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Montag, 15. Januar 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 24)

Teil 24: Lustig ist das Migrantenleben – Eine Berg- und Talbahn!


Weihnachten und Sylvester sind vorbei, und ein neues Jahr hat angefangen. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Ein zwangsläufiger Akt, vor dem es auch diesmal kein Entrinnen gab. Spätestens mit dem Kater am Neujahrsmorgen setzte er ein. Jedes Mal dieselbe böse Überraschung. Dabei war ich gewarnt: Wer in den Wald geht, der darf das Rauschen nicht fürchten! Während über dem Wipfel der Wind heulte, nagte am Wurzelwerk der Gewissenswurm. Das lag nicht alleine am Alkohol, es war auch der Zeitpunkt. Der Lichtmangel und die Außentemperaturen, die von milden Plusgraden über Nacht zu Minusgraden im zweistelligen Bereich hin und zurück wechselten. Auf der Celsiusskala, versteht sich. Lichterkette, Herrnhuter Stern und Christbaumbeleuchtung halfen, die Niedergeschlagenheit dieser Tage einzudämmen. Ganz zurückhalten konnten sie die Sorgenflut dennoch nicht. Land unter! Und auch hiervor war ich gewarnt. Das Auf und Ab der Gefühlswellen, die Berg- und Talfahrt als Passagier im Personenwagen der Existenz, die meine Omama noch nostalgisch kunstvoll als „himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt“ beschrieben hatte, die empfanden Migranten besonders intensiv. Moderne Gebrauchslyrik sang da weit prosaischer und inzwischen abgegriffener vom Leben als Achterbahnfahrt. Enthusiasmus, Zukunftswillen und Gestaltungswut erklommen den Gipfel des Empfindbaren, um nach einem kurzen Schwupps und Magenheber in die finsterste Talsohle der Verzweiflung, Nichtigkeit und Einsamkeit zu stürzen. Und wenn dann ein menschengemachtes und dazu mit viel Bedeutung versehenes Datum auf dem Kalender erscheint, dann glotzt der Abgrund plötzlich zurück und fragt: „Was hast Du erreicht bisher?“ Und die Nabelschau wird zum Gruselkabinett. Und das Schauerlichste darin ist das eigene verzerrte Spiegelbild.
Mein körperlicher Zustand erlaubt es mir nicht, jederzeit und immerzu wie ich das will unser Heim zu verlassen. Exilanten haben in diesem Zusammenhang schon vom lebendigen Grab geschrieben. In unserem US-amerikanischen Heim sind jedoch keine Spinnweben und Moder, sondern viel Liebe und Anteilnahme zuhause. Dennoch warte ich. Und dieses Warten wirft unangenehme Fragen auf, die es sich auch gleich selbst auf die übelste Art und Weise beantwortet: Der Migrant, egal ob sie oder er, fragt, was sie oder er bisher am neuen Ort erreicht hat? Ich frage mich, wie viele meiner Hoffnungen wurden erfüllt? Wie viele Höhen habe ich wirklich unter den Füßen gespürt? Und wenn´s wirklich finster war draußen wie drinnen, dachte ich, dass die USA für mich eine Enttäuschung geworden sind. Keine meiner Erwartungen wurden erfüllt. Kein Gipfel unter den Sohlen, kein zufriedener Blick zurück ins Land. Und mit wem redete ich überhaupt? Nur mit jenen, für die es keine andere Wahl gab. Nur mit denen, die dazu verpflichtet waren. Deren Job es war, sich um mich zu kümmern. Erschwerend zu Dunkelheit, Kälte und Krankheit hinzukommt, wenn man wie ich auf etwas wartet. Und ich warte auf eine Antwort, die meinem Tun wieder Sinn geben kann. Und Platsch machte das Fettnäpfchen!
Wenn irgendjemand meinem Tun einen Sinn geben kann, dann bin ich das selbst. Und bei diesem Gedanken erscheint er bald, der Silberstreif am Horizont. Der Moment vor dem Sonnenaufgang ist der dunkelste und kälteste der Nacht. Wintersonnenwende. Sol invictus. Weihnachten! Und während ich meinen Verstand wieder wärmend um das kalte Herz schlinge, wird mir klar, dass ich genau auf die Seife getreten bin und herumsause wie Kleopatras Löwe bei Asterix, die mir so unglaublich auf den Geist zu gehen beginnt. Die Lehren der alten Religionen wurden abgelöst von der First Church of Income. Die Frohbotschaft der Weihnachtszeit war vielerorts die abgehakte Einkaufsliste. Das einzige Thema, worüber sich weiße Männer meines Alters an den Tischen und am Tresen der Bars unterhalten, sind Dollars, wie viele „Ks of dollars“ einer im Jahr macht, und/oder was dies und das in der Anschaffung kostet. Erhaltung findet sowieso nicht statt. Konsumiere bis die Müllabfuhr kommt. Um in diesen Gewässern zu fischen, sind sie mir zu durchsichtig und zu flach. Aber hilft mir das? Im Gegenteil. Dank dieser ständigen Auspreisung menschlichen Tuns und Strebens fühle ich mich wertlos, auf den Wühltisch zu den Ladenhütern geräumt. Bald schon dräut der Abfalleimer.
Dank der Irrlichter meiner Gedanken landete ich in einem klebrigen Pfuhl, aus dem ich mich wohl oder übel am eigenen Schopf wieder rausziehen musste. Das machte mich weder zu einem Münchhausen, noch zu einem Helden, das muss jeder Migrant und Exilant andauernd schaffen. Und wenn er oder sie Glück haben, dann tritt ihnen beim Aufrappeln wenigstens keiner auf die Finger. Es ist in New Haven schon vorgekommen, dass Barkeeper die Bestellung eines Bekannten partout nicht verstehen konnten, weil er so einen grausamen Akzent hätte. Und der Mann ist Brite. Ich habe das Glück, dass mir stets die eine oder der andere unter die Arme greift und mich wieder auf die Beine stellt. Und nicht nur im übertragenen Sinn.
Weihnachten in den USA hört sich an wie daheim. Da ich ein ernstes Problem mit der christlichen US-amerikanischen Frömmigkeit habe, beziehungsweise bisher noch keine Kirchengemeinde gefunden habe, die meinen Zugang teilt, blieb meine Spiritualität heuer auf den optischen und musikalischen Anteil beschränkt. Und auf mein Empfinden. Die Mehrzahl der im öffentlichen Rundfunk gesendeten Weihnachtslieder ist deutschsprachiger Herkunft. Die Klassiker werden in Originalsprache gesungen. Die Volks- und Kunstlieder in Original und in Übersetzung. Bei den Profis kamen die Texte akzentfrei rüber, bei Laienchören brauchte es dagegen einiges an Textkenntnis, Gespür und Fantasie, um zu erkennen, um welche Stelle welcher Strophe es sich gerade handelte. Und da in Europa die britischen und amerikanischen Schlager seit Jahrzehnten fix ins alljährliche Repertoire gehören, besteht am Ende der Feiertage zumindest musikalisch und atmosphärisch kein Grund zu Heimweh oder Fremdeln. Weihnachten und Hanukkah sind hier wie da fast identisch. Sie bringen Licht in die Finsternis und Nostalgie und Freude ins Gemüt.
Ganz anders gestaltete sich indes der Jahreswechsel. Juliane und ich besuchten eine Drag- und Burlesque Show in New Haven. Das war ein großer Spaß. Wobei es auch hier zuerst einmal um Dollars ging. Keiner, lernten wir, würde jemals von einer Drag-Queen zurückgelassen. In Anspielung auf den Grundsatz des US-Militärs: „No one is left behind!“ Einmal mehr waren wir „with the people“. Die Colleges standen leer, die Uni hatte Ferien. Das heißt, Vorlesungsfreie Zeit. Oder wie man in Yale dazu sagt: Reading days. Das Cafe war bis zum letzten Stehplatz besetzt und bester Laune. Schulter an Schulter wurde getanzt und getrunken. Bei manchen entfesselten Leibern begann ich mich zu fürchten. Vor Verletzungen und seismischer Aktivität. Die Eruption zum Jahreswechsel spielte sich drinnen unter Pfeifen, Singen, Küssen und mit Musik ab. Kein Feuerwerk. Und vor allem keine Böller. Das ist ein sehr sympathischer und nervenschonender Zugang der US-Amerikaner zum Neujahrsfest. Da hat es wieder etwas Gutes, wenn ihnen ihre Dollars zu schade zum Verbrennen sind.
Nach der Feier fuhren wir wieder mit einem Uber heim. Absurderweise hatte der bestellte Fahrer bei seiner Bewertung bloß einen Stern. Die schlechteste Kundenbewertung bisher. Nach einer gelösten Feier in Gesellschaft von Drag-Queens und offenen Menschen jeder sexuellen Orientierung war es ein Weckruf in die Gegenwart, in dem jungen Uber Driver einen Pakistani kennenzulernen, der meine Frau gleich auf den ihr zustehenden Platz im Leben verweisen wollte. Nun, das erklärte immerhin die Kundenbewertungen.
Boulevardmedien täglich und ausschließlich genossen können zu Paranoia führen. Allen gemeinsam ist, dass sie zu Übertreibungen bzw. Skandalisierungen neigen. Ein beliebtes Thema dieser Tage war im deutschsprachigen Europa das „Schneechaos“ in den USA. Dergleichen hat ganz gewiss stattgefunden, an den Großen Seen, aber die sind tausende Meilen weit weg. Connecticut liegt an der Ostküste, und wir wurden „nur“ drei Tage lang vom Wind durchgebeutelt und verweht, aber von einem Chaos keine Spur. Die Wetterwarnung erreichte uns tags zuvor. Alle öffentlichen Einrichtungen, auch das Krankenhaus (bis auf die Notaufnahme) und die Uni blieben geschlossen, die Leute sollten zuhause bleiben. Abends frischte der Wind auf. Aus einer flüsternden Brise wurde innerhalb weniger Stunden ein heulender Sturm. Was uns diese Nacht mitsamt dem Holzhaus sanft in den Schlaf wiegte, das war noch nicht der Blizzard selbst, das waren seine Blizzard-ähnlichen Ausläufer. Vom Ächzen des Zimmermannswerks und dem Rütteln an den Holzrahmen der Fenster wachgeküsst, offenbarte der Blick aus dem Fenster ein hübsches, leicht in Windrichtung verwischtes neutrales Grau. Hinter dieser getrübten Firniss-Schicht zeichneten sich dunkel die Konturen der Nachbarhäuser ab. Wobei eines fehlte, es wurde sicherheitshalber schnell und gewissenhaft abgerissen. Wo vorher das nette kleine Holzhaus stand, lag jetzt ein Haufen Altholz und Bauabfälle, über die der Pulverschneemantel des Vergessens geblasen wurde. Die Straße indes war als Schipiste oder Rodelbahn gewiss vorzüglich, als Fahrbahn jedoch nicht zu empfehlen. Insbesondere, wenn man die hierzulande üblichen „All Seasons“-Reifen auf dem Auto montiert hat. Winterreifen werden großzügig im Radio beworben, das moderne Zeugs setzte sich bislang aber noch nicht durch, die Winter in Neuengland waren ja seit alters her für ihre „Milde“ bekannt. Darum blieben die Fahrstreifen heute alle leer. Nur ab und zu rutschte ein Fahrzeug in instabiler Seitenlage den Hügel vor den Fenstern hinunter. Tapfer tuckerte regelmäßig ein kleiner Schneepflug vorbei. Am Steuer saß ein hochmotivierter Afroamerikaner mit Pudelmütze und im Anorak, der mit fadem Auge seine mitgebrachten Wurstbrote verputzte. Der Asphalt war hinter ihm auch wirklich kurz zu sehen, bis das Straßengrau mit der nächsten Böe wieder faustdick unter dem Schneeweiß verschwand. Von den Außentemperaturen sei besser geschwiegen, der Blick auf die Temperaturanzeige alleine machte einen frösteln.
Während ich mich fröhlich wie auf einem Schiff fühlte, machte Juliane das Schwingen und Ächzen in den Balken und Planken unseres Hauses ein wenig zu schaffen. Diese Nacht schlief sie nicht besonders ruhig. Doch schon der nächste Morgen brachte Entspannung. Die Wetterwarnung war aufgehoben, die Bobbahn draußen präsentierte sich salznass und für den Autoverkehr freigegeben. Und über allen, den Guten wie den Bösen, strahlte wieder die Sonne. Bei lauschigen -26 Grad Celsius. Auf den ersten Blick irritierend wirkte, dass der Sturmwind alle Bäume besenrein geblasen hatte, während auf den Gehsteigen und in den Gärten meterhoch der Schnee lag. Und auch diese weiße Pracht verschwand in den nächsten Tagen völlig, als binnen weniger Stunden die Temperatur in den Plusbereich wechselte. Atmosphärisches Kneippen bis zum Exzess! Heiß- und Kaltwasserbäder. Meine rheumatischen Gelenke waren inzwischen so verstört, dass sie nicht mehr wussten, ob sie steif werden oder bloß wehtun sollten. Im Durchschnitt war dieses Wetter also ganz angenehm. Die Prognose der letzten und auch kommenden Tage wusste und weiß nicht mehr und nicht weniger vorherzusagen, als dass es Wetter gibt.
Ich schließe mich also dem Bürgermeister von Boston an, der verkünden ließ, wer bisher noch nicht an den menschengemachten Klimawandel glaubt, der möge ihn bitte in Massachusetts besuchen kommen. Und dieser Bundesstaat mit seinen spürbaren Wetterkapriolen liegt nur ein wenig nördlicher.


Fortsetzung folgt…


Montag, 1. Januar 2018