Wien, 22. April 2014.
Die große, im Solarium gebräunte Männerhand mit einem
goldenen Armband um das Handgelenk klopfte gegen die Fahrertür. Tauben
flatterten von der Fahrbahn in die Höhe, und aus dem offenen Seitenfenster des
Führerhauses stieg Zigarettenrauch in den aschgrauen Himmel. 4:30 Uhr morgens.
Der Fahrer des grellbunten MAN-Lkws mit der Aufschrift »Rote Karte für den
Mist« gähnte, fuhr sich über das Gesicht und lenkte den Wagen mit
gleichgültiger Miene durch die menschenleere Seitengasse.
Das tonnenschwere, orangefarbene Rotopress-Müllfahrzeug der
Magistratsabteilung 48 fuhr langsam durch die Senefeldergasse in Favoriten.
Ziel der Fahrt war der Viktor-Adler-Markt. Das Profil der wuchtigen, schwarzen Reifen
glitt fast in Dachhöhe an den links und rechts parkenden Pkws vorbei. Aus den
Boxen des Autoradios röhrten die rauchigen Stimmen von Lee Dorsey und den
Ladies des Backgroundchors:
»Five o’clock in the mornin’
I’m already up and gone
’Cause I make all the money, hauling coal by the ton …
But when Saturday goes around I’m too tired for havin’ fun.
Workin’ in a coal mine
Goin’down down down …«
(…)
An beiden Seiten am Heck des wuchtigen Müllwagens standen zwei
Müllmänner auf Trittbrettern. Sie trugen die für die städtische Müllabfuhr
typischen orangefarbenen Latzhosen mit weißen Reflektorstreifen und vom Waschen
verblichene T-Shirts und Pullover. Der eine, ein kräftiger Bursche mit
kurzgeschorenen Haaren und goldener Halskette, hielt sich lässig mit seiner
klobigen, behandschuhten Rechten an der Haltestange fest, während er mit der
linken rauchte. Der andere, schmalschulterig und viel schmächtiger als sein
würfelförmiger Kollege, trug einen Pferdeschwanz und umklammerte mit beiden
Händen den Haltegriff.
(…)
Ein dumpfes Klopfen der Bremsen, gefolgt von einem sonoren Zischen,
und der massige Lkw blieb stehen. Das Ungetüm hielt mitten auf der Fahrbahn,
direkt vor der Einfahrt in die Kreuzung Senefeldergasse, Pernerstorfergasse und
Viktor-Adler-Platz. Die beiden Männer sprangen vom Wagen und marschierten mit entschlossenen
Schritten auf die Mülltonnen des Marktplatzes zu. Die Kolben des starken
Dieselmotors pumpten den Takt.
»Workin’ in a coal mine
Goin’down down down …«
Die Marktstände am Viktor-Adler-Markt präsentierten sich
wie eine verlassene Goldgräberstadt. Die Rollläden geschlossen, leere,
aufgestapelte Plastikkisten vor den versperrten Ladentüren in den engen Durchgängen
und gelegentlich ein still vor sich hin rottendes Stück Gemüse vom Vortag. In
knapp eineinhalb Stunden würden wieder Obst, Fisch, Fleisch, Backwaren, Spezialitäten
aus Österreich, der Türkei, aus Indien und aus Griechenland zu kaufen sein. Zur
Sperrstunde um 18:30 Uhr waren die Abfallbehälter voll und mussten um 6 Uhr
früh wieder leer sein.
Die zwei Müllmänner packten den ersten der
Restmüllcontainer, lösten mit einem routinierten Tritt die Standbremsen an den
Rädern und rollten ihn zum Heck des Müllfahrzeuges. Der Würfel drückte einen
Knopf, und zwei Metallarme mit Haken senkten sich herunter. Das 1100 Liter
Müllgefäß rumpelte gefährlich, als die Männer es mit den Verankerungen in die
Haken stießen. Dann wurde der Container mühelos in die Höhe gehievt. Der Deckel
klappte auf, und der Abfall ergoss sich in die rotierende Presse im Innern des
Lkws. Die Warteschlange hinter dem Müllsammelfahrzeug wurde mit jedem neuen
Abbieger länger.
(…)
Ein Autofahrer verlor die Nerven und hupte.
Der Würfel streckte dem wild gestikulierenden Bürohengst
seinen Mittelfinger entgegen. »Gusch, Schwindliger! Ohne uns erstickst im Dreck!«,
rief er und widmete sich entspannt dem Zurückstellen der leeren Tonne. »Wer glaubt
der, dass er ist? Stachanow, der Held der Arbeit?«, brummelte er leise.
»Nein, nein, ich darf niemals zu spät zur Arbeit kommen …«,
feixte der Dünne.
Der aufflammende Protest im morgendlichen Berufsverkehr war
im Keim erstickt.
Zwei Fußtritte, ein kräftiges, synchrones Zupacken, und die
nächste schwarze 1100 Liter Kunststoffmülltonne holperte gemächlich über den
Randstein zum Lkw. Haken runter, Bolzen hinein, der Container schwankte über
den Köpfen der beiden Müllmänner.
Plötzlich ein seltsames Rumpeln, als sich die Tonne zum
Ausgießen neigte. Da war etwas großes Schweres im Inneren.
(…)
»Da is a Leich …«, stammelte der Würfel und zeigte hinauf.
Aus dem unappetitlichen Wirrwarr aus Marktabfällen ragte
der Arm eines Mannes, eine bleiche, schlaffe Hand über weißen Hemdmanschetten und
dem Ärmel eines dunklen Sakkos. Kopf und Schultern des Körpers steckten schon
in der Rotationspresse.
»Freitag … Wann sonst?«, flüsterte der Fahrer betreten und
wischte sich mit der Hand über den Mund. »Auf was wartets ihr zwei? Auf a schriftliche
Einladung? – Runterlassen und rausziehen!«, befahl er barsch seinen Kollegen
und zog das Handy aus der Latzhose. Er hatte sich am schnellsten vom Schock erholt
und übernahm die Kontrolle über die Ausnahmesituation. »Vielleicht lebt er
noch. Gemma!«
Der Dünne zertrat seine Zigarette und kletterte zur Öffnung
hinauf. Er sah dabei aus wie ein Weberknecht. Mit angewidertem Gesicht wühlte
er den Unrat zur Seite und umfasste die Hüften des Eingeklemmten. »Geht scho,
ich hab ihn. Franz, du kannst absenken«, rief er dem Würfel zu.
Leise ächzend senkten sich die Greifarme, und der Container
glitt langsam zu Boden.
Nach und nach wurden erst die Hüften, dann die Oberschenkel
und schließlich die Beine des Körpers von Müll befreit. Der Mann trug einen
dunklen Anzug. Stangenware, gedeckte Farbe, billige und schlichte Eleganz.
Vielleicht ein niederer Beamter oder ein Büroangestellter?
Das Gewicht drohte den schlaksigen Müllmann mit sich nach
unten zu ziehen. Der Weberknecht strauchelte.
»Flieg mir jetzt nicht runter und lass die Leich bloß nicht
fallen!«, brüllte der Muskelprotz und kletterte ebenfalls auf den Lkw. »Wenn uns
der am Asphalt aufklatscht, hamma die Sauerei perfekt …«, brummelte er leiser.
Er packte den Gürtel des Verkeilten und hob ihn leicht an.
Von dem Dünnen war ein erleichtertes Schnaufen zu hören.
Von dem Dünnen war ein erleichtertes Schnaufen zu hören.
»Los, jetzt zieh den Kopf raus. Aber vorsichtig«, schnaufte
der Kräftigere. »Ich kann ihn nicht lange so halten.«
Die sehnigen, tätowierten Unterarme verschwanden in der
Müllpresse. Kurz darauf zog der Schlaksige sie wieder heraus. In seinen Händen
hielt er den Kopf des Eingeklemmten. Soweit man es noch erkennen konnte, hatte
der Unbekannte einen soliden Kurzhaarschnitt und dunkelbraunes Haar. Wo einmal
sein Gesicht gewesen war, war jetzt eine formlose Masse, über und über bedeckt
von gestocktem, schwarz-rotem Schorf. Im Nacken des Mannes brach eine Wunde auf,
mehr Blut sickerte heraus. »Jessas! Der lebt ja noch!«, schrie der Dünne auf.
»Sei
ned deppert, der is hin …«, knurrte der Würfel knapp und sprang auf die Straße
hinunter.
(…)
Sie legten den Unglücklichen auf den Gehsteig und warteten.
In kürzester Zeit hatte sich eine Traube aus Schaulustigen gebildet.
»Es wird immer schlimmer hier …«, flüsterte eine Alte mit
Dauerwelle. »Daran sind nur diese Ausländer schuld …« Sie zog ihren Morgenrock
enger um den welken Busen und schüttelte den Kopf.
»Was reden für Unsinn?«, meldete sich einer der Zulieferer
zu Wort, eine Kiste mit Fladenbrot auf dem Arm. »Woher wollen wissen, dass das
Ausländer gewesen sind? Vielleicht er Ausländer, und Nazis ihn totgeschlagen!«
Unwilliges Gemurmel wurde laut.
Da heulten Ambulanz- und Polizeisirenen auf. Reifen
quietschten, Autotüren knallten, die Fanfaren der Gerechtigkeit verstummten und
blaue Lichter zuckten über staunende Gesichter. Mehrere blau-silberne
Einsatzfahrzeuge der Polizei erreichten die Kreuzung, Uniformierte sprangen
heraus und schoben die Gaffer zur Seite. Sanitäter mit einer Tragbahre pressten
sich durch die Meute.
Ein
Kriminalpolizist in Zivil, in Lederjacke und mit Ohrstecker, wälzte sich aus
seinem Dienstwagen. Er ließ seine müden, rotunterlaufenen und verschwollenen
Augen über die Mienen der Leute wandern und schaute ungläubig auf seine
Armbanduhr. 5 Uhr früh. »Da liegt einer, da pickt einer, da gibt’s a Bluat, da
simma dort …«, murmelte Chefinspektor Ernst Wotruba, fuhr sich unwillig über
den Hinterkopf und steckte seine fleischigen Pranken in die Hosentaschen. Er
stellte sich breitbeinig vor das unkenntliche Opfer und betrachtete es
nachdenklich. Er zog die Brauen zusammen, nickte und fuhr sich über den Mund,
als er das rostbraune Pulver unter den Fingernägeln des Toten entdeckte. Dann
schmatzte er lautstark und machte: »Na alsdann!« Der Tanz war hiermit eröffnet.