonen. Diese hatten sich solcher Unglaublichkeiten schuldig gemacht wie einem Nickerchen in einem der Aufenthaltsräume eines Dormitorys, oder dem Fragen nach dem Weg in einer der weitläufigen Bibliotheken. Die Logik der Anrufer: Ist dein Gesicht im Farbton dunkler als ein reifer Cheddar-Käse, dann bist du eine collegefremde, weil bildungsferne Person. Am Ende stand ein Culture Clash der interkontinentalen Art für Juliane und mich.
Semesterende und -beginn bedeuten Kommen und Gehen, Umzüge allerorts. Unsere bisherigen Nachbarn zogen aus, neue besiedelten unseres und die Nachbarhäuser. So weit so gut. Aber nicht nur verlangt das Leben in den USA scheinbar stets nach einem Soundtrack, sondern dieser muss offenbar auch das kulturelle Erbe widergeben. Und Cultural Heritage, darüber verfügen nur Minderheiten und Randgruppen. Die etablierte Mehrheit lebt geschichtslos. Das ist im Wesentlichen aber bedeutungslos, denn der Krach war ganz gegenwärtig. Jeder Musik kann man sich nicht entziehen, und überschreitet sie ohne dazu eingeladen zu sein eine gewisse Lautstärke, dann wird sie als Lärm empfunden. Egal ob es sich dabei um eine gute alte europäische Sonate in F-Dur, den üblichen kommerziellen westlichen Globalisierungsbrei oder um südamerikanische Klänge handelt.
Mit unseren Latino-Nachbarn konnten wir uns schnell verständigen. Weder die Musikuntermalung der Basteleien am Harley Davidson-Motorrad und der Gartenarbeit (wenigstens wurde sie erledigt, und endlich die Müllhalden im Hinterhof entsorgt), noch ein Kindergeburtstag im Garten, der bis Mitternacht dauerte, störte uns. Trotz erster Verwirrung erschien das Konzept, die Kinder auch bis spätnachts wach zu halten, am nächsten Morgen als überaus sinnvoll. Die lieben Kleinen der Partygeber waren nämlich nicht schon frühmorgens wach und wollten unterhalten sein und spielen, sondern waren genauso erschöpft und müde wie die Erwachsenen. Der Familienvater konnte am Vormittag schon ungestört mit dem Aufräumen beginnen, was er gewissenhaft tat. Er kehrte sogar den Gehsteig. Nur, dass er dabei natürlich Musikuntermalung brauchte. Sollte so sein. So sauber war es um dieses Haus noch nie. Aber als der Radio alleine im Garten stand und lauthals aus den Boxen plärrte, schaute ich aus dem Küchenfenster und sah meine Gattin über die Wiese in den Nachbarsgarten stapfen. Nach einem kurzen höflichen aber bestimmten Gespräch war die Sache erledigt. Von dieser Seite unseres Hauses kam nie wieder ein Anlass zur Klage oder Beschwerde. Und Musik zu vernünftigen Tages- und Nachtzeiten ist keiner.
Ganz anders dagegen schaute es lange Zeit nach der anderen Seite aus. Dort zog eine Liebhaberin der gepflegten Rap Musik ein. In meinen Ohren Sprechgesang mit Werkstattgeräuschen unterlegt. Vom Text verstand ich immer entweder abwechselnd: Bitch, Dick, Money oder Fuck. Besonders fein war ein Refrain, der sich aufgrund seiner hämmernden Wiederholung unauslöschlich bei mir einprägte. Er lautete einmal (und ich entschuldige mich): „Suck the cock! Suck the sugar cock!“ Und danach: „Shoot the Cop! Shoot the Cop!” Allerliebst! Vor allem um Zwei Uhr morgens. Und so laut, dass du glaubst die Boxen stehen nicht im Nachbarhaus, sondern neben deinem Bett. Als dann auch noch das Smartphone klingelte, die liebe Nachbarin abhob, sich lauthals unterhielt, dazu begeistert kreischte und auch noch den Lautsprecher des Telefons anmachte, wurde meine Frau ungemütlich. Zunächst bat Juliane durch das geöffnete Fenster um Ruhe, britisch und gesittet. Aber als hätte sie nur darauf gewartet, antwortete unsere Nachbarin unmittelbar und wie aus der Pistole geschossen: „Shut up, bitch!“ Sie wollte ihr Gespräch auch gleich unverändert und im selben Habitus fortsetzen. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass europäische Aggression sich nicht auf bloßes Posieren beschränkte. Kurz gesagt, ich habe meine Frau noch nie so entschlossen gehört. Juliane erwiderte die ihr entgegengebrachte Freundlichkeit mit einer Deutlichkeit, die keinen Zweifel offen ließ. Und für diese Nacht war dann auch Ruhe. Aber das Ausloten der Belastbarkeit der anderen Mieter ringsum ging weiter.
Des Minenfeldes zu meinen Füßen bewusst, erkundigte ich mich bei einer Bekannten mit einschlägiger beruflicher Erfahrung, was ich in dieser Situation unternehmen könnte. Ich wurde glaubhaft gewarnt, dass Juliane als weiße und blonde Frau nicht hinüber gehen sollte, um das Gespräch zu suchen. Das, so versicherte mir meine Gesprächspartnerin, funktionierte bei Spanischsprachigen, aber nicht in diesem Fall. Zu gefährlich. Zu viele Ressentiments. Welche denn, fragte ich mich, aber nahm den Rat an. Wir Europäer hatten mit der US-amerikanischen Sklaverei nichts am Hut. Leibeigenschaft und damit de facto auch die Sklaverei waren seit dem 18. Jahrhundert dank Joseph II. in Österreich und dem Heiligen Römischen Reich verboten, also auch in Sachsen. Ab Elf Uhr nachts, riet man mir weiter, könnten wir die Polizei rufen. Diese Leute (!), sagte meine Bekannte, fürchteten sich vor der Polizei. Mit dem Nachsatz: Wir alle fürchten uns vor der Polizei.
Na toll! Rief ich beim nächsten Mal die Polizei wegen „dieser Leute“, bedeutete das doch automatisch, zurück zum Start. Also zurück zum Rassismus-Skandal. Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass das auch durchaus so beabsichtigt bzw. überlegt war. Keiner der Nachbarn traute sich, wegen der Lärmbelästigung die Cops zu rufen. Aus Angst, dafür an den Pranger gestellt zu werden.
Inzwischen ist jedoch Ruhe. Und ich frage mich, ob das Experiment beendet wurde, oder ob es ein Mitbewohner oder eine andere Mieterin geschafft hat, das Problem auf andere Weise in den Griff zu bekommen. Das Resultat ist jedenfalls dasselbe, ein ruhiges und friedliches Zusammenleben ist wieder möglich. Dass besagte Nachbarin auch nach wiederholtem Hinweis durch die Eigentümer immer noch in der Garage unserer (weißen) Vermieter parkt, ist mir aber inzwischen egal. Ich habe keine Lust, weiter in dieser Angelegenheit den Hausmeister oder den ABV zu mimen. Den Skandal soll sich bitte jemand anderer aufhalsen. Das System funktioniert!

Fortsetzung folgt…