Teil 11: Der aus der Reihe tanzt
Green, New Haven CT |
„Was haben Gäste und Fisch
gemeinsam?“, fragt das Sprichwort. „Beide fangen nach drei Tagen zu stinken an!“,
antwortet es sich selbst und will Übles für Andere. Unsere Gäste haben nach
vier Tagen noch nicht einmal einen Geruch fahren lassen. Ihr Aufenthalt war
eine Freude, und ihr Abreisen hat Juliane und mir bewusst gemacht, wie schön es
war, Menschen von zuhause um uns zu haben. Das heißt nicht, dass ich mich besonders
und automatisch freue, wenn ich Leute aus Österreich oder Deutschland in den
USA treffe. Oder bewusst ihre Nähe suche. Zuhause mache ich es auch nicht. Gelegentlich
trifft man Menschen irgendwo in Yale und Umgebung, die einen daheim keines
Blickes würdigen würden, und es später auch nicht tun werden. Aber im Ausland
denken sie, müssen wir uns verbrüdern. Mit Andrea und Robert war dies nicht der
Fall, die konnte ich auch in Wien schon gut leiden. Und in Dschibuti wird es
genauso sein. Da die beiden vor ihrem Aufenthalt bei uns in Tennessee gewesen
sind, waren sie es seit über zwei Wochen gewohnt, sich auf Amerikanisch zu
unterhalten. Sowohl zuhause wie auf der Straße und unterwegs. Also genau wie
wir. Sich jetzt so lange auf Deutsch zu unterhalten, war zum einen eine feine
Sache, zum anderen bewirkte es Amüsantes wie Faszinierendes. Wir begannen nämlich
untereinander, so etwas wie ein neues Kreol oder Unserdeutsch zu sprechen. Eine eindrucksvolle Mischung aus
englischen Formulierungen mit deutschen Wörtern oder umgekehrt. In manche Sätze
schlichen sich englische Ausdrücke und Phrasen ein, für die es für unser Gefühl
keine passende Übersetzung zu geben schien. Genauso tauchten deutsche Wörter in
englischen Gesprächen auf. Ich fühlte und fühle mich dann wie die jungen
Menschen mit Migrationshintergrund, die deutsche Vokabeln und Phrasen in
Gespräche in ihren Muttersprachen einflechten. Und dann wird mir schlagartig
klar, ich bin so ein Mensch mit Migrationshintergrund in den USA. Und vieles,
was mir vorher als nicht nachvollziehbar erschienen ist, ist jetzt ganz von
selbst, ohne dass ich es je hätte beeinflussen können, Teil meines Alltags
geworden. Reisen und Gäste erweitern auf solche Weise das Bewusstsein. Es ist
wie der große US-amerikanische Autor Mark Twain festgestellt hat, eine fixe Regel:
„Travel is fatal to prejudice.“ (dt.:
„Reisen ist tödlich für Vorurteile.“)
Nach dem Besuch im „The Mark Twain House & Museum“ mit
Andrea und Robert in Hartford, hängt ein weiterer Satz aus seiner Feder über
meinem Schreibtisch, zusammen mit seinem wie immer kritisch dreinblickenden
Porträt: „If you tell the truth you don´t
have to remember anything.“ (Mark Twain, 1894) Also: Wenn ich immer die Wahrheit
sage, brauche ich mich an gar nichts zu erinnern. Oder anders gesagt: Erzähle,
oder modern: poste ich keine Geschichterln und Halbwahrheiten über andere und
mich, kann ich mich nicht um Kopf und Kragen quatschen, wenn ich mich nicht an
alle Versionen meiner alternativen Realität erinnere. Ich habe in Social
Media-Foren Wissen über meine Berufsbeziehungen mitgeteilt bekommen, das mir
selbst als Zeitzeugen und Beteiligten gänzlich unbekannt war. Woher dergleichen
rührte, weiß ich nicht, und ich will es mir nicht vorstellen. Wirklich ist, was
Wirkung hat!
Ich muss zugeben, dass ich Mark Twain
aus ganzem Herzen bewundere. Weniger wegen seiner berühmten und mutigen
Geschichten, sondern wegen seiner gedanklichen Vielfalt und seiner Zähigkeit,
die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks zu tragen. Wer ein gescheites
Vorbild sucht, sich nach Schicksalsschlägen wieder aufzurappeln und aufzustehen,
die überraschender Weise immer mitten im Gesicht und den Weichteilen landen, die
oder der hat in Mark Twain seinen Champion gefunden. Ich jedenfalls den meinen.
So berühmt er als Schriftsteller auch gewesen sein mochte, es war ihm nicht
gegönnt, sein Leben auf der Butterseite zu verbringen. Echte Verluste,
Krankheit und finanzieller Bankrott. Aber der Mann, so sehr er auch angezählt
war, stand beim Glockenschlag auf den Beinen und stellte sich der nächsten
Runde. Der Autor, den wir als Mark Twain kennen und lieben, wurde erst in
seinen Vierzigern wer er heute für uns ist. Er folgte mit seinem Beispiel dem
Glauben der alten Griechen, die die Akme,
die Blüte eines Mannes, in diesem Lebensalter ansetzten. In der Mitte seines
Lebens ist er in der Lage, sein Bestes zu geben. Nicht vorher. Dasselbe gilt in
unserer Zeit ebenso für Mädchen und Frauen. Scheiß auf den Jugend- und
Gesundheitswahn, sage ich. Twain schaue runter! Ich bemühe mich, es dir
gleichzutun.
City Hall, Hartford CT |
Zu Mark Twains Zeiten war
Hartford, die Hauptstadt von Connecticut, the
place to be. In Hartford und seinen Vororten versammelte sich alles, was in
den USA Hirn, Rang und Namen hatte (was damals noch kein Widerspruch gewesen ist).
So war z.B. Harriet Beecher, die Autorin von „Onkel Toms Hütte“, die Nachbarin
von Mark Twain und seiner Familie. Heute erinnert ein Besucherzentrum an die
Bürgerrechtlerin. 2017 regieren die Versicherungen das altehrwürdige Hartford.
Das Stadtzentrum ist zu einem typisch US-amerikanischen urbanen Unort geworden.
Das Stadtzentrum könnte sich gleichzeitig überall und nirgends befinden.
Wolkenkratzer aus dem Art Deco ragen neben winzig anmutenden historischen
Regierungsgebäuden auf, verschwinden zwischen Glasfassaden und erheben sich aus
Ruinen. Zwischen offen zur Schau getragener Pracht und Wohlstand verrotten
Hauserblöcke und Menschen. Ein paar dunkle Wolken am Himmel mehr, ein paar
dampfende Kanalgitter in den vermüllten Seitengassen, und man fühlt sich wie in
Gotham City aus den Batman-Comics. Für
einen Menschen mit historischem, oder sagen wir: kulturellem Bewusstsein fühlt
sich ein Besuch in der Hauptstadt des liberalen Bundesstaates wie eine
Marsmission an. Wie die Reise in eine andere Welt, in der alle jemals von
schlauen Frauen und Männern aufgeschriebenen Dystopien in die Wirklichkeit gebracht
wurden. Die Denkmäler, Stelen und altertümlichen Backsteinbauten wirken darin wie
ein zur Erinnerung an den Kühlschrank geklebtes Post-it. Ich kann mich aber
beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was die Notiz bedeuten sollte. Damit
nur ja niemand jemals Anstoß an irgendetwas nehmen kann, wurde alles auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner nivelliert. Alle historisch gewachsenen und alleinstellenden
Merkmale ausradiert. Übrig geblieben ist eine vom Kapitalismus geprägte
Fassade, in der sich jede und jeder selbst der Nächste sein soll, und die Leere
als kalte Brise aus jeder Ritze gähnt. In der örtlichen Gastronomie nur die
beiden Extreme: Entweder Selbstbedienung oder Nobelschuppen mit Platzanweiser,
Hemd- und Kostümpflicht und einer Tasse Kaffee um 100 US-Dollar. Ich fühle mich
gelegentlich verloren in dieser Einkaufszentrum- und Parkhausatmosphäre. Aber die
Amerikaner lassen sich nicht unterkriegen. Mark Twain nannte sich ja auch einen
Yankee aus Connecticut. Und der Ösi in Connecticut spürt ihn hinter jedem
Lächeln, hinter jeder freundlichen Geste und aller formeller Höflichkeit, den
Pioniergeist, der die Menschen alles und jeden Präsidenten überleben lässt.
The master and his humble pupil... |
Viele historische Symbole haben
in der Gegenwart ihre Bedeutung gewechselt. Die berühmte Flagge aus den
Unabhängigkeitskriegen mit der Klapperschlange, die droht „Don´t treat on me!“ (dt.: „Trampel ja nicht auf mir rum!“), die
einst ein Symbol für die Rechte des Einzelnen und der Freiheit gewesen ist,
kleben sich heute Ultrakonservative auf die Autos oder tragen sie als T-shirt.
Ich wollte mir eine kaufen, so lasse ich das lieber. Andere dieser Zeichen
bedeuten in den USA etwas völlig anderes als in Europa. In Europa fand ich es
schick, als Zeichen meiner Rebellion eine Konföderierten-Fahne zu zeigen. Erst in
den USA habe ich gelernt, was die Kriegsflagge der Südstaaten für einen großen
und hart arbeitenden Teil der Bevölkerung wirklich bedeutet. Ich habe erst in
den USA kapiert, was Segregation und White Supremacy wirklich bedeuten, was Sklaverei überhaupt
bedeutet hat. Inzwischen denke ich mir auch meinen Teil, wenn ich einen Pickup
sehe, an dessen Heck die Battleflag of the
Republic klebt. Die Denkmäler der Konföderierten, um die anhaltenden
Proteste und Gegendemonstrationen mit Todesopfern entbrannt sind, wurden oft
fünfzig bis sechzig Jahre nach dem Bürgerkrieg errichtet. Für eine verlorenen
Sache. Und welch Geistes Kind die Menschen sind, die sich auf diesen Verlust
jeder Menschlichkeit als historisches Erbe berufen, zeigen sie selbst am besten
wie z.B. Charlottesville, Virginia. Die USA sind eine Neue Welt, sie
funktioniert nach anderen Regeln als die alte. Um erfolgreich und respektvoll
mitzuspielen, muss ich die Spielregeln lernen und alte Vorstellungen und
Deutungen vergessen.
Andrea und Robert waren zunächst
die einzigen weißen Zuschauer bei einem Basketballevent im Stadtzentrum von New
Haven. Auch die teilnehmenden Teams waren mehrheitlich farbig, bis auf ein paar
einzelne Spieler bei den Erwachsenen. Machen wir, was hier üblich scheint,
brechen wir anhand des Stadtbildes von New Haven alles auf den Rassenkontext
hinunter: Die Afroamerikaner und Farbigen suchen ihr Heil im Sport. Die Asiaten
opfern sich der Bildung. Und die Weißen? Was außer Herkunft und Erbe bleibt für
sie? In Zeiten einer Entwicklung, bei der das Vergessen all dieser Dinge ihr
politisches Ziel darstellt? Es kann doch nicht sein, dass ich mich als junger
Weißer nur zwischen einer konservativen Vorstellung entscheiden kann, die so
niemals existiert hat, oder einer Vergessens-Kultur, die alles Zwischenmenschliche
in ihnen auslöscht. Unsere jugendlichen Mitbewohner bekommen von Mutti und Vati
einen Studienplatz und einen neuen SUV in die Garage gestellt, aber ihre Schuhe
häufen sie zum Verrotten auf dem Gemeinschaftsbalkon auf.
Sunset... |
Wenn wir uns im Herbst in
Österreich für eine Zukunft für unseren Kontinent entscheiden, sollten wir uns
wirklich vor Augen halten, wohin die Entwicklung geht, nämlich hin zu einer Entscheidung
zwischen Lügen und Vergessen. Es ist leicht und bequem, mit dem Finger auf die USA
zu zeigen, aber solange wir jeden Trend und jede Mode nachäffen, sind wir bald
wie unser schlimmstes Vorurteil über das Land der unbegrenzten Widersprüche. Alles,
was im gegenwärtigen politischen Prozess in Europa den Menschen versprochen
wird, existiert bereits in den USA. Corporate
Medicine ist eine großartige Sache. Keine Wartezeiten, individuelle
Betreuung. Der Preis für dieses abgespeckte und effiziente System ist, dass die
Mehrheit der Bevölkerung keinen Zugang zur medizinischen Versorgung hat. Wenn
wir uns in Zukunft „holen, was uns zusteht“, wer bestimmt, wem etwas zusteht? Folgten
wir dem US-amerikanischen System, stünde zu vielen Menschen nichts zu, und die
Mehrheit, getäuscht von der Politik, würde dem zustimmen. Die US-Amerikaner
sind keine Idioten. Sie können das besser, und das wissen sie. Die
Kurskorrektur hängt in der Luft. So laut kann das Gezwitscher aus dem Weißen
Haus gar nicht werden, dass das Murren nicht hörbar bleibt. Check and balance!
Wenn die Menschen nur Unrat im
Kopf haben, wer ist daran schuld? Diejenigen, deren Köpfe vergiftet und
verblödet sind? Oder jene, die den Unrat hineinkippen?
Ich habe mich nach langem
Überlegen dazu entschieden, im Oktober für die Liste Pilz zu kandidieren. Für
dieses Mal habe ich keinen vorderen Listenplatz mehr ergattert. Ich rechne mit
und hoffe auf die nächste Legislaturperiode. Mein Name findet sich diesmal auf
der Landesliste Wien in der Regionalparteiliste 9D. Alle Leserinnen und Leser,
die dazu berechtigt sind, lade ich ein, mir ihr Kreuz zu schenken.
Fortsetzung folgt…
Lighthouse Park, New Haven CT |