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Freitag, 13. Februar 2015

Leserunde zu RECHT auf Lovelybooks

Heute beginnt die Bewerbungsphase für die Leserunde zu RECHT auf Lovelybooks, sie wird bis zum 13. März 2015 dauern, und ich lade alle Leserinnen und Leser herzlich dazu ein. 
Hier der Link:


Als Entscheidungshilfe für die Mitglieder von Lovelybooks und als Appetizer für alle Interessierten habe ich zwei Leseproben aus RECHT (Wien und Frankfurt) hier auf den Blog gestellt. Zur besseren Lesbarkeit schwarz auf weiß:

RECHT/ Leseprobe I: Wien.



Wien, 22. April 2014.
Die große, im Solarium gebräunte Männerhand mit einem goldenen Armband um das Handgelenk klopfte gegen die Fahrertür. Tauben flatterten von der Fahrbahn in die Höhe, und aus dem offenen Seitenfenster des Führerhauses stieg Zigarettenrauch in den aschgrauen Himmel. 4:30 Uhr morgens. Der Fahrer des grellbunten MAN-Lkws mit der Aufschrift »Rote Karte für den Mist« gähnte, fuhr sich über das Gesicht und lenkte den Wagen mit gleichgültiger Miene durch die menschenleere Seitengasse.
Das tonnenschwere, orangefarbene Rotopress-Müllfahrzeug der Magistratsabteilung 48 fuhr langsam durch die Senefeldergasse in Favoriten. Ziel der Fahrt war der Viktor-Adler-Markt. Das Profil der wuchtigen, schwarzen Reifen glitt fast in Dachhöhe an den links und rechts parkenden Pkws vorbei. Aus den Boxen des Autoradios röhrten die rauchigen Stimmen von Lee Dorsey und den Ladies des Backgroundchors:

»Five o’clock in the mornin’
I’m already up and gone
’Cause I make all the money, hauling coal by the ton …
But when Saturday goes around I’m too tired for havin’ fun.
Workin’ in a coal mine
Goin’down down down …«

(…)
An beiden Seiten am Heck des wuchtigen Müllwagens standen zwei Müllmänner auf Trittbrettern. Sie trugen die für die städtische Müllabfuhr typischen orangefarbenen Latzhosen mit weißen Reflektorstreifen und vom Waschen verblichene T-Shirts und Pullover. Der eine, ein kräftiger Bursche mit kurzgeschorenen Haaren und goldener Halskette, hielt sich lässig mit seiner klobigen, behandschuhten Rechten an der Haltestange fest, während er mit der linken rauchte. Der andere, schmalschulterig und viel schmächtiger als sein würfelförmiger Kollege, trug einen Pferdeschwanz und umklammerte mit beiden Händen den Haltegriff.
(…)
Ein dumpfes Klopfen der Bremsen, gefolgt von einem sonoren Zischen, und der massige Lkw blieb stehen. Das Ungetüm hielt mitten auf der Fahrbahn, direkt vor der Einfahrt in die Kreuzung Senefeldergasse, Pernerstorfergasse und Viktor-Adler-Platz. Die beiden Männer sprangen vom Wagen und marschierten mit entschlossenen Schritten auf die Mülltonnen des Marktplatzes zu. Die Kolben des starken Dieselmotors pumpten den Takt.

»Workin’ in a coal mine
Goin’down down down …«

Die Marktstände am Viktor-Adler-Markt präsentierten sich wie eine verlassene Goldgräberstadt. Die Rollläden geschlossen, leere, aufgestapelte Plastikkisten vor den versperrten Ladentüren in den engen Durchgängen und gelegentlich ein still vor sich hin rottendes Stück Gemüse vom Vortag. In knapp eineinhalb Stunden würden wieder Obst, Fisch, Fleisch, Backwaren, Spezialitäten aus Österreich, der Türkei, aus Indien und aus Griechenland zu kaufen sein. Zur Sperrstunde um 18:30 Uhr waren die Abfallbehälter voll und mussten um 6 Uhr früh wieder leer sein.
Die zwei Müllmänner packten den ersten der Restmüllcontainer, lösten mit einem routinierten Tritt die Standbremsen an den Rädern und rollten ihn zum Heck des Müllfahrzeuges. Der Würfel drückte einen Knopf, und zwei Metallarme mit Haken senkten sich herunter. Das 1100 Liter Müllgefäß rumpelte gefährlich, als die Männer es mit den Verankerungen in die Haken stießen. Dann wurde der Container mühelos in die Höhe gehievt. Der Deckel klappte auf, und der Abfall ergoss sich in die rotierende Presse im Innern des Lkws. Die Warteschlange hinter dem Müllsammelfahrzeug wurde mit jedem neuen Abbieger länger.
(…)
Ein Autofahrer verlor die Nerven und hupte.
Der Würfel streckte dem wild gestikulierenden Bürohengst seinen Mittelfinger entgegen. »Gusch, Schwindliger! Ohne uns erstickst im Dreck!«, rief er und widmete sich entspannt dem Zurückstellen der leeren Tonne. »Wer glaubt der, dass er ist? Stachanow, der Held der Arbeit?«, brummelte er leise.

»Nein, nein, ich darf niemals zu spät zur Arbeit kommen …«, feixte der Dünne.
Der aufflammende Protest im morgendlichen Berufsverkehr war im Keim erstickt.

Zwei Fußtritte, ein kräftiges, synchrones Zupacken, und die nächste schwarze 1100 Liter Kunststoffmülltonne holperte gemächlich über den Randstein zum Lkw. Haken runter, Bolzen hinein, der Container schwankte über den Köpfen der beiden Müllmänner.
Plötzlich ein seltsames Rumpeln, als sich die Tonne zum Ausgießen neigte. Da war etwas großes Schweres im Inneren.
(…)
»Da is a Leich …«, stammelte der Würfel und zeigte hinauf.

Aus dem unappetitlichen Wirrwarr aus Marktabfällen ragte der Arm eines Mannes, eine bleiche, schlaffe Hand über weißen Hemdmanschetten und dem Ärmel eines dunklen Sakkos. Kopf und Schultern des Körpers steckten schon in der Rotationspresse.

»Freitag … Wann sonst?«, flüsterte der Fahrer betreten und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Auf was wartets ihr zwei? Auf a schriftliche Einladung? – Runterlassen und rausziehen!«, befahl er barsch seinen Kollegen und zog das Handy aus der Latzhose. Er hatte sich am schnellsten vom Schock erholt und übernahm die Kontrolle über die Ausnahmesituation. »Vielleicht lebt er noch. Gemma!«

Der Dünne zertrat seine Zigarette und kletterte zur Öffnung hinauf. Er sah dabei aus wie ein Weberknecht. Mit angewidertem Gesicht wühlte er den Unrat zur Seite und umfasste die Hüften des Eingeklemmten. »Geht scho, ich hab ihn. Franz, du kannst absenken«, rief er dem Würfel zu.

Leise ächzend senkten sich die Greifarme, und der Container glitt langsam zu Boden.
Nach und nach wurden erst die Hüften, dann die Oberschenkel und schließlich die Beine des Körpers von Müll befreit. Der Mann trug einen dunklen Anzug. Stangenware, gedeckte Farbe, billige und schlichte Eleganz. Vielleicht ein niederer Beamter oder ein Büroangestellter?
Das Gewicht drohte den schlaksigen Müllmann mit sich nach unten zu ziehen. Der Weberknecht strauchelte.

»Flieg mir jetzt nicht runter und lass die Leich bloß nicht fallen!«, brüllte der Muskelprotz und kletterte ebenfalls auf den Lkw. »Wenn uns der am Asphalt aufklatscht, hamma die Sauerei perfekt …«, brummelte er leiser. Er packte den Gürtel des Verkeilten und hob ihn leicht an.
Von dem Dünnen war ein erleichtertes Schnaufen zu hören.

»Los, jetzt zieh den Kopf raus. Aber vorsichtig«, schnaufte der Kräftigere. »Ich kann ihn nicht lange so halten.«

Die sehnigen, tätowierten Unterarme verschwanden in der Müllpresse. Kurz darauf zog der Schlaksige sie wieder heraus. In seinen Händen hielt er den Kopf des Eingeklemmten. Soweit man es noch erkennen konnte, hatte der Unbekannte einen soliden Kurzhaarschnitt und dunkelbraunes Haar. Wo einmal sein Gesicht gewesen war, war jetzt eine formlose Masse, über und über bedeckt von gestocktem, schwarz-rotem Schorf. Im Nacken des Mannes brach eine Wunde auf, mehr Blut sickerte heraus. »Jessas! Der lebt ja noch!«, schrie der Dünne auf.

»Sei ned deppert, der is hin …«, knurrte der Würfel knapp und sprang auf die Straße hinunter.
(…)
Sie legten den Unglücklichen auf den Gehsteig und warteten. In kürzester Zeit hatte sich eine Traube aus Schaulustigen gebildet.

»Es wird immer schlimmer hier …«, flüsterte eine Alte mit Dauerwelle. »Daran sind nur diese Ausländer schuld …« Sie zog ihren Morgenrock enger um den welken Busen und schüttelte den Kopf.

»Was reden für Unsinn?«, meldete sich einer der Zulieferer zu Wort, eine Kiste mit Fladenbrot auf dem Arm. »Woher wollen wissen, dass das Ausländer gewesen sind? Vielleicht er Ausländer, und Nazis ihn totgeschlagen!«

Unwilliges Gemurmel wurde laut.
Da heulten Ambulanz- und Polizeisirenen auf. Reifen quietschten, Autotüren knallten, die Fanfaren der Gerechtigkeit verstummten und blaue Lichter zuckten über staunende Gesichter. Mehrere blau-silberne Einsatzfahrzeuge der Polizei erreichten die Kreuzung, Uniformierte sprangen heraus und schoben die Gaffer zur Seite. Sanitäter mit einer Tragbahre pressten sich durch die Meute.
Ein Kriminalpolizist in Zivil, in Lederjacke und mit Ohrstecker, wälzte sich aus seinem Dienstwagen. Er ließ seine müden, rotunterlaufenen und verschwollenen Augen über die Mienen der Leute wandern und schaute ungläubig auf seine Armbanduhr. 5 Uhr früh. »Da liegt einer, da pickt einer, da gibt’s a Bluat, da simma dort …«, murmelte Chefinspektor Ernst Wotruba, fuhr sich unwillig über den Hinterkopf und steckte seine fleischigen Pranken in die Hosentaschen. Er stellte sich breitbeinig vor das unkenntliche Opfer und betrachtete es nachdenklich. Er zog die Brauen zusammen, nickte und fuhr sich über den Mund, als er das rostbraune Pulver unter den Fingernägeln des Toten entdeckte. Dann schmatzte er lautstark und machte: »Na alsdann!« Der Tanz war hiermit eröffnet.

RECHT/ Leseprobe II: Frankfurt am Main.



Frankfurt am Main,
22. April 2014.
Kriminalhauptkommissar Sebastian Kniewasser, von der hessischen Unterwelt liebevoll »Kreuzbandriss« genannt, traute seinen Augen und Ohren nicht. Er fühlte sich schlagartig energielos. Er hatte irgendwann – vor zehn Jahren oder so – aufgehört, mitzuzählen, wie viele gestrauchelte Existenzen und harte Jungs er während seiner Dienstzeit in den Knast oder in die Klapse gebracht hatte. Und die Probleme der »armen« Reichen gingen ihm ehrlich gesagt am Arsch vorbei. Aber Familientragödien, die schlugen ihm aufs Gemüt, egal ob sie in Bockenheim oder wie heute in der Höchster Altstadt geschahen.
Das schiefergraue Kopfsteinpflaster schimmerte nieselregenfeucht, und Kniewasser betrachtete das gutbürgerliche historische Fachwerkhaus zwischen Bolongarostraße und Burggraben seltsam gleichgültig. Obwohl er für die atavistische Melancholie des Augenblicks überaus empfänglich gewesen wäre, hätte ihn nicht sein Beruf hergeführt, sondern ein Sonntagsausflug.
(…)
Im Hausflur war es kühl, ungeheizt und feucht. Kniewasser raffte blitzschnell seine sieben
Sinne. Der erste Eindruck passte schon mal gar nicht zu seiner Erwartung, nicht zu dem honigsüßen Pfefferkuchenhäuschenimage des Familienheims in bester Wohngegend. Schon gar nicht zu den fröhlichen Gesichtern der ansehnlichen und herzeigbaren Kinder und der noch viel hübscheren Enkelkinder, deren Fotos die Wände und die Stellflächen der Möbel beherrschten. Die plakative Masse breitete sich aus, die stets gutgelaunten selben Gesichter auf den Fotos, sie alterten, zu jedem Anlass kam ein weiteres Bild im Rahmen dazu. Wohin Kniewasser auch blickte, überall grinste ihn jemand an. »Die haben wohl nie Dünnschiss oder schlechte Noten …«
Der Kriminalhauptkommissar runzelte die Stirn, zog die Gummihandschuhe an, schlüpfte in die Kunststoffschuhüberzüge und setzte seine Schritte fortan wohlüberlegt. Er sah sich nach allen Richtungen im Hausflur um. Die Eingangstür stand schon eine gute Stunde lang offen, weil Uniformierte und die Spurensicherung ein und aus liefen, aber der anhaltende Durchzug erklärte weder den Geruch noch tilgte er den Mief, der sich über Wochen und Monate in den Teppichen und der Tapete festgesetzt hatte. Kniewasser wurde neugierig, er wollte das Umfeld des Opfers verstehen.
(…)
Handlauf und Stufen der Holztreppe in das obere Stockwerk waren staubig. Kniewasser ließ die Fingerspitzen im Vorübergehen über die Kommoden, das Nippes und die Bilderrahmen gleiten und zerrieb den grauen Staubfilm zwischen seinen Fingerspitzen. Ungepflegt aber nicht unordentlich präsentierten sich auch alle anderen Wohnräume. Wohn- und Speisezimmer verströmten den erstarrten Charme und das muffige Ambiente von Schauräumen in schlechtbesuchten Stadtmuseen. Das Ehebett im Schlafzimmer war unberührt, Zierkissen und Tagesdecke waren lange nicht bewegt worden, in dem Bett schlief niemand mehr. Nur in der Küche stapelte sich das Geschirr, der Geschirrspüler
jedoch war unbenutzt. Gegessen wurde am Küchentisch.
Kniewasser zog seine Schlüsse und machte sich Notizen. Das Opfer lebte alleine und leistete sich keine Putzfrau. Der Kommissar linste wieder zu den Familienfotos hinüber, Töchter und Schwiegertöchter schwangen in dem Haus weder den Staubwedel noch warfen sie den Staubsauger an. Kniewasser setzte die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. Vielleicht war der Alte auch ein eigenbrötlerisches Ekel geworden, nachdem seine Frau gestorben war. Das war nicht nur möglich, sondern für ihn auch gutnachvollziehbar.
Kniewasser schob sich die Brille zurück auf die Nase, legte die Stirn in Falten und blickte zu dem Porträt des fröhlichen älteren Ehepaars hinüber. Ein Trauerflor bedeckte die rechte obere Ecke. Der plötzliche Stich in der Brust rührte sich ebenso unerwartet wie unerwünscht. Kniewasser schnaubte, winkte ab und trabte weiter. Er fokussierte sich auf den Auftrag und setzte die Amtsmiene auf.
Blitzlichter und Stimmen wiesen Sebastian Kniewasser die Richtung in den südlichen Teil des Hauses. Er drängte sich grußlos an der Spurensicherung vorbei. Durch das weißlackierte Holzrahmenfenster waren die Bäume und das Grün des Burggrabens zu sehen. Der Vorhang aus dichtem Stoff war zur Seite geschoben, und das wolkentrübe Tageslicht fiel herein. Kniewasser runzelte die Stirn, die Vorhangstange war blank, kein Staub an der Oberseite, dafür aber an den Vorhangschlaufen. Dieses Detail hatte man also verändert, der Stoff war normalerweise zugezogen. Er hob den Arm, legte die Hand auf den Nacken und suchte nach dem Schützenswerten, dem Wertvollen, dem das Licht zusetzte. Schließlich zog er einen Mundwinkel nach oben. Es war so offensichtlich, dass er den Wald vor lauter Bäumen fast übersehen hätte. Die Büchersammlung dominierte das geräumige Büro. Kniewasser musterte die gepflegten und staubgewischten antiken Bücherschränke, die schmalen gleichförmigen und fast gleichfarbigen Buchrücken hinter den Glastüren. Die schmalen Bändchen formten einen pastellfarbigen Farbverlauf, der gut mit den altrosa und rosa gestreiften Seidentapeten harmonierte. Und erst auf den zweiten Blick, beim genauen Hinsehen, erkannte Kniewasser die unterschiedlichen Muster und Dekors der Einbände. Der Kommissar war beeindruckt und schmunzelte. In den Bücherschränken des Alten ruhte eine wohl beinahe vollständige Sammlung der rund tausendvierhundert Pappbände der Insel-Bücherei.
Der Schreibtisch mit dem Computer zeigte Benutzungsspuren, auch die Couch. In dieser Bibliothek hatte das Opfer seine Tage und auf dem Sofa die Nächte zugebracht. Aus Kissen und Decken war die Schlafstatt improvisiert, eine tiefe faltige Kuhle bewies, dass hier regelmäßig geschlafen worden war. Dieser Raum war der Lebensmittelpunkt des Opfers gewesen. Darum hatte ihn hier und nirgendwo anders der Tod gesucht und gefunden.
Der groteske Kupferstich im Stehrahmen war dem Eintretenden zugekehrt und zog Kniewassers Aufmerksamkeit in den Bann. Die feingliedrige Grafik zeigte die Figur eines Raben, der breitbeinig unter dem Gerüst eines Galgens hockte. Der schwarze Vogel reckte dem Betrachter den schnabelbewehrten Kopf entgegen, in dem kleine aufmerksame Augen voll bösartiger Gier steckten. Jeden Moment drohte der Rabe krächzend aufzuflattern, Kniewasser mitten ins Gesicht. Hinter der großen Krähe im Vordergrund erkannte der Kommissar zwölf weitere Aasvögel, die wie aufgefädelt in einer Reihe auf dem hinteren Querbalken des Blutgerichts rasteten und wohl ihr letztes Festmahl verdauten. Auf dem gemauerten Fundament im Schatten des Raben stand eine vierzeilige Inschrift. »Voyez Loyal, ou Chicaneur«, lauteten die letzten Worte. Eine leere Henkersschlinge baumelte im Wind, und Kniewasser meinte, die Taue leise knarzen zu hören.

»Oje, es muss ernst sein, wenn die Adenauerstraße ihren Widerstandsbeamten von der Leine lässt …«, sagte eine Frauenstimme.
(…)
»Die Herrschaften von der Gebeschusstraße sind schon wiederweg?«, erkundigte sich Kniewasser mit verblüffend lebensecht gelungener Unschuldsmine und hob mit der Schuhspitze den Teppich an, um theatralisch nachzusehen, ob sich darunter nicht noch einer vor ihm versteckte.

Jennewein richtete sich auf und stützte sich auf das angewinkelte Knie. Sie musterte Kniewassers Züge, und ein süffisantes Lächeln umspielte ihre geschwungenen Lippen. »Ich weiß auch nicht, kaum haben die Kollegen von der Direktion Süd die frohe Botschaft vernommen, dass Sie kommen, da waren sie auch schon weg, und kein gutes Zureden konnte sie hierhalten.«

»Ach, wie schade!«, seufzte Kniewasser. »Wo ich doch so gerne mit den Jungens spiele.« Er machte einen Schritt auf den Toten zu, beugte sich hinunter und stocherte mit dem Kugelschreiber im Gesicht der Leiche herum, wobei er die Mundwinkel des Alten mal nach oben und mal nach unten zog. »Fröhlich! Traurig. Fröhlich! Traurig. Fröh…« Kniewasser schnellte hoch. »Ich bin froh, Sie hier zu sehen, Sarah – und keine von den Flachzangen.« Kniewasser stellte sich neben Jennewein und den Toten in das Licht der Scheinwerfer. »Was können Sie mir zum jetzigen Zeitpunkt über Zeitpunkt und Todesursache sagen?«

»Dass der Name des Opfers Hermann Schroeder ist und dass der Mann tot ist.« Jennewein feixte nicht, sie meinte es ernst. »An den Verletzungen ist er nämlich nicht gestorben. Okay, er hat sich gewehrt, gekämpft sogar. Die Schwere der Hämatome rührt aber vorrangig von der Antikoagulation her. Das heißt, von der Einnahme sogenannter Blutverdünner, die er wohl wegen eines chronischen Herzleidens geschluckt hat.« Sie deutete auf die Arzneimittelschachteln auf dem Beistelltisch neben der Couch, auf die Medikamente Marcumar und Falithrom. »Vielleicht war die Todesursache ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Ich weiß es erst, nachdem ich ihn aufgemacht habe.«

»Verstehe.« Kniewasser machte sich eine Notiz. »Wo ist unser Haupttatverdächtiger jetzt? Wo ist der Enkel?«

»So viel man mir gesagt hat, ist er noch im Zimmer nebenan, aber sie verladen ihn demnächst in die Grüne Minna.« Jennewein bewegte den Kopf des Toten hin und her. »Ich frage mich: Warum hat der alte Schroeder sich wegen eines dieser Bücher so aufgeregt? Wo er doch so viele davon hat? Und wenn der Junge das eine unbedingt hat haben wollen – Bitte! – Sammler hin, Sammler her. Das ist doch nur ein Insel-Buch. Die sind antiquarisch bloß zwischen einem und zwanzig Euro wert.«

»Hmmm«, brummte Kniewasser mehrdeutig und nickte. Obwohl er Jennewein im letzten Punkt keineswegs zustimmte. Er war mit seinen Überlegungen schon ein paar Schritte weiter. Es gab bestimmte Ausgaben dieser besonderen Buchreihe aus dem Leipziger, dann Wiesbaden/Frankfurter und jetzt – er rollte mit den Augen – natürlich Berliner Insel Verlag, die weit mehr wert waren als ein paar lumpige Euros. Einigen Sammlern offensichtlich sogar mehr als ihr eigenes Leben … Kniewasser ließ den Kugelschreiber in der Innentasche seines Kurzmantels verschwinden. Er sah sich um, zog die Mundwinkel nach unten, tippte sich mit dem Notizblock ans Kinn und ging auf und ab. »Eines würde mich noch viel mehr interessieren …«

Sarah Jennewein richtete sich auf. Sie wischte sich mit dem Handgelenk die Haare aus dem Gesicht und beobachtete den Kommissar. »Ist das die Frage, die die Adenauer-Straße dazu gebracht hat, sie auf das Spielfeld laufen zu lassen?«

»Exakt!« Kniewasser blieb unvermittelt inmitten des Zimmers stehen und erwiderte den fragenden Blick der Pathologin. Er machte einen entschlossenen Schritt auf die Frau zu und fragte scharf: »Wovor – oder vor wem – hat sich der alte Schroeder so sehr gefürchtet, dass er diesen Raum nicht mehr verlassen hat?«