Teil 39: Mein persönlicher Exorzismus vor Halloween
Nach einer längeren, zum Teil
unfreiwilligen Pause, ein neuer Blogbeitrag. Die Zeit vergeht viel zu schnell.
Vor kurzem war es noch Sommer, schweißtreibend und feucht, und schon ist der
Herbst fast wieder vorbei. Vor den Fenstern der Indian Summer, sonnig und bunt
bei Tag, aber schon ordentlich kalt in der Nacht. Die Squirrels sind
geschäftig, der Himmel ist blau, und die Blätter fallen langsam zu Boden. Schon
kann ich durch die hohen Baumkronen die Hausdächer vor dem Horizont dahinter
erkennen. Bei Sonnenuntergang brennen die Himmel. Unweigerlich muss ich bei
ihrem Anblick an die Ghost Rider in the
Sky denken. Nicht mehr lange, und der Winter ist da. Und noch viel
beeindruckender: Juliane und ich haben das Gefühl, soeben erst in den USA
angekommen zu sein und unsere Koffer ausgepackt zu haben, aber schon im März
2019 wird unser Aufenthalt in Connecticut zu Ende gehen. Ein zwiespältiger Gedanke,
bis dahin ist nicht mehr so lange hin. Seit unserer Ankunft in New Haven ist
viel mit und in uns passiert, Bemerkenswertes und Erinnerungswürdiges hat sich
in unseren Leben zugetragen. Vieles davon habe ich hier mit meinen Leserinnen
und Lesern geteilt. Danke!
Doch unsere Zeit in den USA ist
noch nicht vorbei, und ein neuer Lebensabschnitt steht uns bevor. Ideale
Voraussetzungen, um ein altes Übergangsfest mitzufeiern, eine Rite de Passage. Letztes Jahr haben wir
gelernt, dass wenn wir Halloween-Stimmung haben wollen, wir sie uns am besten
selbst machen. Die Umstände haben sich in den USA wie damals schon berichtet so
sehr verändert, dass es all das, was mir aus TV, Film und Comic über Halloween bekannt
war, in der freien Wildbahn nicht mehr gab. Jedenfalls nicht in New Haven.
Einige Berichte von Zwischenfällen haben sich wie so oft bei diesen Dingen als
Schauermär und Urban Legend herausgestellt, aber an einigem ist leider doch etwas
dran, und so ziehen keine verkleideten Kinder mehr abends durch New Haven und
fordern: Trick or Treat! In unserer
Nachbarschaft gibt es vereinzelt aufwendig und lustig geschmückte Häuser. Das
Lachen blieb mir beim Vorfahren öfters im Halse stecken, denn ein paar Häuser im
nahegelegenen Problemviertel Dixwell wurden rundherum mit Tatortbanderolen
umwickelt. Mit Scherzartikeln! Aber auf den ersten Blick und mit bestimmten
Erwartungen: Schock! Auf anderen Veranden lehnen lebensgroße Särge samt Inhalt,
versteht sich. Unsere unmittelbaren Nachbarn halten sich dagegen doch sehr
zurück. Kaum dass ein kleines Kürbisgesicht aus einem Fenster grinst. Intellektuelle
Spaßbremsen, wäre ich fast versucht zu sagen. Ganz anders Juliane, die bat mich
heuer um einen Kürbiskopf. Ich machte mich also bereit, mit krummen Fingern und
scharfer Klinge zur kreativen Tat zu schreiten. Das auszuhöhlende Gemüse wurde
auch brav von Peapod geliefert,
unserem Lebensmittelzusteller. Bei meinem ersten Versuch, den riesigen Plutzer
vom Tisch zu heben und in die Küche zu tragen, hat er mich um ein Haar
niedergestreckt. Das renitente Nachtschattengewächs war so schwer, dass es mich
von den Füßen riss.
Dieser Anschlag auf meine männliche Würde durfte nicht
unbeantwortet bleiben. Zufrieden beobachtete ich, wie er von meiner Frau
mühelos in meine Küche getragen wurde. Wo ich ihn ganz Halloween-mäßig
skalpierte und mittels einem Löffel sein Innenleben herausschälte. Mit zwei
Löffeln, um ganz ehrlich zu sein. Einer ging mir zu Bruch. Besondere Spannung
kam auf, als sich gelegentlich meine Finger verkrampften und mir mein Werkzeug,
von dem unerwarteten und heftigen Zucken beflügelt, um die Ohren flog. Doch
nichts hielt mich zurück. Der Kürbis wurde niedergerungen! Zum Zeichen meines
Sieges über die widerständige und eingeborene Vegetation füllen jetzt etliche
Gefrierbeutel mit Kürbisfleisch unser Gefrierfach. Die orangerote Pracht wird
auf längere Sicht so manchen Suppentopf füllen. Auf den Gewaltakt folgte der
künstlerische Teil. Michelangelo-artig las ich die Form und Oberfläche meines
Werkstückes. Zwar keines Marmorblocks, aber eines mächtigen Kürbisses. Und wie der
titanische Künstler – zu Lebzeiten und wiederum ganz in der Halloween-Tradition
stehend auch „la terrifica“ (das Schrecknis) genannt – es uns gelehrt hat,
befreite ich das im Inneren des Kürbis Verborgene ans Licht und schälte sein
Gesicht heraus. Mit langen spitzen Zähnen schielte es mich endlich an. Mich,
seinen Schöpfer, von Kopf bis Fuß mit Kürbisschnitzeln bedeckt, mir
schmerzenden Fingern und Gelenken und ziemlich verschwitzt. Zufrieden legte ich
mein Werk der Gattin zu Füßen. Unsere Halloween-Laterne war bereitet. Doch
schon nach wenigen Tagen wurde mir klar, dass wir uns ein wenig zu früh gefreut
hatten. Erst verzog sich unser neuer Mitbewohner etwas, das heißt, er geriet
aus der Form. Und als unser Kürbisfreund schließlich aussah als hätte er
vergessen, morgens die Dritten, sein Gebiss, in den Mund zu stecken, begann er
ein Düftchen zu verbreiten. Dieses fruchtig-herbe Aroma überzeugte Juliane,
dass es für unseren Mitbewohner an der Zeit war, hinaus auf den Balkon zu
übersiedeln. Dort bekommt er immer noch jeden Abend eine Kerze angezündet,
trotzdem wirkt nun mehr wie ein stummes Denkmal für die Vergänglichkeit alles
Irdischen. Das ist ja zu Halloween auch nicht ganz verkehrt. Trotzdem wird er
demnächst ein frischeres Brüderlein oder Schwesterlein bekommen. Bestellt ist
der neue Kürbis schon. Und der reckenhafte Bildhauer in mir ist bereit, sich
die Schürze umzubinden und mit der Klinge in der Hand für seine Holde gegen die
Tücken des Fruchtfleisches anzukämpfen. Juliane hat sich schließlich eine
Kürbislaterne und kein glühendes Dörrobst als Dekoration unseres Heims
gewünscht.
Unser zweites und vielleicht auch
letztes Halloween in den Vereinigten Staaten sollte ein bisschen mehr dem
Klischee entsprechen, bevor wir nach Europa zurückkehren. Das haben wir mit
Halloween gemeinsam, wir kehren nach Mitteleuropa zurück und erscheinen nach
allen erfahrenen Veränderungen fremd an unserem Ursprung. In Österreich gibt es
ja immer noch sehr viele, die Halloween als ungebetenen Fremden wahrnehmen. Das
Fest, heißt es da, hätte bei „uns“ nichts verloren. Vergessen wird, dass eine
der drei Wiegen der europäischen Zivilisation neben Athen und Rom im heutigen
Oberösterreich liegt: Hallstatt. In Irland werden österreichische Touristen
darum gerne als Cousins begrüßt. In England, in unmittelbarer Nähe des
legendären Stonehenge, wurde der Bogenschütze von Amesbury anhand seines
Zahnschmelzes eindeutig als Alpenländer identifiziert. Der Helm vom Pass Lueg
ziert bis heute jede Packung der französischen Zigarettenmarke Gauloises. Den trägt auch das
Reiterstandbild für den legendären Römerfeind Vercingetorix in Clermont-Ferrand.
Im Verlauf der Geschichte, vor allem aufgrund einiger unschöner Erfahrungen mit
den Herren Napoleon und Bismarck, wandten sich die Nachkommen der keltischen
Urbevölkerung von dem Avernerfürsten Vercingetorix ab und dem Cherusker Arminius
aka Hermann zu. Die Hallstadtkultur ist der Ursprung der großen keltischen
Nationen. Halloween begann seine Reise als keltisches Samhain-Fest. In Irland
wurde es endlich zu Halloween. Dort war es sicher und überlebte. Europa erlebte
ja bekanntlich erst die Völkerwanderung, dann bekam es die Freuden und Segnungen
des Christentums zu schmecken: Aus dem rauschhaften Samhain wurde Allerheiligen
und Allerseelen. Unsere Vorfahren tauschten das illuminierende Getränk gegen
den Schimmer der Grabkerzen. Die pustete Martin Luther mit langem Atem aus und –
Voila! –, da ist er, der Reformationstag. Nix mehr Halloween.
Aber als ungefähr zur selben Zeit
als in Mitteleuropa die Denkmäler für Vercingetorix und Hermann errichtet
wurden, in Irland die große Hungersnot wütete, kam wieder Bewegung in den
Rundkurs. Weil alle Kartoffeln ungenießbar wurden, beschlossen unzählige Iren
dorthin zu gehen, woher die vermaledeiten Knollen kamen: Nach Amerika. Im
Gepäck hatten sie ihren römisch-katholischen Glauben und Halloween. Das machte
die Puritaner schaudern, die hatten endlich alle christlichen und auch jeden
sonstigen Feiertag als heidnisch gestrichen. Jedoch ihr Election Day Cake stellte keine wirkliche Konkurrenz für Trick and Treat dar. Der mächtige Cú
Chulainn trat dem allmächtigen Dollar in den Hintern. Halloween packte Uncle
Sam an seiner Schlecksucht und bei der Freude am Verkleiden. Heute gibt es
wirklich rein gar nichts, vom Café Latte bis zum Eyeliner, dass es nicht auch
in der Geschmacksrichtung oder der Duftnote Pumpkin
Spice zu kaufen gibt.
Die Dinge die bis dato in der
Welt geschahen, die brauche ich niemanden erzählen. Als ich ein Kind war,
kannte ich Halloween eigentlich nur aus dem Lustigen
Taschenbuch. Und ich wunderte mich, warum sich Donald Ducks Neffen im
Herbst und nicht zu Fasching verkleideten. Und dass es nicht die Kostüme der üblichen
Cowboys und Prinzessinnen waren, das fand ich ziemlich schick. In meiner
Schulzeit gab es offiziell nur eine Faschings- und eine Krampus- Party. Erst
während des Studiums erlebte ich die ersten Halloweenpartys. Es dauerte seine Zeit,
bis sich das Fest etablierte. Mein Neffe und meine Nichte zogen schon mit
anderen Kindern und verkleidet um die Häuser. Und heute haben sie in
Niederösterreich an Halloween mehr Spaß als ich in Connecticut. Das finde ich
eigentlich ziemlich unfair, ich könnte mich so einfach verkleiden. Ein paar
Rollen Klopapier um den dünnen Leib gewickelt und fertig ist die Mumie. Im Gesicht
schau ich eh aus wie Ramses mit Nikolausbart. Ja, aber soll nicht. Kann man
nichts machen.
Halloween überflügelt in Europa
also wieder seinen christlich-synkretistischen Nachfolger Allerheiligen und
Allerseelen. In Mexiko gab es bei der Ankunft der katholischen Spanier
ebenfalls einen geschwinden Kompromiss: Dia
de Muertos, den Tag der Toten. Denn am selben Tag wie die Kelten ihr
Samhain, feierten die Azteken ihre Göttin der Unterwelt Mictecacihuatl. Der
Umstand, dass zwei uralte und vom atlantischen Ozean getrennte Kulturen am
exakt denselben Tag mehr oder weniger das gleiche Fest begingen, der gibt mir
schon zu denken.
Ich erwarte die Nacht der Toten
und Dämonen daher mit Respekt. Einem solch mächtigen Festtag ging
traditionellerweise eine Reinigung von Körper und Geist voran. Und eine solche
habe ich vollzogen, allerdings keineswegs freiwillig. Buddha als auch Jesus
waren sich als religiöse Lehrer einig, alles Käse die Askese. Beide nach
vierzig Tagen des Fastens und einer Begegnung mit ihrem ganz persönlichen Satan
aka Mara. Ich war daher so frei, bisher den Teil mit dem Fasten und Kasteien zu
überspringen. Das klappte bisher ganz ordentlich. Ich bin ja nicht ohne Grund
Lutheraner. Leider bin ich aufgrund meiner Erkrankung gezwungen, ziemlich
schwere Medikamente zu nehmen. Und eines davon war nun der Meinung, meine
spirituellen Reise um die von mir bisher so großzügig umschiffte Facette zu
bereichern. Eine lange Geschichte kurz: Solche Nebenwirkungen habe ich noch nicht
erlebt. Die wöchentliche Dosis Methotrexate kann einem wirklich den Tag
versauen. Unter Umständen, die ich hier nicht weiter erläutern werde, machte
ich mich bereit, meinem Schöpfer gegenüber zu treten. Mara, die Verkörperung
des Todes, war so freundlich mir seine Aufwartung am Krankenbett zu machen.
Umsichtig wie er so ist, welch nette Geste, hatte er auch seine drei Töchter
mitgebracht: Lust, Unzufriedenheit und Gier. Die drei Weibsgestalten peitschten
meine Gedanken derart, dass Juliane mich mehrmals umziehen und das Bett
überziehen musste. Als ich endlich soweit war, nicht meinem Schöpfer, sondern
meinem Arzt unter die Augen zu treten, fuhren wir ins Krankenhaus. Dort wurde
ich untersucht und geröntgt. Wieder zuhause, hungrig wie ein Wolf nach drei
oder vier Tagen ohne feste Nahrung, dann der Anruf: Ich durfte zwei weitere
Tage nichts essen. Da lag ich also wieder in meinem Bett, und die Gedanken rasten
wie Güterzüge zwischen meinen Ohren hindurch. Das Donnern der Räder wich bald dem
Dröhnen der Pauken. Zimbeln klingelten. Drei Frauen tanzten herein. Schimären zwar,
aber allerliebst anzuschauen. Leider keine Samhain-Dämoninnen, sondern die drei
Grazien, Maras Töchter, schwangen die Beine und kreisten mit den Hüften. Immerhin
pfiff da nicht schon der Buttenhansel selbst. Nun gut, wie alles ging auch das
vorbei. Beim frühmorgendlichen Anruf im Krankenhaus zwei Tage später wusste
natürlich niemand irgendwas über meine kleine Hungerkur. Viele automatische
Anrufberatersysteme und zahlreiche Versprechen eines Rückrufes später, saßen
Juliane und ich im Auto und fuhren ins Krankenhaus. Stand ich einmal leibhaftig
vor ihnen, hatten sie ein Problem. Ich weiß nicht, irgendwie habe ich das
Gefühl, es gibt eine gewisse Gruppe Leute, die ihre Mitmenschen wie Bazillen und
Viren beurteilen. Sie ignorieren alle Anrufe und Emails, und sie hoffen
scheinbar, die störenden Menschen und ihre lästigen Anliegen gingen einfach so
weg wie ein grippaler Infekt. Ich war aber kein Schnupfen. Ich war ein Bär, ein
zottiges und vor allem hungriges Vieh aus dem tiefen und finsteren Wald. Ich will
hier auch gar nicht länger herumjammern, zuletzt waren dann alle ganz nett und
hilfsbereit. Eine X-Ray-Untersuchung und wenige Arztgespräche später saß ich
wieder daheim. An meinem Esstisch und vor mir das, was hierorts einem
europäischen Brot am nächsten kam. Dazu französische Marmelade, irische
gesalzene Butter und südamerikanischer Kaffee. So schmeckte das Leben. Die Nacht
der Toten konnte kommen. Ich war bereit.
Fortsetzung folgt...