Teil 24: Lustig ist das Migrantenleben – Eine Berg- und Talbahn!
Weihnachten und Sylvester sind
vorbei, und ein neues Jahr hat angefangen. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Ein
zwangsläufiger Akt, vor dem es auch diesmal kein Entrinnen gab. Spätestens mit
dem Kater am Neujahrsmorgen setzte er ein. Jedes Mal dieselbe böse Überraschung.
Dabei war ich gewarnt: Wer in den Wald geht, der darf das Rauschen nicht
fürchten! Während über dem Wipfel der Wind heulte, nagte am Wurzelwerk der Gewissenswurm.
Das lag nicht alleine am Alkohol, es war auch der Zeitpunkt. Der Lichtmangel
und die Außentemperaturen, die von milden Plusgraden über Nacht zu Minusgraden
im zweistelligen Bereich hin und zurück wechselten. Auf der Celsiusskala,
versteht sich. Lichterkette, Herrnhuter Stern und Christbaumbeleuchtung halfen,
die Niedergeschlagenheit dieser Tage einzudämmen. Ganz zurückhalten konnten sie
die Sorgenflut dennoch nicht. Land unter! Und auch hiervor war ich gewarnt. Das
Auf und Ab der Gefühlswellen, die Berg- und Talfahrt als Passagier im
Personenwagen der Existenz, die meine Omama noch nostalgisch kunstvoll als „himmelhochjauchzend
und zu Tode betrübt“ beschrieben hatte, die empfanden Migranten besonders
intensiv. Moderne Gebrauchslyrik sang da weit prosaischer und inzwischen
abgegriffener vom Leben als Achterbahnfahrt. Enthusiasmus, Zukunftswillen und
Gestaltungswut erklommen den Gipfel des Empfindbaren, um nach einem kurzen
Schwupps und Magenheber in die finsterste Talsohle der Verzweiflung,
Nichtigkeit und Einsamkeit zu stürzen. Und wenn dann ein menschengemachtes und dazu
mit viel Bedeutung versehenes Datum auf dem Kalender erscheint, dann glotzt der
Abgrund plötzlich zurück und fragt: „Was hast Du erreicht bisher?“ Und die
Nabelschau wird zum Gruselkabinett. Und das Schauerlichste darin ist das eigene
verzerrte Spiegelbild.
Mein körperlicher Zustand erlaubt
es mir nicht, jederzeit und immerzu wie ich das will unser Heim zu verlassen.
Exilanten haben in diesem Zusammenhang schon vom lebendigen Grab geschrieben.
In unserem US-amerikanischen Heim sind jedoch keine Spinnweben und Moder,
sondern viel Liebe und Anteilnahme zuhause. Dennoch warte ich. Und dieses
Warten wirft unangenehme Fragen auf, die es sich auch gleich selbst auf die
übelste Art und Weise beantwortet: Der Migrant, egal ob sie oder er, fragt, was
sie oder er bisher am neuen Ort erreicht hat? Ich frage mich, wie viele meiner
Hoffnungen wurden erfüllt? Wie viele Höhen habe ich wirklich unter den Füßen
gespürt? Und wenn´s wirklich finster war draußen wie drinnen, dachte ich, dass
die USA für mich eine Enttäuschung geworden sind. Keine meiner Erwartungen
wurden erfüllt. Kein Gipfel unter den Sohlen, kein zufriedener Blick zurück ins
Land. Und mit wem redete ich überhaupt? Nur mit jenen, für die es keine andere
Wahl gab. Nur mit denen, die dazu verpflichtet waren. Deren Job es war, sich um
mich zu kümmern. Erschwerend zu Dunkelheit, Kälte und Krankheit hinzukommt,
wenn man wie ich auf etwas wartet. Und ich warte auf eine Antwort, die meinem
Tun wieder Sinn geben kann. Und Platsch machte das Fettnäpfchen!
Wenn irgendjemand meinem Tun
einen Sinn geben kann, dann bin ich das selbst. Und bei diesem Gedanken
erscheint er bald, der Silberstreif am Horizont. Der Moment vor dem
Sonnenaufgang ist der dunkelste und kälteste der Nacht. Wintersonnenwende. Sol
invictus. Weihnachten! Und während ich meinen Verstand wieder wärmend um das
kalte Herz schlinge, wird mir klar, dass ich genau auf die Seife getreten bin
und herumsause wie Kleopatras Löwe bei Asterix, die mir so unglaublich auf den
Geist zu gehen beginnt. Die Lehren der alten Religionen wurden abgelöst von der
First Church of Income. Die
Frohbotschaft der Weihnachtszeit war vielerorts die abgehakte Einkaufsliste.
Das einzige Thema, worüber sich weiße Männer meines Alters an den Tischen und am
Tresen der Bars unterhalten, sind Dollars, wie viele „Ks of dollars“ einer im
Jahr macht, und/oder was dies und das in der Anschaffung kostet. Erhaltung
findet sowieso nicht statt. Konsumiere bis die Müllabfuhr kommt. Um in diesen
Gewässern zu fischen, sind sie mir zu durchsichtig und zu flach. Aber hilft mir
das? Im Gegenteil. Dank dieser ständigen Auspreisung menschlichen Tuns und
Strebens fühle ich mich wertlos, auf den Wühltisch zu den Ladenhütern geräumt. Bald
schon dräut der Abfalleimer.
Dank der Irrlichter meiner
Gedanken landete ich in einem klebrigen Pfuhl, aus dem ich mich wohl oder übel
am eigenen Schopf wieder rausziehen musste. Das machte mich weder zu einem
Münchhausen, noch zu einem Helden, das muss jeder Migrant und Exilant andauernd
schaffen. Und wenn er oder sie Glück haben, dann tritt ihnen beim Aufrappeln
wenigstens keiner auf die Finger. Es ist in New Haven schon vorgekommen, dass
Barkeeper die Bestellung eines Bekannten partout nicht verstehen konnten, weil
er so einen grausamen Akzent hätte. Und der Mann ist Brite. Ich habe das Glück,
dass mir stets die eine oder der andere unter die Arme greift und mich wieder
auf die Beine stellt. Und nicht nur im übertragenen Sinn.
Weihnachten in den USA hört sich
an wie daheim. Da ich ein ernstes Problem mit der christlichen US-amerikanischen
Frömmigkeit habe, beziehungsweise bisher noch keine Kirchengemeinde gefunden
habe, die meinen Zugang teilt, blieb meine Spiritualität heuer auf den optischen
und musikalischen Anteil beschränkt. Und auf mein Empfinden. Die Mehrzahl der
im öffentlichen Rundfunk gesendeten Weihnachtslieder ist deutschsprachiger
Herkunft. Die Klassiker werden in Originalsprache gesungen. Die Volks- und
Kunstlieder in Original und in Übersetzung. Bei den Profis kamen die Texte
akzentfrei rüber, bei Laienchören brauchte es dagegen einiges an Textkenntnis,
Gespür und Fantasie, um zu erkennen, um welche Stelle welcher Strophe es sich
gerade handelte. Und da in Europa die britischen und amerikanischen Schlager
seit Jahrzehnten fix ins alljährliche Repertoire gehören, besteht am Ende der
Feiertage zumindest musikalisch und atmosphärisch kein Grund zu Heimweh oder
Fremdeln. Weihnachten und Hanukkah sind hier wie da fast identisch. Sie bringen
Licht in die Finsternis und Nostalgie und Freude ins Gemüt.
Ganz anders gestaltete sich indes
der Jahreswechsel. Juliane und ich besuchten eine Drag- und Burlesque Show in
New Haven. Das war ein großer Spaß. Wobei es auch hier zuerst einmal um Dollars
ging. Keiner, lernten wir, würde jemals von einer Drag-Queen zurückgelassen. In
Anspielung auf den Grundsatz des US-Militärs: „No one is left behind!“ Einmal
mehr waren wir „with the people“. Die Colleges standen leer, die Uni hatte
Ferien. Das heißt, Vorlesungsfreie Zeit. Oder wie man in Yale dazu sagt: Reading days. Das Cafe war bis zum
letzten Stehplatz besetzt und bester Laune. Schulter an Schulter wurde getanzt
und getrunken. Bei manchen entfesselten Leibern begann ich mich zu fürchten.
Vor Verletzungen und seismischer Aktivität. Die Eruption zum Jahreswechsel
spielte sich drinnen unter Pfeifen, Singen, Küssen und mit Musik ab. Kein
Feuerwerk. Und vor allem keine Böller. Das ist ein sehr sympathischer und
nervenschonender Zugang der US-Amerikaner zum Neujahrsfest. Da hat es wieder
etwas Gutes, wenn ihnen ihre Dollars zu schade zum Verbrennen sind.
Nach der Feier fuhren wir wieder
mit einem Uber heim. Absurderweise hatte der bestellte Fahrer bei seiner
Bewertung bloß einen Stern. Die schlechteste Kundenbewertung bisher. Nach einer
gelösten Feier in Gesellschaft von Drag-Queens und offenen Menschen jeder
sexuellen Orientierung war es ein Weckruf in die Gegenwart, in dem jungen Uber
Driver einen Pakistani kennenzulernen, der meine Frau gleich auf den ihr
zustehenden Platz im Leben verweisen wollte. Nun, das erklärte immerhin die
Kundenbewertungen.
Boulevardmedien täglich und
ausschließlich genossen können zu Paranoia führen. Allen gemeinsam ist, dass
sie zu Übertreibungen bzw. Skandalisierungen neigen. Ein beliebtes Thema dieser
Tage war im deutschsprachigen Europa das „Schneechaos“ in den USA. Dergleichen
hat ganz gewiss stattgefunden, an den Großen Seen, aber die sind tausende
Meilen weit weg. Connecticut liegt an der Ostküste, und wir wurden „nur“ drei
Tage lang vom Wind durchgebeutelt und verweht, aber von einem Chaos keine Spur.
Die Wetterwarnung erreichte uns tags zuvor. Alle öffentlichen Einrichtungen,
auch das Krankenhaus (bis auf die Notaufnahme) und die Uni blieben geschlossen,
die Leute sollten zuhause bleiben. Abends frischte der Wind auf. Aus einer
flüsternden Brise wurde innerhalb weniger Stunden ein heulender Sturm. Was uns
diese Nacht mitsamt dem Holzhaus sanft in den Schlaf wiegte, das war noch nicht
der Blizzard selbst, das waren seine Blizzard-ähnlichen Ausläufer. Vom Ächzen
des Zimmermannswerks und dem Rütteln an den Holzrahmen der Fenster wachgeküsst,
offenbarte der Blick aus dem Fenster ein hübsches, leicht in Windrichtung
verwischtes neutrales Grau. Hinter dieser getrübten Firniss-Schicht zeichneten
sich dunkel die Konturen der Nachbarhäuser ab. Wobei eines fehlte, es wurde
sicherheitshalber schnell und gewissenhaft abgerissen. Wo vorher das nette
kleine Holzhaus stand, lag jetzt ein Haufen Altholz und Bauabfälle, über die
der Pulverschneemantel des Vergessens geblasen wurde. Die Straße indes war als
Schipiste oder Rodelbahn gewiss vorzüglich, als Fahrbahn jedoch nicht zu
empfehlen. Insbesondere, wenn man die hierzulande üblichen „All Seasons“-Reifen
auf dem Auto montiert hat. Winterreifen werden großzügig im Radio beworben, das
moderne Zeugs setzte sich bislang aber noch nicht durch, die Winter in
Neuengland waren ja seit alters her für ihre „Milde“ bekannt. Darum blieben die
Fahrstreifen heute alle leer. Nur ab und zu rutschte ein Fahrzeug in instabiler
Seitenlage den Hügel vor den Fenstern hinunter. Tapfer tuckerte regelmäßig ein
kleiner Schneepflug vorbei. Am Steuer saß ein hochmotivierter Afroamerikaner
mit Pudelmütze und im Anorak, der mit fadem Auge seine mitgebrachten Wurstbrote
verputzte. Der Asphalt war hinter ihm auch wirklich kurz zu sehen, bis das
Straßengrau mit der nächsten Böe wieder faustdick unter dem Schneeweiß
verschwand. Von den Außentemperaturen sei besser geschwiegen, der Blick auf die
Temperaturanzeige alleine machte einen frösteln.
Während ich mich fröhlich wie auf
einem Schiff fühlte, machte Juliane das Schwingen und Ächzen in den Balken und
Planken unseres Hauses ein wenig zu schaffen. Diese Nacht schlief sie nicht
besonders ruhig. Doch schon der nächste Morgen brachte Entspannung. Die
Wetterwarnung war aufgehoben, die Bobbahn draußen präsentierte sich salznass und
für den Autoverkehr freigegeben. Und über allen, den Guten wie den Bösen,
strahlte wieder die Sonne. Bei lauschigen -26 Grad Celsius. Auf den ersten
Blick irritierend wirkte, dass der Sturmwind alle Bäume besenrein geblasen
hatte, während auf den Gehsteigen und in den Gärten meterhoch der Schnee lag.
Und auch diese weiße Pracht verschwand in den nächsten Tagen völlig, als binnen
weniger Stunden die Temperatur in den Plusbereich wechselte. Atmosphärisches
Kneippen bis zum Exzess! Heiß- und Kaltwasserbäder. Meine rheumatischen Gelenke
waren inzwischen so verstört, dass sie nicht mehr wussten, ob sie steif werden
oder bloß wehtun sollten. Im Durchschnitt war dieses Wetter also ganz angenehm.
Die Prognose der letzten und auch kommenden Tage wusste und weiß nicht mehr und
nicht weniger vorherzusagen, als dass es Wetter gibt.
Ich schließe mich also dem
Bürgermeister von Boston an, der verkünden ließ, wer bisher noch nicht an den
menschengemachten Klimawandel glaubt, der möge ihn bitte in Massachusetts
besuchen kommen. Und dieser Bundesstaat mit seinen spürbaren Wetterkapriolen liegt
nur ein wenig nördlicher.
Fortsetzung folgt…