Teil 25: Und täglich grüßt das Murmeltier
Barbar im Pelz! |
Murmeltier Phil hat prophezeit,
dass der Winter in Neuengland sechs weitere Wochen dauern wird. Zu Mariä
Lichtmess (2.Februar) wurde er standesgemäß aus seinem Winterschlaf geweckt.
Von bärtigen Herren in Frack und Zylinder. Phil entstammt einer langen und
ehrwürdigen Linie pausbäckiger Phils. Der wievielte seines Namens Phil ist,
weiß ich nicht. Ihre prophetische Gabe wird seit Generationen geschätzt und
gewürdigt. Ihre menschlichen Bewunderer und Ernährer darum als Philister zu
bezeichnen, halte ich für ungerecht. Nicht immer hatten die Phils Recht mit
ihrer Vorhersage, aber wie ein chinesisches Sprichwort besagt, ist Tradition
die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche. Also wer schert
sich um ihre Trefferquote? Wo doch die Kunst der Verneinung und die Kraft des
Glaubens dieser Tage wieder hoch angesehen sind. „Postfaktisch“ nennt das der
Gebildete, „den Kopf in den Sand stecken“ der Volkstümliche.
In den ehrwürdigen Hallen der
Universität Yale wurde mit Semesterbeginn der Frühling ausgerufen. Und mit der
Ausgabe dieses Mottos zeigten sich sofort die ersten Frühlingsfarben. Es sind
nicht die Krokusse, Himmelschlüssel und Veilchen, die ihre bunten Blütenblätter
aus den Grünanlagen strecken. Es sind blau, rot und purpurn gefrorene Knie,
Waden, Knöchel und Ellenbogen. Die Außenthermometer zeigen Wintertemperaturen
und Minusgrade weit unter null (Celsius), aber die Herzen und die Mode verlangen
nach nackten Beinen und Armen. Das Tragen von Strumpfhosen ist als altbacken verschrien,
das Anziehen von Strümpfen als irgendwie unmoralisch. Erwachsene Frauen staksen
in Sommerpomps und in nackten Waden durch den Schnee. Wurde ihnen jedes
Kälteempfinden aberzogen? Das Verweigern der Realität auf den Thermometerskalen
führt bei Studenten beiderlei Geschlechts zu Weglassen der Socken, dem
Verweigern des Tragens von Winterschuhen, sogar von Winterjacken. Samstagabends
herrscht eine romantische und melodische Stimmung auf den Wegen zwischen den
Collegegebäuden. Das Sirren in der Luft erinnert mich an Straßenszenen in
Sevilla oder in Madrid im Goldenen Zeitalter Spaniens. Kastagnetten-Klang und rhythmische
Tamburin-Schläge liegen in der Luft. Es sind die Zähne und Knie der
Studentinnen und Studenten. Die blutleeren Arme eng um den eigenen Leib
geschlungen huschen sie von einem geheizten Gebäude zum nächsten. Bestaunt von
dick angezogenen Leuten wie mir. Nachdem die Schlotternden die
gesellschaftliche Elite darstellen, müssen sie über eine Wahrnehmung der
Wirklichkeit verfügen, die über meine begrenzten Möglichkeiten hinausgehen.
Sobald ich in Großvaters Innenpelzmantel
an der Haltestelle auf den Bus warte, strafen mich mehr und weniger jugendliche
Bleichgefrorene in Leggings, Kunststoff-Blousons und Turnschuhen mit Blicken. Nicht
weil sie neidisch sind, sondern moralisch überlegen. Bis jetzt hat sich noch
niemand getraut, mich direkt auf meinen Mantel anzusprechen. Vollbart und
geflochtener Zopf schrecken ab. Machen mich vollends zum Barbaren. Wie dem auch
sei! Ich warte darauf, dass endlich eine oder einer den Mut aufbringt, mich wegen
meines Wintermantels aus echt Leder und Fell zu maßregeln. Ich würde ihnen so
gern erklären, dass mein Großvater diesen Mantel vor rund sechzig Jahren
ehrlich erworben hat. Von einem österreichischen Meisterbetrieb, wo ihn ein
Erwachsener mit Sozial- und Krankenversicherung, nach Kollektivvertrag bezahlt und
in geregelten Arbeitszeiten aus Naturprodukten vom Schaf hergestellt hat. Arbeitsrechtlichen
Errungenschaften, von denen bloß zu träumen in den USA als Kommunismus gilt. Und
von wegen Nachhaltigkeit: Mein Schafsmantel wird noch tragbar sein, wenn ich
längst das Zeitliche gesegnet haben werde und alle Weichmacher aus allen in
Kinderarbeit in Billiglohnländern hergestellten Erdöljacken gesickert sind. Und
falls ihn mal jemand wegwirft, wird er bis auf die Hornknöpfe restlos
vermodern. Vielleicht ist es aber auch der Stock? Einen Behinderten anzumachen,
kommt nicht so gut in der urteilenden Öffentlichkeit. Und ich bin noch keiner
Gesellschaft begegnet, in der der bloße Anschein so sehr das reflektierte Sein auslöscht.
In der Literaturwissenschaft
(virtuell und auf Papier) kursierten zum Semesterbeginn an vielen Unis Petitionen.
Zu viele Titel weißer toter Männer stünden in den Pflichtliteraturlisten der
Lehrveranstaltungen. Um die Empörung zu beruhigen, wurden in der Folge ein paar
davon gestrichen. Dafür werden zwei drei AutorInnen z.B. aus Westafrika
gelesen. Alles gut! Dass alle „niederen“ Arbeiten und „Dienstbotentätigkeiten“ auf
dem Campus von AfromerikanerInnen, Spanischsprechenden oder sonstigen
Immigranten erledigt werden, ist dagegen so alltäglich und allgegenwärtig, dass
diese „gottgewollte“ und dollargegebene Ordnung keine Sekunde hinterfragt wird.
Wir fahren alle mit einem Uber von A nach B. Wohlwissend, dass die Lenker keinerlei
soziale Absicherung haben (oder anders als die Taxilenker keine
Berufseignungsprüfung oder Lizenz brauchen). Über das ungute Gefühl wegen der sozialen
Ungerechtigkeit soll man sich mit einem hohen Trinkgeld helfen. So viel Trinkgeld
kann niemand geben, um im Ernstfall eine Krankenversicherung zu ersetzen. Aber
egal! Wenn nur alle fleißig arbeiten, ist jeder seines Glückes Schmied. Wie man
sich bettet, so liegt man. Fällt auf der Veranda des Nachbarhauses die
Schneeschaufel um, bleibt sie so liegen, bis Jose oder DeAndre kommen und damit
den frischgefallenen Schnee schippen. Auch wenn das erst im nächsten Winter
ist.
Mit Mariä Lichtmess war auch Weihnachten
endgültig vorbei. Juliane und ich haben unseren Christbaum entsorgt und zum
Abschluss ein Konzert von Weihnachtsmusik für den Dresdner Kurfürstenhof von
Heinrich Schütz besucht. Wobei „entsorgt“ ein wenig übertrieben ist. Von der Wiener
MA 48 zu Mülltrennung und zur Christbaumsammelstelle erzogen versuchte ich
herauszubekommen, wo wir unseren abgeschmückten Baum hinbringen sollten. Obwohl
Juliane und ich uns beide bemühten, wir fanden auf unsere Frage keine Antwort.
Und die trockenen Nadeln rieselten derweil auf den Parkett. Wir überlegten,
beim Botanischen Garten zu fragen, ob wir unsere brave Tanne bei ihnen auf dem
Kompost zur letzten Ruhe betten dürften. Jede einzelne Strähne Engelshaar
hatten wir natürlich abgezupft. Dann fragte Juliane bei ihren Gastgebern am
Institut nach, was in New Haven mit einem Christbaum a.D. anzustellen sei. Die
Frage löste Erstaunen aus. Die Antwort war so einfach, so erschütternd und so
US-amerikanisch: Nimm das Ding und lege es am Tag der Müllabfuhr zu den
Mülltonnen neben die Straße! Die seligen Jose und DeAndre in ihrer Emanation
als Müllmänner nehmen die Baumleiche mit.
Es sind solche Beobachtungen, die
mir den Aufenthalt in den USA verleiden könnten, gäbe es nicht ebenso viele
angenehme Erlebnisse und Zeitgenossen.
Indes überlege ich mir, den
Genuss der heimischen Nachrichten via Internet einzustellen. Die Schlagzeilen
und Berichterstattungen gefährden meine Gemütsruhe. Ebenso die Interpretation
derselben in den so genannten Sozialen Netzwerken.
Kaum ist Weihnachten auch im
offiziellen Kirchenfestkalender zu Ende, werde ich von Zeitungen und
Radiojournalen an das Osterfest erinnert. Die österreichische Innenpolitik
erinnert mich an Ostereier. Das An- und Einfärben staatlicher Einrichtungen
scheint niemanden zu stören. Das Umfärben löst eine Reaktion aus. Vor allem und
scheinbar nur, wenn die gewählte Farbe nicht gefällt. In den Wänden von
Ministerien werden von Experten technische Einrichtungen geborgen, die je nach
politischer Gesinnung entweder ein Lautsprecher oder eine Abhöranlage sind. Die
technischen Expertisen der zuständigen Stellen werden in der Beurteilung nicht
berücksichtigt. Besser ist es, sich in vorgefassten Mustern zu empören, als mit
Fakten und Widersprüchen die Einigkeit zu stören. Wirklichkeit muss nicht bewiesen
werden, sie beruft sich auf wiederholtes Zitat und Autorität. Ein solcher
Wahrheitsbegriff hat einen Namen: Scholastik. Und er stammt aus dem von heutigen
Möchtegern-Aufklärern so verpönten Mittelalter. Über die Argumente und
Streitkultur unserer Tage hätte Thomas von Aquin herzlich gelacht. Danach wäre
er in Tränen ausgebrochen.
Wer gegen Monstren kämpft, wird
selbst zum Monster. So in etwa sagte Friedrich Nietzsche (mit sächsischem
Akzent). Man bezichtigt ohne Zaudern oder Zögern das norwegische Nationalteam
des Nationalsozialismus, weil sie in Runen „kämpfende Elche“ in ihre Pullover
gestrickt tragen. Das ist ihr offizieller Spitzname! Und die altnordischen
Runen ihr kulturelles Erbe! Dafür, dass sich ein paar mutmaßliche Nachkommen
von Wald- und Wiesengermanen diese Schrift unrechtmäßig angeeignet haben, um auch
ein bisschen Wikinger zu sein, dafür können diese Sportlerinnen und Athleten
nichts. Eine ZDF-Moderatorin belehrt britische Kostümhersteller, dass es „verstörend“
sei, wenn sich Kinder im Fasching als „Evakuierte“ verkleiden. Das sind keine „Flüchtlinge“,
es sind jene, die vor den Bombardements der reichsdeutschen Luftwaffe aus den
englischen Städten evakuiert wurden. Es sind jene, die mit ihrem
Durchhaltevermögen und ihrer Aufopferung den Sieg der Alliierten über das
Dritte Reich ermöglicht haben. Kurz gesagt: In dem Kostüm geht man als Heldin
und Held. Jedenfalls auf ein englisches Faschingsfest. Auch das ist kulturelle
Vielfalt. Last but not least wird in einer Galerie in Manchester ein Gemälde
des Malers John William Waterhouse abgehängt, weil sein Inhalt sexistisch sei. Es
zeigt Nymphen, die einen Hirten verführen. Es ist die femme fatale, die emanzipierte und gefährliche weibliche Sexualität,
die abgehängt wird. Nicht die Vergewaltigte, nicht die Entführte, nicht die
gegen ihren Willen Verhüllte, nicht das Muttchen am Herd!
Ich kann ehrlich gesagt bald
nicht mehr länger zusehen, wie der politisch Andersdenkende in der immer
aggressiver werdenden Rhetorik mehr und mehr entmenschlicht wird. In der
Geschichte der Zivilisationen war und ist dies der erste Schritt zur
Menschenjagd.
Fortsetzung folgt…