Teil 12: Ein Ösi auf Nantucket
Ford Mustang (Bj. 1966) |
Die Sonne verschwand hinter dem
Schatten des Mondes. Es war dunkel, grau und windig. Die Vögel waren still. Die
Autos der Besucher der Sternwarte in unserer Nachbarschaft stauten sich den
ganzen Hügel hinunter bis vor unser Haus. Polizisten regelten den schleichenden
Stillstand. Dann kam die Sonne wieder. Es wurde hell. Die Vögel rissen lauthals
ihre Schnäbel auf. Und US-Präsident Trump guckte trotz Warnungen der NASA ohne
Brille in die Sonne. Aber da war alles schon längst wieder vorbei, und er stand
auf dem Balkon des Weißen Hauses. Weiß ich genau, ich habe es live auf Youtube gesehen. Und mehr ist über den
Tag der Sonnenfinsternis am 21.8.2017 in den USA meinerseits nicht zu sagen.
Doch: Ich bin erschüttert, wie sehr ich mich als typisches Kind unserer Zeit
sogar an dieses Ereignis gewöhnen konnte. Die diesjährige war die zweite totale
Sonnenfinsternis, die ich erleben und beobachten durfte. Die ringsum alles
ansteckende und kindliche Euphorie ließ mich völlig kalt. Ich bin halt ein aufgeklärter
und arroganter Europäer: Sonnenfinsternis? Bah! Hab ich schon mal gesehen. Und
aus eigener Erfahrung bzw. aus Gesprächen weiß ich, dass sogar eine Schilderung
der ersten und einzigen Mondlandung der Menschheit zu langweilen imstande ist,
weil sie vor fünfzig Jahren geschehen ist und gefühlte Millionen mal im
Fernsehen zu sehen war. Was „früher“ gewesen ist, ist halt fad. In dieser faszinierenden
Zeitrechnung, die unter „früher“ einen Zeitraum versteht irgendwo zwischen der
eigenen Großmutter und den Dinosauriern, verschwimmt alles, was jemals gewesen
ist, zu einem diffusen Brei. Eine Zeit mit schlechter Bildqualität, zu viel
Exposition und Dialog sowie einer unglaublich langsamen Szenen- und Schnittfolge.
Heute ist alles besser und schneller. Der internationale Flugverkehr macht es
möglich, dass ich zum zweiten Mal in einem Leben Zeuge eines kosmischen Momentes
werden konnte, der in unserem Jahrhundert nur zweimal in 81 Jahren stattfindet.
Vorbei scheinen die Zeiten, in denen Junge und Alte an den Lippen jener Männer
gehangen sind, die in vergleichsweise winzigen Nussschalen aufs Meer gerudert
waren, um sich dem größten atmenden Lebewesen der Erde im Kampf Lanze gegen
Fluke zu stellen. Zu tausenden abgeschlachtet und vom Dreck unserer industrialisierten
Zivilisation bedroht, stehen die Wale kurz vor dem Aussterben. Die Walfänger
von einst sind es längst. Geblieben sind ihre Geschichten. Große Epen, ganz
ohne Drachen und Zombies. Aber voller Dämonen.
Die großen internationalen
Flughäfen von vor zweihundert und hundertfünfzig Jahren, das waren die Hochseehäfen.
Hier kursierten die Geschichten und Souvenirs aus exotischen Ländern und von
fremden Gewässern. „Nennt mich Ishmael!“ Mit diesen Worten beginnt „Moby-Dick“,
die berühmteste Walfänger-Geschichte von allen. Sie berichtet von einem weißen
Wal und dem schwarzen Herz von Kapitän Ahab. Ganz und gar von Rache zerfressen
wie eine Raucherlunge von viel zu vielen Zigaretten. Vorher war Herman Melville
ein erfolgreicher Unterhaltungsautor gewesen, der einen Roman der heute so
genannten „Höhenkammliteratur“ verfassen wollte. Danach hat die damalige
Buchbranche Melvilles Karriere versenkt wie Moby-Dick am Ende die Pequod – das nach den massakrierten Ureinwohnern
von Connecticut benannte Schiff Ahabs. Heute ist das Buch ein Klassiker der
Weltliteratur. Die John Huston-Verfilmung von 1956 nach dem Drehbuch von Ray
Bradbury ist selbst Legende. Die Reise der Pequod
begann in dem größten und wichtigsten Hafen des blutigen und rußgeschwärzten Schlachtergewerbes
jener Tage: In Nantucket. Auf der Insel im Atlantik vor Neuengland, wo die
US-amerikanische Walfangflotte im Heimathafen lag. Mehrmals in seiner
Vergangenheit Pleite gegangen, gilt Nantucket als der teuerste Ort der USA in
der Gegenwart. Die Kardashians machen hier Urlaub. Wie hunderte andere
Amerikaner auch. Den Kardashians sind wir bei unserem Besuch der Insel zum
Glück nicht begegnet. Allen anderen schon.
Juliane und ich begannen unseren
Urlaub auf Nantucket mit der vielleicht US-amerikanischsten Art zu reisen
überhaupt. Wir fuhren mit dem Peter Pan-Bus.
Genauer gesagt mit drei der grünen nach einem anderen Klassiker der
US-Literatur und seinen Figuren benannten Überlandflotte. Seit achtzig Jahren
im Geschäft ist Peter Pan das größte
private Personentransportunternehmen der USA. Von den schlechten Kritiken
einiger deutschsprachiger Reisemedien keine Spur. Die Fahrer sind
professionell, die Verbindungen pünktlich. Falls ein Anschluss wegen Verspätung
nicht erreicht werden kann, wird gewartet. In den Bussen gibt es gratis Wi-Fi. Ob
ich mich im Bus mit Air Condition und Bordtoilette von einem Chauffeur fahren
lasse, oder selbst am Steuer eines PKW sitze, das Ergebnis ist dasselbe: Ich
komme an meinem Ziel an. Der Unterschied ist bloß, dass ich auf Highways und Interstates
nicht gestresst werde. Und dass ich, wenn ich umweltbewusst mit dem Bus reise,
dafür komisch angeschaut werde. Ich gelte als wirtschaftlich erfolgreich, wenn
ich meine eigene Dreckschleuder durch den Stau reite. Wie dem auch sei, via
Hartford (Connecticut), Springfield (Massachusetts) und Providence (Rhode
Island) erreichten wir Hyannis auf Cap Cod in Massachusetts.
In Hyannis, wo die Kennedys ihre
Anwesen besitzen, fährt die Fähre von und nach Nantucket. Die USA sind groß, wir
waren acht Stunden mit Peter Pan unterwegs
gewesen, und die Zeit war nicht wie im Flug vergangen. Wir verbrachten also die
Nacht in einem richtigen Motel, so einem wie aus jeder US-amerikanischen
Krimiproduktion, die ich jemals gesehen habe. Dabei haben wir gelernt, warum
die Leute in den Filmen und Serien immer die Zimmer in der oberen der beiden Etagen
belegen. Um mir das Treppensteigen zu ersparen, verlangte Juliane nämlich eines
von den unteren. Es war das hinterste am Ende des Parkplatzes und es roch nach
Lulu. Angeblich, erzählte uns der freundliche Asiate an der Rezeption,
pinkelten die Kinder der amerikanischen Familien auf den Teppichboden?! Wir
bewohnten den Raum keine zehn Minuten. Das nächste war besser und erfüllte
seinen Zweck. Es gab ein eingezäuntes Schwimmbecken im Freien und ein
überdachtes Schwimmbad, das redlich nach Chlor duftete. Hier, vor allem
drinnen, planschten die kleinen Übeltäter bis spätabends. Gemessen an den Autos
auf dem Parkplatz residierten hier keineswegs arme Leute, sondern Menschen der
Mittelklasse. Das ganze Jahr über hart arbeitende Menschen, die schufteten, um
sich eine Woche Familienurlaub in so einer Anlage leisten zu können. Einem
Motel, das einem augenblicklich klarmachte, warum sich Amerikaner bei uns in
Europa so wohl fühlen. Weil alles neu und gepflegt aussieht.
Ganz Hyannis wirkte
verwunschen auf uns. Schon während der Fahrt hierher hatten wir uns gefragt,
woran es lag, dass die Siedlungen und Städte wie zentrumslose Unorte wirkten. Dann
wurde es uns plötzlich klar, die gesamte Stadtplanung war dem Autoverkehr
unterworfen. Straßen und Parkplätze dominierten das Stadtbild, überall fuhren
oder parkten Privatfahrzeuge. Der öffentliche Raum war dem Vehikel vollkommen Untertan.
Da trafen sich dann aus unterschiedlicher Richtung kommend die beiden Systeme
Kapitalismus und real existierender Sozialismus, beide bauten Autobahnen mitten
durch Stadtkerne. Aber irgendwo mussten sich die beautiful people und ihre Unterkünfte verbergen, für die Cape Cod
so berühmt war. Wir folgten der historischen Straße der Kapitänshäuser zum Hafen.
Von den einstigen Schmuckstücken waren drei in Schuss und bewohnt, die anderen
rotteten als Ruinen vor sich hin. Und die wenigen Fußgänger, die wir trafen,
gruselten sich von fern genauso vor uns wie wir vor ihnen. Angesicht zu
Angesicht grüßten wir uns freundlich. Mit erleichterten Gesichtern. Im zur Landseite
zugeparkten Hafen, gepflegte Fassaden, aber noch nicht mal ein Hund auf der
Straße. Aber volle Kneipen und Restaurants. Hier versteckten sich also alle. Wir
kauften die Fährtickets in der Steamboat
Authority und aßen in Baxter´s Boathouse
zu Abend. Einer wiederum typischen Bar am Wasser, genau wie im TV. Mit Stout,
Ale, Papptellern und Baseball im Live-TV. Boston
Red Sox gegen Cleveland Indians. Die
Indians, die alle keine mehr waren,
haben gewonnen. Zugang zum Lokal erst ab 21. Unsere Ausweise wollte am Eingang aber
niemand sehen. Frechheit!
Mit der zweiten Fähre dieses
Tages setzten wir nach Nantucket über. Wir fuhren mit dem Steamboat, nicht mit den fancy
Schnellkatamaranen. Und wir beeilten uns, an Bord zu kommen, weil wir
befürchteten, ein Rennen um die besten Plätze an Deck würde stattfinden. So wie
wir das aus Italien, oder sonst jedem europäischen Urlaubsort gewohnt waren.
Weit gefehlt, die US-amerikanischen Mitreisenden interessierten sich nicht die
Bohne für die Sessel und Bänke auf den beiden Aussichtsdecks. Sie blieben im
Inneren, bei Air Condition, Gratis-WLAN und TV-Bildschirmen. Nur beim Ablegen
und Anlegen stellten sich einige an die Reling und machten Selfies oder
fotografierten die Küste. Landratten! Nach einem ausgiebigen Frühstück haben
wir die Überfahrt im Freien verbracht. Mit dem Blick auf den silbergrauen
Ozean, der weißen Gischt und dem dunklen Streifen unseres grün-blauen
Kielwassers. Vor Nantucket tauchte ein historischer Großsegler backbord am
Horizont auf. Ein Toppsegelschoner unter der Fahne der USA zu
Bürgerkriegszeiten, 13 Streifen und ein Sternenkranz. Für einen Walfänger wie
die Pequod zu klein, aber ungemein
stimmig. Es war der Schoner Lynx. Bald
reihten sich die ersten Jachten in unser Kielwasser. Vor und im Hafen von
Nantucket lagen dutzende der kleinen und größeren Luxusboote vor Anker oder an
den Mooringen.
Wir gingen nach zwei Stunden
Überfahrt auf etwas rauer See an Land. Für uns fiel der Empfang freundlich und
bei Sonnenschein aus. Wer in der Vergangenheit im Sturm an den Sandbänken der
Insel auf Grund lief, dem erging es anders. Die Bewohner der Insel fielen wie
Ameisen über das Wrack her, beraubten es seiner Fracht, zerlegten es in seine
Einzelheiten und schleppten alles weg. Das Holz wurde als Baumaterial benötigt.
Unsere moderne Fähre spie neben Touristen und PKWs auch große Lieferwägen mit
allem Inselnotwendigen an Land. Juliane kämpfte sich mit unserem großen
Rollkoffer über das wellige Pflaster und durch die Horde aus Tagesausflüglern,
die mit uns angelandet war. Das Geräusch der Ferien in den USA, das ist das
schmatzende Saugnapfgeräusch der Flipflops. Wohin das Auge reicht, es erblickt
nackte Füße. Die weit verbreitete Vorliebe für die Cargo-Shorts teile ich. Die
Angewohnheit, die Umwelt mit dem Anblick unfrisierter duschfeuchter langer Haare
und spärlicher Sportbekleidung zu erfreuen, die wurde mir ehrlich gesagt
irgendwann zu viel. Okay, es war heiß, aber diese spezielle Art sich zu kleiden
ließ der Vorstellung wenig bis gar nichts mehr. Die jungen Leute, die in
Begleitung ihrer Eltern und vor allem deren Kreditkarten die Insel besuchten,
wirkten egal wann oder wobei gequält und genervt auf mich. Die Armen mussten
auf einer der schönsten und teuersten Ferieninseln der Welt Zeit verbringen. Arroganz
und schlechtes Benehmen verbanden sich in Gestalt der Urlauber aus der so
genannten gesellschaftlichen Elite. „I am
better than you!“ (dt.: Ich bin besser als du!) als Lebenseinstellung. Eine
junge Frau radelte gegen die Einbahn und hielt nicht einmal auf den Zuruf eines
Fahrradpolizisten aus dem Sheriffdepartment an. Andere brachten es nicht
fertig, die Tür zu einer klimatisierten Bäckerei auf der Central Street
eigenhändig zu schließen. Ihr Blick fragte nach dem Personal, und das sollte
vorzugsweise schwarz sein. War es in den meisten Fällen auch. Dabei blieb ein
übler Beigeschmack, als ich später erfuhr, dass Nantucket, obwohl in der Union,
noch während des Bürgerkriegs an der Sklaverei festhielt. Das brachte den Bewohnern,
vor allem den reichsten, den Spitznamen „Brotherhood
of thiefs“ ein (dt.: Bruderschaft der Diebe). Heute heißt so ein beliebtes
Pub, in dem wir zweimal gegessen haben.
Auf Nantucket, so mein Eindruck, zählte
nicht, was man gelernt oder geleistet hatte, nicht welche Haltung man zum oder
im Leben einnahm. Es zählte allein, was man hatte. Und das musste man
herzeigen. Der erste Weg der meisten Neuankömmlinge führte in die Andenkenläden,
um dort ein T-Shirt oder einen Sweater mit der Aufschrift „Nantucket“ zu
erwerben. Die Designs waren in jedem Laden auf der gesamten Insel dieselben. Logisch,
sie sollten auf dem Festland als Originale erkannt werden. Als Beweise, dass
die Träger auch wirklich hier gewesen waren. Ich habe mir keines gekauft. Es
gab kein einziges mit Moby-Dick darauf. Die Insel ist autotechnisch fest in der
Hand der Mama Fiat. Jede und jeder fährt mit einem Jeep Wrangler oder einem anderem Geländewagenmodell überall hin.
Die überragende Mehrheit fährt aber Wrangler.
Und sie schaffen es, in den engen Straßen einer überschaubaren historischen
Kleinstadt Staus zu produzieren, weil die Karren zu breit und ihre Fahrer zu
stur sind. Und ich habe noch nie zuvor so konzentrierte Radfahrer beobachten
können. Man merkte genau, dass sie nur einmal im Jahr, und das hier, mit dem Drahtesel
fuhren. Ab und dann röhrten und rumpelten ein paar Vespas vorbei. Und die wirklich Schlauen fuhren Cinquecento. Juliane und ich haben
Stadtteile besucht, in denen wir die einzigen Fußgänger weit und breit waren.
Das war so bemerkenswert, dass sich ein FedEx-Lieferant
die Zeit genommen hat, sich mit uns zu unterhalten. Würden die Leute mehr zu
Fuß gehen, müssten sie nicht von Kopf bis Fuß durchgestylt Runden um den
Häuserblock rennen. Aber das war wohl eine ganz andere Geschichte. Und das
waren genau die Dinge, die man auszublenden lernen muss. Nimmt man diese Dinge
nicht mehr war, kann man endlich beginnen, die Insel zu genießen. Nantucket ist
eine Perle im Ozean. Die darf man sich nicht vermiesen lassen.
Unser kleines Hotel lag mitten in
der Altstadt. Unser Zimmer war über einem Süßigkeitenladen, der nach Schokolade
und Meersalz-Toffee duftete. Die Duschwanne aus Stein gestaltete sich
gewöhnungsbedürftig, weil ihre Maserung auf dem ersten Blick im Zwielicht hinter
dem Duschvorhang wie Dreck aussah. Meine Wahrnehmung war allerdings auch schon
etwas sturmreif geschossen, da sich Juliane über den Tisch gezogen fühlte, weil
ein Hotelzimmer in einem historischen Holzhaus, dessen Zimmermannswerk sich bei
Meeresklima in alle Richtungen verzieht, eben nicht schnieke aussieht wie ein
Hotelzimmer in Europa. Auf der anderen Straßenseite, im alten Backsteinherrenhaus
der Familie Coffin sahen die Gästezimmer ganz genauso aus. Und das Überqueren
des Fußgängerübergangs machte einen Unterschied von 200 US-Dollar mehr pro
Nacht beim Zimmerpreis aus. Egal in welche Richtung man ging, zu beiden
Straßenseiten reihte sich eine hübsche Fassade im Kolonialstil an die nächste. Und
oben auf dem Dach waren die typischen Witwensteige montiert, kleine Terrassen,
um Ausschau nach den Lieben auf See zu halten. Die vornehmsten waren überdacht
und verglast wie Kuppellaternen. An einem viktorianischen Haus in der Broad
Street brannten Tag und Nacht die Gaslaternen. Die wenigsten Passanten nahmen
von den Flämmchen Notiz. Mir war sofort aufgefallen, dass sie nicht mit dem
Glühstrumpf von Carl Auer von Welsbach betrieben wurden. Hatten wohl nicht das
Patent bekommen.
Jedes Haus war umgeben von einem wunderbar blühenden Garten.
Einem alten Herrn beim Blumengießen, der mich an meinen Vater bei der
Gartenarbeit erinnerte, habe ich gesagt, was er für einen schönen Garten hat. Er
hat kurz überlegt und mir dann geantwortet, dass ihm auch seine Großmutter beigebracht
hatte, dass der Garten dem gehört, der in ihm arbeitet. Daran gemessen gehört fast
ganz Nantucket den Gärtnern.
Obwohl ich mich mit dem Tempo
einer Rennschildkröte fortbewege, haben Juliane und ich es geschafft, uns alle
historischen Bauten in Nantucket anzusehen. Meine Moby-Dick-Träume wurden nicht
erfüllt. Ich wollte mir zum Beispiel die berühmte Kanzel in Schiffsform
ansehen, von der Vater Mapple in Kapitel 9 seine Predigt über Jonas und den Wal
gehalten hat. Alle Bauten, die den großen Brand von 1846 überstanden hatten,
wurden in diesem Jahrhundert von der Bank abgerissen. Die erhaltenen Häuser,
Gewerbebauten und Kirchen datierten alle später. Bis auf drei der von uns
erlaufenen sieben: Hadwen House, Fire Hose Cart House (ein Feierwehrspritzenhaus,
einer Garage nicht unähnlich), Old Gant, Greater Light, Oldest House, 1800
House und Old Mill.
Das älteste Haus der Insel, immerhin aus dem 17.
Jahrhundert, war ein schindelverkleidetes Holzhaus mit winzigen Butzenscheibenfenstern,
das rund um einen riesigen Backsteinkamin errichtet worden war. Für ein
Ehepaar, das sich aus den reichsten und verfeindeten Familien der Insel zusammensetzte:
Coffin und Gardner. Der rasante Anstieg der Lebensqualität innerhalb von nur
hundert Jahren offenbarte sich bei einem Vergleich der hölzernen Mansion mit der Ziegelfassade des 1800
House, das so auch in Yale oder Boston stehen könnte. Ebenfalls in Laufdistanz
aus der Stadtmitte stand die älteste funktionierende Mühle der USA. Sie
datierte auf 1746 und war aus dem Holz von Schiffen gebaut worden.
Beeindruckend war unter anderem der Schiffsmast, an dessen einer Seite ein
Wagenrad und an der anderen das Mühlendach befestigt war, um die Blätter mit den
Segeln in den Wind zu drehen.
Unverzichtbar war natürlich der
Besuch im Whaling Museum. Hauptattraktion war das komplette Skelett eines
Pottwals, der 1997 gestrandet und verendet war, trotz aller Bemühungen der
Inselbevölkerung, ihn zu retten. Unter ihnen war auch der Schauspieler John
Shea, den wir abends in einer szenischen Lesung von Moby-Dick unter dem
Walskelett als Ahab erleben durften. Ungeplant waren wir genau an den Abenden
in Nantucket, an denen die Aufführungen stattfanden. Das Museum war
museumstechnisch auf dem neuesten Stand und vermittelte anhand guter Exponate Geschichte
und Leben der Insel. In den Vitrinen auch jede Menge Scrimshaws, die kunstvoll mit Gravuren und Schnitzereien verzierten
Kunstwerke aus Walelfenbein. Ein zeitgenössischer verzierter Walzahn kostet neu
ein paar tausend US-Dollar.
Ich muss gestehen, dass ich das
Museum bei aller Begeisterung nicht ganz unproblematisch erlebt habe. Über das
tatsächliche Leben und dreckige Handwerk der Walfänger auf See hatte ich im
Museumshafen Mystic mehr erfahren. Auf Nantucket lebte der Mythos vom Walfang
fort in Form von feschen, erfolgreichen Kapitänen, ihren miedertragenden
Frauen, den eleganten Möbeln und mitgebrachten Souvenirs. Von Blut und Ruß an
Bord kein Wort, kein Bild. Was Juliane und mich aber besonders geärgert hat,
war etwas anderes. Die Insel Nantucket war ein Schuh. Ein Mokassin eines
schlafenden Riesen namens Moshup. Weil Moshup nicht schlafen konnte, warf er
erst einen ins Meer. Das war die Insel Martha´s Vineyard. Und weil er immer
noch nicht seinen Frieden fand, schleuderte er den zweiten noch weiter auf die offene
See hinaus. Das ergab Nantucket. Anders gesagt: 5000 Jahre lang, bevor ein Europäer
seinen Fuß auf die Insel im Atlantik setzte, lebten hier die Wampanoag. Tausende
von ihnen. Sie alle starben innerhalb weniger Jahre an von den Engländern
eingeschleppten Seuchen und ihrem Alkohol. Und trotzdem wurden im Museum die europäischen
Siedler als die ersten Besitzer der Insel bezeichnet. Die Natives waren keine
Besitzer, als so genanntes „Naturvolk“ gehörten sie naturgemäß zum Reich der
Natur. Gewissermaßen zu Flora und Fauna der Insel. Die Kultur und Zivilisation
begann 1641 mit der Ankunft der Briten und ihren Schafen.
Obwohl wir die Partymeile mieden,
kam sie in der letzten Nacht zu uns. Unsere lieben Zimmernachbarn feierten
Party. Sie hatten sich bei uns schon gut eingeführt, als Margret laut gegen die
Tür hämmerte und ihre Tampons verlangte. Das war zu viel Information. Aber auch
diese Nacht ging vorbei, und dank Margret, die einmal mehr lauthals gute Laune
verbreitete, war auch die Feierstimmung verflogen und es kehrte Ruhe über dem
Süßigkeitenladen ein.
Über einen spiegelglatten Ozean
kehrten wir am nächsten Abend nach Hyannis zurück. Die Sonne stand tief über
dem Horizont. Sie zeichnete eine strahlende Straße auf die Meeresoberfläche.
Ihr blendendweißes Schillern machte einem auf den ersten Blick klar, wie unsere
seefahrenden Vorfahren auf die Idee vom Bifröst,
der Regenbogenstraße in die Andere Welt gekommen waren.
Die Nacht vor unserer Rückfahrt
mit Peter Pan nach New Haven
verbrachten wir wieder im Motel. Diesmal in einem Zimmer im oberen Stockwerk.
Und siehe, es roch besser und fühlte sich insgesamt trockener und weniger
Holzhausfeucht an. Auf dem nächtlichen Weg von der Fähre zum Motel, der beim
zweiten Mal viel weniger gruselig wirkte, begegneten wir einem kleinen
Stinktier. Das hat sich nicht erschreckt und sah sehr niedlich aus. Auf der
Insel hatten wir schon fünf wilde Kaninchen in den Gärten gezählt. Ja, manche
kamen zum Whale Watching nach Cape
Cod, wir zählten die Karnickel!
Fortsetzung folgt…
Einfahrt in den Hafen von Hyannis. |