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Donnerstag, 24. August 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 12)



Teil 12: Ein Ösi auf Nantucket


Ford Mustang (Bj. 1966)
Die Sonne verschwand hinter dem Schatten des Mondes. Es war dunkel, grau und windig. Die Vögel waren still. Die Autos der Besucher der Sternwarte in unserer Nachbarschaft stauten sich den ganzen Hügel hinunter bis vor unser Haus. Polizisten regelten den schleichenden Stillstand. Dann kam die Sonne wieder. Es wurde hell. Die Vögel rissen lauthals ihre Schnäbel auf. Und US-Präsident Trump guckte trotz Warnungen der NASA ohne Brille in die Sonne. Aber da war alles schon längst wieder vorbei, und er stand auf dem Balkon des Weißen Hauses. Weiß ich genau, ich habe es live auf Youtube gesehen. Und mehr ist über den Tag der Sonnenfinsternis am 21.8.2017 in den USA meinerseits nicht zu sagen. Doch: Ich bin erschüttert, wie sehr ich mich als typisches Kind unserer Zeit sogar an dieses Ereignis gewöhnen konnte. Die diesjährige war die zweite totale Sonnenfinsternis, die ich erleben und beobachten durfte. Die ringsum alles ansteckende und kindliche Euphorie ließ mich völlig kalt. Ich bin halt ein aufgeklärter und arroganter Europäer: Sonnenfinsternis? Bah! Hab ich schon mal gesehen. Und aus eigener Erfahrung bzw. aus Gesprächen weiß ich, dass sogar eine Schilderung der ersten und einzigen Mondlandung der Menschheit zu langweilen imstande ist, weil sie vor fünfzig Jahren geschehen ist und gefühlte Millionen mal im Fernsehen zu sehen war. Was „früher“ gewesen ist, ist halt fad. In dieser faszinierenden Zeitrechnung, die unter „früher“ einen Zeitraum versteht irgendwo zwischen der eigenen Großmutter und den Dinosauriern, verschwimmt alles, was jemals gewesen ist, zu einem diffusen Brei. Eine Zeit mit schlechter Bildqualität, zu viel Exposition und Dialog sowie einer unglaublich langsamen Szenen- und Schnittfolge. Heute ist alles besser und schneller. Der internationale Flugverkehr macht es möglich, dass ich zum zweiten Mal in einem Leben Zeuge eines kosmischen Momentes werden konnte, der in unserem Jahrhundert nur zweimal in 81 Jahren stattfindet. Vorbei scheinen die Zeiten, in denen Junge und Alte an den Lippen jener Männer gehangen sind, die in vergleichsweise winzigen Nussschalen aufs Meer gerudert waren, um sich dem größten atmenden Lebewesen der Erde im Kampf Lanze gegen Fluke zu stellen. Zu tausenden abgeschlachtet und vom Dreck unserer industrialisierten Zivilisation bedroht, stehen die Wale kurz vor dem Aussterben. Die Walfänger von einst sind es längst. Geblieben sind ihre Geschichten. Große Epen, ganz ohne Drachen und Zombies. Aber voller Dämonen.
Die großen internationalen Flughäfen von vor zweihundert und hundertfünfzig Jahren, das waren die Hochseehäfen. Hier kursierten die Geschichten und Souvenirs aus exotischen Ländern und von fremden Gewässern. „Nennt mich Ishmael!“ Mit diesen Worten beginnt „Moby-Dick“, die berühmteste Walfänger-Geschichte von allen. Sie berichtet von einem weißen Wal und dem schwarzen Herz von Kapitän Ahab. Ganz und gar von Rache zerfressen wie eine Raucherlunge von viel zu vielen Zigaretten. Vorher war Herman Melville ein erfolgreicher Unterhaltungsautor gewesen, der einen Roman der heute so genannten „Höhenkammliteratur“ verfassen wollte. Danach hat die damalige Buchbranche Melvilles Karriere versenkt wie Moby-Dick am Ende die Pequod – das nach den massakrierten Ureinwohnern von Connecticut benannte Schiff Ahabs. Heute ist das Buch ein Klassiker der Weltliteratur. Die John Huston-Verfilmung von 1956 nach dem Drehbuch von Ray Bradbury ist selbst Legende. Die Reise der Pequod begann in dem größten und wichtigsten Hafen des blutigen und rußgeschwärzten Schlachtergewerbes jener Tage: In Nantucket. Auf der Insel im Atlantik vor Neuengland, wo die US-amerikanische Walfangflotte im Heimathafen lag. Mehrmals in seiner Vergangenheit Pleite gegangen, gilt Nantucket als der teuerste Ort der USA in der Gegenwart. Die Kardashians machen hier Urlaub. Wie hunderte andere Amerikaner auch. Den Kardashians sind wir bei unserem Besuch der Insel zum Glück nicht begegnet. Allen anderen schon.
Juliane und ich begannen unseren Urlaub auf Nantucket mit der vielleicht US-amerikanischsten Art zu reisen überhaupt. Wir fuhren mit dem Peter Pan-Bus. Genauer gesagt mit drei der grünen nach einem anderen Klassiker der US-Literatur und seinen Figuren benannten Überlandflotte. Seit achtzig Jahren im Geschäft ist Peter Pan das größte private Personentransportunternehmen der USA. Von den schlechten Kritiken einiger deutschsprachiger Reisemedien keine Spur. Die Fahrer sind professionell, die Verbindungen pünktlich. Falls ein Anschluss wegen Verspätung nicht erreicht werden kann, wird gewartet. In den Bussen gibt es gratis Wi-Fi. Ob ich mich im Bus mit Air Condition und Bordtoilette von einem Chauffeur fahren lasse, oder selbst am Steuer eines PKW sitze, das Ergebnis ist dasselbe: Ich komme an meinem Ziel an. Der Unterschied ist bloß, dass ich auf Highways und Interstates nicht gestresst werde. Und dass ich, wenn ich umweltbewusst mit dem Bus reise, dafür komisch angeschaut werde. Ich gelte als wirtschaftlich erfolgreich, wenn ich meine eigene Dreckschleuder durch den Stau reite. Wie dem auch sei, via Hartford (Connecticut), Springfield (Massachusetts) und Providence (Rhode Island) erreichten wir Hyannis auf Cap Cod in Massachusetts.
In Hyannis, wo die Kennedys ihre Anwesen besitzen, fährt die Fähre von und nach Nantucket. Die USA sind groß, wir waren acht Stunden mit Peter Pan unterwegs gewesen, und die Zeit war nicht wie im Flug vergangen. Wir verbrachten also die Nacht in einem richtigen Motel, so einem wie aus jeder US-amerikanischen Krimiproduktion, die ich jemals gesehen habe. Dabei haben wir gelernt, warum die Leute in den Filmen und Serien immer die Zimmer in der oberen der beiden Etagen belegen. Um mir das Treppensteigen zu ersparen, verlangte Juliane nämlich eines von den unteren. Es war das hinterste am Ende des Parkplatzes und es roch nach Lulu. Angeblich, erzählte uns der freundliche Asiate an der Rezeption, pinkelten die Kinder der amerikanischen Familien auf den Teppichboden?! Wir bewohnten den Raum keine zehn Minuten. Das nächste war besser und erfüllte seinen Zweck. Es gab ein eingezäuntes Schwimmbecken im Freien und ein überdachtes Schwimmbad, das redlich nach Chlor duftete. Hier, vor allem drinnen, planschten die kleinen Übeltäter bis spätabends. Gemessen an den Autos auf dem Parkplatz residierten hier keineswegs arme Leute, sondern Menschen der Mittelklasse. Das ganze Jahr über hart arbeitende Menschen, die schufteten, um sich eine Woche Familienurlaub in so einer Anlage leisten zu können. Einem Motel, das einem augenblicklich klarmachte, warum sich Amerikaner bei uns in Europa so wohl fühlen. Weil alles neu und gepflegt aussieht. 

Ganz Hyannis wirkte verwunschen auf uns. Schon während der Fahrt hierher hatten wir uns gefragt, woran es lag, dass die Siedlungen und Städte wie zentrumslose Unorte wirkten. Dann wurde es uns plötzlich klar, die gesamte Stadtplanung war dem Autoverkehr unterworfen. Straßen und Parkplätze dominierten das Stadtbild, überall fuhren oder parkten Privatfahrzeuge. Der öffentliche Raum war dem Vehikel vollkommen Untertan. Da trafen sich dann aus unterschiedlicher Richtung kommend die beiden Systeme Kapitalismus und real existierender Sozialismus, beide bauten Autobahnen mitten durch Stadtkerne. Aber irgendwo mussten sich die beautiful people und ihre Unterkünfte verbergen, für die Cape Cod so berühmt war. Wir folgten der historischen Straße der Kapitänshäuser zum Hafen. Von den einstigen Schmuckstücken waren drei in Schuss und bewohnt, die anderen rotteten als Ruinen vor sich hin. Und die wenigen Fußgänger, die wir trafen, gruselten sich von fern genauso vor uns wie wir vor ihnen. Angesicht zu Angesicht grüßten wir uns freundlich. Mit erleichterten Gesichtern. Im zur Landseite zugeparkten Hafen, gepflegte Fassaden, aber noch nicht mal ein Hund auf der Straße. Aber volle Kneipen und Restaurants. Hier versteckten sich also alle. Wir kauften die Fährtickets in der Steamboat Authority und aßen in Baxter´s Boathouse zu Abend. Einer wiederum typischen Bar am Wasser, genau wie im TV. Mit Stout, Ale, Papptellern und Baseball im Live-TV. Boston Red Sox gegen Cleveland Indians. Die Indians, die alle keine mehr waren, haben gewonnen. Zugang zum Lokal erst ab 21. Unsere Ausweise wollte am Eingang aber niemand sehen. Frechheit!
Mit der zweiten Fähre dieses Tages setzten wir nach Nantucket über. Wir fuhren mit dem Steamboat, nicht mit den fancy Schnellkatamaranen. Und wir beeilten uns, an Bord zu kommen, weil wir befürchteten, ein Rennen um die besten Plätze an Deck würde stattfinden. So wie wir das aus Italien, oder sonst jedem europäischen Urlaubsort gewohnt waren. Weit gefehlt, die US-amerikanischen Mitreisenden interessierten sich nicht die Bohne für die Sessel und Bänke auf den beiden Aussichtsdecks. Sie blieben im Inneren, bei Air Condition, Gratis-WLAN und TV-Bildschirmen. Nur beim Ablegen und Anlegen stellten sich einige an die Reling und machten Selfies oder fotografierten die Küste. Landratten! Nach einem ausgiebigen Frühstück haben wir die Überfahrt im Freien verbracht. Mit dem Blick auf den silbergrauen Ozean, der weißen Gischt und dem dunklen Streifen unseres grün-blauen Kielwassers. Vor Nantucket tauchte ein historischer Großsegler backbord am Horizont auf. Ein Toppsegelschoner unter der Fahne der USA zu Bürgerkriegszeiten, 13 Streifen und ein Sternenkranz. Für einen Walfänger wie die Pequod zu klein, aber ungemein stimmig. Es war der Schoner Lynx. Bald reihten sich die ersten Jachten in unser Kielwasser. Vor und im Hafen von Nantucket lagen dutzende der kleinen und größeren Luxusboote vor Anker oder an den Mooringen.
Wir gingen nach zwei Stunden Überfahrt auf etwas rauer See an Land. Für uns fiel der Empfang freundlich und bei Sonnenschein aus. Wer in der Vergangenheit im Sturm an den Sandbänken der Insel auf Grund lief, dem erging es anders. Die Bewohner der Insel fielen wie Ameisen über das Wrack her, beraubten es seiner Fracht, zerlegten es in seine Einzelheiten und schleppten alles weg. Das Holz wurde als Baumaterial benötigt. Unsere moderne Fähre spie neben Touristen und PKWs auch große Lieferwägen mit allem Inselnotwendigen an Land. Juliane kämpfte sich mit unserem großen Rollkoffer über das wellige Pflaster und durch die Horde aus Tagesausflüglern, die mit uns angelandet war. Das Geräusch der Ferien in den USA, das ist das schmatzende Saugnapfgeräusch der Flipflops. Wohin das Auge reicht, es erblickt nackte Füße. Die weit verbreitete Vorliebe für die Cargo-Shorts teile ich. Die Angewohnheit, die Umwelt mit dem Anblick unfrisierter duschfeuchter langer Haare und spärlicher Sportbekleidung zu erfreuen, die wurde mir ehrlich gesagt irgendwann zu viel. Okay, es war heiß, aber diese spezielle Art sich zu kleiden ließ der Vorstellung wenig bis gar nichts mehr. Die jungen Leute, die in Begleitung ihrer Eltern und vor allem deren Kreditkarten die Insel besuchten, wirkten egal wann oder wobei gequält und genervt auf mich. Die Armen mussten auf einer der schönsten und teuersten Ferieninseln der Welt Zeit verbringen. Arroganz und schlechtes Benehmen verbanden sich in Gestalt der Urlauber aus der so genannten gesellschaftlichen Elite. „I am better than you!“ (dt.: Ich bin besser als du!) als Lebenseinstellung. Eine junge Frau radelte gegen die Einbahn und hielt nicht einmal auf den Zuruf eines Fahrradpolizisten aus dem Sheriffdepartment an. Andere brachten es nicht fertig, die Tür zu einer klimatisierten Bäckerei auf der Central Street eigenhändig zu schließen. Ihr Blick fragte nach dem Personal, und das sollte vorzugsweise schwarz sein. War es in den meisten Fällen auch. Dabei blieb ein übler Beigeschmack, als ich später erfuhr, dass Nantucket, obwohl in der Union, noch während des Bürgerkriegs an der Sklaverei festhielt. Das brachte den Bewohnern, vor allem den reichsten, den Spitznamen „Brotherhood of thiefs“ ein (dt.: Bruderschaft der Diebe). Heute heißt so ein beliebtes Pub, in dem wir zweimal gegessen haben. 
Auf Nantucket, so mein Eindruck, zählte nicht, was man gelernt oder geleistet hatte, nicht welche Haltung man zum oder im Leben einnahm. Es zählte allein, was man hatte. Und das musste man herzeigen. Der erste Weg der meisten Neuankömmlinge führte in die Andenkenläden, um dort ein T-Shirt oder einen Sweater mit der Aufschrift „Nantucket“ zu erwerben. Die Designs waren in jedem Laden auf der gesamten Insel dieselben. Logisch, sie sollten auf dem Festland als Originale erkannt werden. Als Beweise, dass die Träger auch wirklich hier gewesen waren. Ich habe mir keines gekauft. Es gab kein einziges mit Moby-Dick darauf. Die Insel ist autotechnisch fest in der Hand der Mama Fiat. Jede und jeder fährt mit einem Jeep Wrangler oder einem anderem Geländewagenmodell überall hin. Die überragende Mehrheit fährt aber Wrangler. Und sie schaffen es, in den engen Straßen einer überschaubaren historischen Kleinstadt Staus zu produzieren, weil die Karren zu breit und ihre Fahrer zu stur sind. Und ich habe noch nie zuvor so konzentrierte Radfahrer beobachten können. Man merkte genau, dass sie nur einmal im Jahr, und das hier, mit dem Drahtesel fuhren. Ab und dann röhrten und rumpelten ein paar Vespas vorbei. Und die wirklich Schlauen fuhren Cinquecento. Juliane und ich haben Stadtteile besucht, in denen wir die einzigen Fußgänger weit und breit waren. Das war so bemerkenswert, dass sich ein FedEx-Lieferant die Zeit genommen hat, sich mit uns zu unterhalten. Würden die Leute mehr zu Fuß gehen, müssten sie nicht von Kopf bis Fuß durchgestylt Runden um den Häuserblock rennen. Aber das war wohl eine ganz andere Geschichte. Und das waren genau die Dinge, die man auszublenden lernen muss. Nimmt man diese Dinge nicht mehr war, kann man endlich beginnen, die Insel zu genießen. Nantucket ist eine Perle im Ozean. Die darf man sich nicht vermiesen lassen.
Unser kleines Hotel lag mitten in der Altstadt. Unser Zimmer war über einem Süßigkeitenladen, der nach Schokolade und Meersalz-Toffee duftete. Die Duschwanne aus Stein gestaltete sich gewöhnungsbedürftig, weil ihre Maserung auf dem ersten Blick im Zwielicht hinter dem Duschvorhang wie Dreck aussah. Meine Wahrnehmung war allerdings auch schon etwas sturmreif geschossen, da sich Juliane über den Tisch gezogen fühlte, weil ein Hotelzimmer in einem historischen Holzhaus, dessen Zimmermannswerk sich bei Meeresklima in alle Richtungen verzieht, eben nicht schnieke aussieht wie ein Hotelzimmer in Europa. Auf der anderen Straßenseite, im alten Backsteinherrenhaus der Familie Coffin sahen die Gästezimmer ganz genauso aus. Und das Überqueren des Fußgängerübergangs machte einen Unterschied von 200 US-Dollar mehr pro Nacht beim Zimmerpreis aus. Egal in welche Richtung man ging, zu beiden Straßenseiten reihte sich eine hübsche Fassade im Kolonialstil an die nächste. Und oben auf dem Dach waren die typischen Witwensteige montiert, kleine Terrassen, um Ausschau nach den Lieben auf See zu halten. Die vornehmsten waren überdacht und verglast wie Kuppellaternen. An einem viktorianischen Haus in der Broad Street brannten Tag und Nacht die Gaslaternen. Die wenigsten Passanten nahmen von den Flämmchen Notiz. Mir war sofort aufgefallen, dass sie nicht mit dem Glühstrumpf von Carl Auer von Welsbach betrieben wurden. Hatten wohl nicht das Patent bekommen.

Jedes Haus war umgeben von einem wunderbar blühenden Garten. Einem alten Herrn beim Blumengießen, der mich an meinen Vater bei der Gartenarbeit erinnerte, habe ich gesagt, was er für einen schönen Garten hat. Er hat kurz überlegt und mir dann geantwortet, dass ihm auch seine Großmutter beigebracht hatte, dass der Garten dem gehört, der in ihm arbeitet. Daran gemessen gehört fast ganz Nantucket den Gärtnern.
Obwohl ich mich mit dem Tempo einer Rennschildkröte fortbewege, haben Juliane und ich es geschafft, uns alle historischen Bauten in Nantucket anzusehen. Meine Moby-Dick-Träume wurden nicht erfüllt. Ich wollte mir zum Beispiel die berühmte Kanzel in Schiffsform ansehen, von der Vater Mapple in Kapitel 9 seine Predigt über Jonas und den Wal gehalten hat. Alle Bauten, die den großen Brand von 1846 überstanden hatten, wurden in diesem Jahrhundert von der Bank abgerissen. Die erhaltenen Häuser, Gewerbebauten und Kirchen datierten alle später. Bis auf drei der von uns erlaufenen sieben: Hadwen House, Fire Hose Cart House (ein Feierwehrspritzenhaus, einer Garage nicht unähnlich), Old Gant, Greater Light, Oldest House, 1800 House und Old Mill. 
Das älteste Haus der Insel, immerhin aus dem 17. Jahrhundert, war ein schindelverkleidetes Holzhaus mit winzigen Butzenscheibenfenstern, das rund um einen riesigen Backsteinkamin errichtet worden war. Für ein Ehepaar, das sich aus den reichsten und verfeindeten Familien der Insel zusammensetzte: Coffin und Gardner. Der rasante Anstieg der Lebensqualität innerhalb von nur hundert Jahren offenbarte sich bei einem Vergleich der hölzernen Mansion mit der Ziegelfassade des 1800 House, das so auch in Yale oder Boston stehen könnte. Ebenfalls in Laufdistanz aus der Stadtmitte stand die älteste funktionierende Mühle der USA. Sie datierte auf 1746 und war aus dem Holz von Schiffen gebaut worden. Beeindruckend war unter anderem der Schiffsmast, an dessen einer Seite ein Wagenrad und an der anderen das Mühlendach befestigt war, um die Blätter mit den Segeln in den Wind zu drehen.
Unverzichtbar war natürlich der Besuch im Whaling Museum. Hauptattraktion war das komplette Skelett eines Pottwals, der 1997 gestrandet und verendet war, trotz aller Bemühungen der Inselbevölkerung, ihn zu retten. Unter ihnen war auch der Schauspieler John Shea, den wir abends in einer szenischen Lesung von Moby-Dick unter dem Walskelett als Ahab erleben durften. Ungeplant waren wir genau an den Abenden in Nantucket, an denen die Aufführungen stattfanden. Das Museum war museumstechnisch auf dem neuesten Stand und vermittelte anhand guter Exponate Geschichte und Leben der Insel. In den Vitrinen auch jede Menge Scrimshaws, die kunstvoll mit Gravuren und Schnitzereien verzierten Kunstwerke aus Walelfenbein. Ein zeitgenössischer verzierter Walzahn kostet neu ein paar tausend US-Dollar.
Ich muss gestehen, dass ich das Museum bei aller Begeisterung nicht ganz unproblematisch erlebt habe. Über das tatsächliche Leben und dreckige Handwerk der Walfänger auf See hatte ich im Museumshafen Mystic mehr erfahren. Auf Nantucket lebte der Mythos vom Walfang fort in Form von feschen, erfolgreichen Kapitänen, ihren miedertragenden Frauen, den eleganten Möbeln und mitgebrachten Souvenirs. Von Blut und Ruß an Bord kein Wort, kein Bild. Was Juliane und mich aber besonders geärgert hat, war etwas anderes. Die Insel Nantucket war ein Schuh. Ein Mokassin eines schlafenden Riesen namens Moshup. Weil Moshup nicht schlafen konnte, warf er erst einen ins Meer. Das war die Insel Martha´s Vineyard. Und weil er immer noch nicht seinen Frieden fand, schleuderte er den zweiten noch weiter auf die offene See hinaus. Das ergab Nantucket. Anders gesagt: 5000 Jahre lang, bevor ein Europäer seinen Fuß auf die Insel im Atlantik setzte, lebten hier die Wampanoag. Tausende von ihnen. Sie alle starben innerhalb weniger Jahre an von den Engländern eingeschleppten Seuchen und ihrem Alkohol. Und trotzdem wurden im Museum die europäischen Siedler als die ersten Besitzer der Insel bezeichnet. Die Natives waren keine Besitzer, als so genanntes „Naturvolk“ gehörten sie naturgemäß zum Reich der Natur. Gewissermaßen zu Flora und Fauna der Insel. Die Kultur und Zivilisation begann 1641 mit der Ankunft der Briten und ihren Schafen.
Obwohl wir die Partymeile mieden, kam sie in der letzten Nacht zu uns. Unsere lieben Zimmernachbarn feierten Party. Sie hatten sich bei uns schon gut eingeführt, als Margret laut gegen die Tür hämmerte und ihre Tampons verlangte. Das war zu viel Information. Aber auch diese Nacht ging vorbei, und dank Margret, die einmal mehr lauthals gute Laune verbreitete, war auch die Feierstimmung verflogen und es kehrte Ruhe über dem Süßigkeitenladen ein.
Über einen spiegelglatten Ozean kehrten wir am nächsten Abend nach Hyannis zurück. Die Sonne stand tief über dem Horizont. Sie zeichnete eine strahlende Straße auf die Meeresoberfläche. Ihr blendendweißes Schillern machte einem auf den ersten Blick klar, wie unsere seefahrenden Vorfahren auf die Idee vom Bifröst, der Regenbogenstraße in die Andere Welt gekommen waren.
Die Nacht vor unserer Rückfahrt mit Peter Pan nach New Haven verbrachten wir wieder im Motel. Diesmal in einem Zimmer im oberen Stockwerk. Und siehe, es roch besser und fühlte sich insgesamt trockener und weniger Holzhausfeucht an. Auf dem nächtlichen Weg von der Fähre zum Motel, der beim zweiten Mal viel weniger gruselig wirkte, begegneten wir einem kleinen Stinktier. Das hat sich nicht erschreckt und sah sehr niedlich aus. Auf der Insel hatten wir schon fünf wilde Kaninchen in den Gärten gezählt. Ja, manche kamen zum Whale Watching nach Cape Cod, wir zählten die Karnickel!

Fortsetzung folgt…



Einfahrt in den Hafen von Hyannis.