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Sonntag, 11. Februar 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 26)

Teil 26: Von Fahrer zu Fahrgast


Wir fahren mit Uber. In einer US-amerikanischen Kleinstadt wie New Haven mit 130.000 Einwohnern eine halbe Stunde auf ein Taxi zu warten, ist keine Alternative. Die Yale-Shuttles fahren auch nicht immer und überall. Mit Uber ist in drei bis vier Minuten der Transport geregelt. Via App. Ich mache hier sicher keine Werbung für das Unternehmen. Vergessen wir aber einmal die sozioökonomischen Aspekte. Konzentrieren wir uns auf die sozialen, d.h. die zwischenmenschlichen. Gespräche mit Taxilenkern sind schon spannend. Und das weltweit. In den Uber-Fahrern trafen wir in den USA die interessantesten Gesprächspartner. Aus aller Welt. Spannenderweise saßen bisher nur zwei Frauen am Steuer. Beide junge und patente Afroamerikanerinnen. Weder die eine noch die andere hatte Angst, Fahrgäste in der Nacht durch New Haven zu steuern. Wie gesagt, eine Kleinstadt. Mit Uni. Einem goldenen Käfig von der Armut umringt wie das kleine gallische Dorf von Römerlagern. Die betrunkenen College-Studenten, die Nachtens von einer Bar zur anderen oder heim ins Bettchen gefahren werden wollen, die wären zwar laut und nervig, aber harmlos. Eine Beobachtung, der ich mich anschließe. Außerdem sind die im Vergleich zu den Vollzeitstudenten wenigen partylaunigen Youngsters im Moment halb erfroren. In kurzen Hosen und T-Shirts steif wie die Leguane in Florida. Der nächste Frühling und Sommer kommen indes bestimmt. Durst ist schlimmer als Heimweh. Und einige Fahrten führen aus der Gated Community hinaus. Ich bin mir darum sicher, dass die freundlichen jungen Uber-Fahrerinnen etwas Verbindliches zu ihrem Schutz im Handschuhfach mitführen. Generell empfiehlt es sich, sein europäisches Autofahrergemüt und seinen so leicht im Verkehr gekränkten Stolz zu zügeln. Also nicht mit rotem Kopf Beschimpfungen zu brüllen und/oder seinen Mitmenschen Vögelchen und Fingerchen zu zeigen. Die Chance ist groß, dafür geschwind in den Lauf einer Shotgun oder ähnlichem Geschütz zu schielen. Mitgeführt von einem selbstständigen Unternehmer windigen Gewerbes, eines wehrhaften Republikaners oder gar gleich eines schlecht gelaunten Officers. Letztes wäre übrigens der Jackpot. Von einer Nacht in der Zelle träumt doch jeder. Wer eine Reise tut, der will auch was erzählen.
Die USA waren und sind ein Einwanderungsland. Seit die ersten Jäger und Sammler via Eisschollen und über die Beringstraße hierher wanderten. Die einzige aus dem Kontinent geborene humanoide Lebensform haben die Migranten aufgefressen, das Riesenfaultier. Auch die einheimischen Pferde, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Menschen aus aller Herren Länder kamen und kommen hierher. Die komplette Farbpalette der gegenwärtigen Welle fährt für Uber. Zusammen mit rüstigen Rentnern und Zweit- oder Drittjobholdern. Die Gespräche, die sich daraus ergeben sind spannend, informativ und gelegentlich verstörend. Ein erster Eindruck in aller Kürze und gemäß allen Klischees (Wie schon oft gesagt und geschrieben, die müssen ja irgendwoher kommen):
Der rüstige weiße US-amerikanische Rentner fährt Hybrid oder eine deutsche Limousine. Als Gründe für seine Tätigkeit gibt er Langeweile an. Der Erhalt des Lebensstandards bei drastisch reduziertem Jahreseinkommen und/oder die Schieflage des Haussegens kommen dann später erst zur Sprache. Nachdem man sich gegenseitig ein wenig beschnuppert hat, und Juliane und ich als Renegaten der First Church of Income erkannt wurden. Keiner der gutsituierten Herren möchte in seiner Wohngegend als armer Schlucker verkannt sein und aus der Limousine in einen Kleinwagen umsteigen. Da fährt er das kostenintensive Ding lieber für Uber in Grund und Boden und seine Gesundheit in Nachtschichten und beim Kofferstemmen an die Wand. Bitte, it´s the land of the free. Ähnliche Motivationen verraten afroamerikanische und spanischsprechende Familienväter. Sie sind wie die weißen Pensionisten gut gekleidet, sind gebildet, aber auf dem Armaturenbrett leuchtete in den meisten Fällen die Motorkontrollleuchte. Das nächste Service stand an, jedoch nicht auf dem Finanzplan. In der Kostenabrechnung hatten andere Posten Priorität. Ausbildung und Gesundheit der Kinder zum Beispiel. Beim einzigen Nebenerwerbsstudent, der uns zu später Stunde nachhause fuhr, leuchtete die Kontrolllampe im fabrikneuen SUV nicht. Er gab aber ohne Abschweife zu, dass sein Jeep weder fabrikneu wäre noch Reifen hätte, würde er nach seinen Vorlesungen und Lerneinheiten keine Fahrgäste durch New Haven fahren.
Der größte Anteil der Uber-Fahrer rekrutiert sich aber wie gesagt aus Einwanderern. Aus Südamerika und aus muslimischen Herkunftsländern. Unser eigener Akzent funktioniert als Eisbrecher hervorragend. In den allermeisten Fällen ergibt sich daraus sofort ein Gespräch. Frei nach dem Motto: Wo kommt ihr denn her? Ich bin aus XY… Von Österreich und Deutschland hatten bisher alle wenigstens schon einmal gehört. Juliane ist allerdings schon ein wenig davon gekränkt, dass ihre Antwort mit einem zustimmenden Grunzen quittiert wird, und nach meiner die Begeisterungskurve schlagartig steigt.
Gleich zum Jahreswechsel begegneten wir so einem recht verhaltensoriginellen jungen Mann aus Pakistan. Juliane war gleich aufgefallen, dass seine Kundenbewertung mit nur einem Stern im Vergleich zu allen anderen unter jeder Sau war. Zu Neujahr war die Auswahl nicht groß, der Heimdrang dagegen schon. Also mit bester Absicht und im guten Glauben eingestiegen. Keineswegs ungewöhnlich wollte er wissen, woher wir beide kamen, was wir so machten und wie viele Sprachen wir sprächen. Bei Juliane sind es halt doch ein paar mehr, und auch ich habe die eine oder andere lernen dürfen. Er war spürbar enttäuscht von unseren Antworten und relativierte unsere Sprachenkenntnisse im nächsten Atemzug als „international“. Und ich dachte immer, das sei der eigentliche Zweck, um Fremdsprachen zu lernen, sich international austauschen und verstehen zu lernen. Nein, jener wollte uns aufs Auge drücken, dass er acht Sprachen erlernt hatte. Das nötigte mir wiederum ehrliche Bewunderung ab. Seine Enttäuschung wurde jetzt noch größer. Weil ich keinerlei Geringschätzung für „indigene“ Sprachen erkennen ließ, und seine acht Sprachen alles Regionalsprachen des indischen Subkontinents waren. Weshalb auch. Vielsprachigkeit gehört in multiethnischen oder nomadischen Gesellschaften zum Alltag. Ich schloss, dass er einiges an eurozentrischer bzw. amerikazentrischer Verachtung für seine Herkunft zu spüren bekommen hatte und darum die mit Yale verbundenen Wissenschaftler und Studenten gerne mit der bloßen Anzahl beschämen wollte. Wobei Yale ein schlechter Ort für diese Strategie ist. Er war halt dann doch nicht die hellste Kerze auf dem Weihnachtsbaum. Als mich zu Beschämen weder auf die eine noch die andere Weise klappte, änderte er seine Taktik. Ab hier griff er meine Frau an. Nun wollte er mir weismachen, dass mein Glauben in seinen Augen eben doch nicht so gut war wie ich dachte. Als ich ihm dann in rumpelnden Arabisch meine Kenntnisse seiner Religion vortrug, war der Spaß endgültig vorbei. Meine Frau sei zwar die Professorin, aber ich der klügere und so fort. Bevor das ganze eskalieren konnte, war die Fahrt zu Ende. Mit einem freundlichen Basmala schickte ich ihn seiner Wege. Auf hoffentlich Nimmerwiedersehen.
Auf der höchst angenehmen Fahrt ins Kino zu einem leider enttäuschenden Filmerlebnis baumelte der arabische Namenszug Gottes am Innenspiegel. Das konnte ich nicht unkommentiert lassen. Zu groß war meine Neugier. Und mit diesem Mann unterhielt ich mich prächtig vom Einsteigen bis zum Aussteigen. Über Gott und die Welt, Winterreifen und die unergründlichen Geheimnisse der US-amerikanischen Schneeräumung.
Gerne bin ich mit spanischsprechenden Fahrern unterwegs. Die hören die beste Musik. Und die Augen wider den bösen Blick und die Kalligraphie sind in ihren Cockpits durch Rosenkränze und Madonnen ersetzt. Religion ist bei diesen Menschen kein Thema. Man hat die richtige, oder keine. Hemd wie Hose.
Noch lange in Erinnerung bleiben wird mir ein eher unheimlicher Argentinier. Zum einen weil er mich bzw. uns zu einem unterm Strich unerquicklichen aber bitter notwendigen Arzttermin gefahren hat, zum anderen weil auch er ein missionarisches Mitteilungsbedürfnis an den Tag legte, das mir mit der Zeit unangenehm wurde. Aber man kann seinem Fahrer schlecht den Mund verbieten, auf halbem Weg und mit Kinderstube. Zuerst berichtete er in gebrochenem Englisch und recht kurzweilig über seine Nachtschichten. Die er fahren musste, weil ein Familienbesuch bei den Großeltern in Argentinien zwei seiner Jahresgehälter verschlingt. Sein Redeschwall war zwar verstörend, aber in allem nachvollziehbar. Bis er sich in Rage redete. Er zeigte uns beim Vorbeifahren ein College, von dem er regelmäßig schmusende Mädchen abholte. Das Skandalöse daran, die Mädchen küssten und umarmten andere Mädchen. Es waren schwule Mädchen. Guten Morgen, für diese offene Politik ist Yale in den USA bekannt. Hier, anders als in Europa, gilt Yale als die Hippie-Uni unter den Ivy-League Colleges. Wie dem auch sei. Das nächtliche Schmusen der liebestollen höheren Töchter hatte irgendein Ventil gelöst. Im nächsten Atemzug beschwerte er sich über das Bruststillen. Amerikaner, ärgerte er sich, tolerierten Homosexuelle auf offener Straße, aber mit dem Stillen hatten sie ein Problem. Ich spitzte die Ohren. Er kritisierte das Richtige aber im Vergleich zum Falschen und meiner Meinung nach aus den falschen Motiven. Beim Anblick einer stillenden Mutter bricht wirklich buchstäblich Panik aus, jede Form von Gewalt darf jedoch verherrlicht und gezeigt werden. Das wäre mein Problem mit der Sache. Juliane und ich sind uns darin einig, wir hatten aber anderes im Kopf, meinen Arzttermin, und ließen unsren Fahrer weiter schwadronieren. Die Sau war jetzt ohnedies schon heraus, also randalierte sie munter im Weingarten des Herrn. Angesichts unseres Fahrziels gerieten Arzttermine und Medikamentenverschreibungen zum Inhalt seines Ärgers. Er berichtete wie lange er auf einen Termin beim Doktor zu warten habe, und dass seine schwangere Ehefrau keine Schmerzmittel bekam. Wegen ihrer ständigen Beschwerden wollte er sie am Liebsten umbringen. Das trug er völlig frei von Ironie vor. Zu seinen Gunsten interpretierte ich sein Gesagtes als missglückten Scherz bzw. als Sprach- und Übersetzungsproblem. Schon hörte ich die Veränderung im Atemrhythmus meiner Gattin. Und einmal mehr rettete das Erreichen unseres Ziels die Situation.
Bei einer anderen Fahrt freute sich dagegen ein netter Bursche aus der Republik Kongo wie toll er das US-amerikanische Gesundheitssystem fand. Im Vergleich zu dem in seinem Herkunftsland. Juliane und ich hörten seine Worte und trauten unseren Ohren nicht. Er bemerkte unsere Verwirrung und führte weiter aus: In den USA musste er hunderte und tausende Dollar bezahlen während oder nachdem er einen Doktor gesprochen hatte. In Afrika hatte er dieselben Summen aufbringen müssen, um überhaupt einen Arzt treffen zu dürfen. Der war dann manchmal gar keiner, sondern nur irgendein Typ in einem weißen Kittel. Für ihn waren die USA und ihr Gesundheitssystem eine echte Bereicherung und Verbesserung. Natürlich hätten wir ihm jetzt widersprechen können, die Vorzüge des Sozialsystems in Zentraleuropa preisen und ihm die USA madig reden können, aber damit wäre weder ihm noch uns in irgendeiner Weise geholfen worden. Warum sollten wir einem ehrlich Glücklichen die Freude vermiesen?
Juliane und ich empfinden vieles am US-amerikanischen Gesundheitssystem als Spießrutenlauf. Vor allem das ständige Gezerre wegen der Versicherung. Dabei sei klar gesagt, dass weder unser Versicherungsträger noch die Ärzte und Spitäler das Problem bilden. Die Doktoren leiten ihre Verschreibungen direkt an die zuständige Apotheke weiter. Es gibt keine Rezepte. Bis das Medikament aber endlich in meinen Händen, oder besser gesagt in meinem Mund landet, haben noch einige Würstchen ihren Senf abzugeben. Und das dauert. Jede medizinische Hilfe und Versorgung erfolgt unter Finanzierungsvorbehalt. Zum Davonrennen. Darüber könnte man sehr leicht vergessen, wie viele Schrecken, Mühen und Gefahren Menschen auf sich nehmen, um in die USA zu gelangen.
Die Diskussion über die so genannten Dreamers ist in aller Munde. Wir haben schon einige Demonstrationen und Kundgebungen zu ihren Gunsten gesehen. Und ich glaube, in einem jungen Mann mit leichtem spanischem Akzent haben wir neulich auch einen von ihnen getroffen. Auf der Fahrt unter dem riesigen Blutmond über Fair Haven erzählte er uns von seinem Vater, der die lange Reise von Ecuador in die USA zu Fuß unternommen hatte. Von seinem Marsch von Mexiko durch die Wüste nach Texas. Unter sengender Sonne, ohne Wasser und Proviant.
Last but not least trafen wir im Uber einen jungen Mann, der uns recht schnell und schnörkellos gestand, die USA nicht zu mögen. Die Menschen wären unfreundlich und abweisend zu ihm. Das widersprach meinen eigenen Erfahrungen, und ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, dass die Ablehnung mit seinem Herkunftsland zu tun hatte. Mein erster Eindruck von ihm war ein positiver, sein Umgang freundlich und offen. Wie üblich fragte er uns nach unserem Akzent. Und siehe da, sein Bruder lebte in Wien, und ein Cousin in Deutschland. Die Österreicher wären sehr nett, die Deutschen weniger. Diese Darstellung verblüffte mich ein wenig. Die österreichische Gastfreundschaft wird zurzeit nicht gerade gepriesen. Jedenfalls nicht in den Sozialen Netzwerken. Für den jungen Mann stand sie außer Zweifel. Die besten Pässe, sagte er, wären ein österreichischer, ein schwedischer oder ein deutscher. Seinem Bruder wurde bedingungslos geholfen, seinem Cousin widerwilliger aber doch. Er musste rund um die Uhr arbeiten, um ein Auskommen zu finden. Und Connecticut ist sehr teuer. Sobald er seine Greencard bekommt, will er in ein freundlicheres Land. Dazu brauchte er aber den US-amerikanischen Pass. Seiner war nämlich nichts wert. Was das denn für ein Pass sei, wollte ich wissen. Ich hatte inzwischen einen Verdacht, der sich prompt bestätigte: Der junge Mann war aus Afghanistan. Als ich ihn fragte, ob er Pashtun sprach, zeigte er sich erschüttert. Er hatte scheinbar noch nicht erlebt, dass jemand wusste, dass es Volk und Sprache der Pashtunen überhaupt gab. Seine Muttersprache war allerdings Dari. Wobei er auch Urdu, Pashtun und Farsi beherrschte. Nach Afghanistan zurück wollte er nie mehr.
Unter dem Eindruck all dieser verschiedenen Gespräche und dem fortgesetzten Konsum heimischer Medien traue ich mir inzwischen folgenden Schluss zu ziehen: Der größte Unterschied zwischen den USA und dem deutschsprachigen Europa in der Politik ist, dass alles, was zum Beispiel in Österreich von vielen bereits als rechts oder konservativ angesehen wird, in den USA eindeutig und zweifelsfrei links ist. Umgekehrt haben in Österreich viele, die sich links oder mittig verorten, Gedankengut verinnerlicht, das sie auch ohne Bedenken äußern und als normal empfinden, das in den USA eindeutig und zweifelsfrei als rechts erkannt wird.
Kurz zusammengefasst: Wer Ohren hat zum Hören, der kann auf Uber-Fahrten sehr viel lernen. Nämlich Demut und Dankbarkeit.


Fortsetzung folgt…

Samstag, 3. Februar 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 25)

Teil 25: Und täglich grüßt das Murmeltier


Barbar im Pelz!
Murmeltier Phil hat prophezeit, dass der Winter in Neuengland sechs weitere Wochen dauern wird. Zu Mariä Lichtmess (2.Februar) wurde er standesgemäß aus seinem Winterschlaf geweckt. Von bärtigen Herren in Frack und Zylinder. Phil entstammt einer langen und ehrwürdigen Linie pausbäckiger Phils. Der wievielte seines Namens Phil ist, weiß ich nicht. Ihre prophetische Gabe wird seit Generationen geschätzt und gewürdigt. Ihre menschlichen Bewunderer und Ernährer darum als Philister zu bezeichnen, halte ich für ungerecht. Nicht immer hatten die Phils Recht mit ihrer Vorhersage, aber wie ein chinesisches Sprichwort besagt, ist Tradition die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche. Also wer schert sich um ihre Trefferquote? Wo doch die Kunst der Verneinung und die Kraft des Glaubens dieser Tage wieder hoch angesehen sind. „Postfaktisch“ nennt das der Gebildete, „den Kopf in den Sand stecken“ der Volkstümliche.
In den ehrwürdigen Hallen der Universität Yale wurde mit Semesterbeginn der Frühling ausgerufen. Und mit der Ausgabe dieses Mottos zeigten sich sofort die ersten Frühlingsfarben. Es sind nicht die Krokusse, Himmelschlüssel und Veilchen, die ihre bunten Blütenblätter aus den Grünanlagen strecken. Es sind blau, rot und purpurn gefrorene Knie, Waden, Knöchel und Ellenbogen. Die Außenthermometer zeigen Wintertemperaturen und Minusgrade weit unter null (Celsius), aber die Herzen und die Mode verlangen nach nackten Beinen und Armen. Das Tragen von Strumpfhosen ist als altbacken verschrien, das Anziehen von Strümpfen als irgendwie unmoralisch. Erwachsene Frauen staksen in Sommerpomps und in nackten Waden durch den Schnee. Wurde ihnen jedes Kälteempfinden aberzogen? Das Verweigern der Realität auf den Thermometerskalen führt bei Studenten beiderlei Geschlechts zu Weglassen der Socken, dem Verweigern des Tragens von Winterschuhen, sogar von Winterjacken. Samstagabends herrscht eine romantische und melodische Stimmung auf den Wegen zwischen den Collegegebäuden. Das Sirren in der Luft erinnert mich an Straßenszenen in Sevilla oder in Madrid im Goldenen Zeitalter Spaniens. Kastagnetten-Klang und rhythmische Tamburin-Schläge liegen in der Luft. Es sind die Zähne und Knie der Studentinnen und Studenten. Die blutleeren Arme eng um den eigenen Leib geschlungen huschen sie von einem geheizten Gebäude zum nächsten. Bestaunt von dick angezogenen Leuten wie mir. Nachdem die Schlotternden die gesellschaftliche Elite darstellen, müssen sie über eine Wahrnehmung der Wirklichkeit verfügen, die über meine begrenzten Möglichkeiten hinausgehen.
Sobald ich in Großvaters Innenpelzmantel an der Haltestelle auf den Bus warte, strafen mich mehr und weniger jugendliche Bleichgefrorene in Leggings, Kunststoff-Blousons und Turnschuhen mit Blicken. Nicht weil sie neidisch sind, sondern moralisch überlegen. Bis jetzt hat sich noch niemand getraut, mich direkt auf meinen Mantel anzusprechen. Vollbart und geflochtener Zopf schrecken ab. Machen mich vollends zum Barbaren. Wie dem auch sei! Ich warte darauf, dass endlich eine oder einer den Mut aufbringt, mich wegen meines Wintermantels aus echt Leder und Fell zu maßregeln. Ich würde ihnen so gern erklären, dass mein Großvater diesen Mantel vor rund sechzig Jahren ehrlich erworben hat. Von einem österreichischen Meisterbetrieb, wo ihn ein Erwachsener mit Sozial- und Krankenversicherung, nach Kollektivvertrag bezahlt und in geregelten Arbeitszeiten aus Naturprodukten vom Schaf hergestellt hat. Arbeitsrechtlichen Errungenschaften, von denen bloß zu träumen in den USA als Kommunismus gilt. Und von wegen Nachhaltigkeit: Mein Schafsmantel wird noch tragbar sein, wenn ich längst das Zeitliche gesegnet haben werde und alle Weichmacher aus allen in Kinderarbeit in Billiglohnländern hergestellten Erdöljacken gesickert sind. Und falls ihn mal jemand wegwirft, wird er bis auf die Hornknöpfe restlos vermodern. Vielleicht ist es aber auch der Stock? Einen Behinderten anzumachen, kommt nicht so gut in der urteilenden Öffentlichkeit. Und ich bin noch keiner Gesellschaft begegnet, in der der bloße Anschein so sehr das reflektierte Sein auslöscht.
In der Literaturwissenschaft (virtuell und auf Papier) kursierten zum Semesterbeginn an vielen Unis Petitionen. Zu viele Titel weißer toter Männer stünden in den Pflichtliteraturlisten der Lehrveranstaltungen. Um die Empörung zu beruhigen, wurden in der Folge ein paar davon gestrichen. Dafür werden zwei drei AutorInnen z.B. aus Westafrika gelesen. Alles gut! Dass alle „niederen“ Arbeiten und „Dienstbotentätigkeiten“ auf dem Campus von AfromerikanerInnen, Spanischsprechenden oder sonstigen Immigranten erledigt werden, ist dagegen so alltäglich und allgegenwärtig, dass diese „gottgewollte“ und dollargegebene Ordnung keine Sekunde hinterfragt wird. Wir fahren alle mit einem Uber von A nach B. Wohlwissend, dass die Lenker keinerlei soziale Absicherung haben (oder anders als die Taxilenker keine Berufseignungsprüfung oder Lizenz brauchen). Über das ungute Gefühl wegen der sozialen Ungerechtigkeit soll man sich mit einem hohen Trinkgeld helfen. So viel Trinkgeld kann niemand geben, um im Ernstfall eine Krankenversicherung zu ersetzen. Aber egal! Wenn nur alle fleißig arbeiten, ist jeder seines Glückes Schmied. Wie man sich bettet, so liegt man. Fällt auf der Veranda des Nachbarhauses die Schneeschaufel um, bleibt sie so liegen, bis Jose oder DeAndre kommen und damit den frischgefallenen Schnee schippen. Auch wenn das erst im nächsten Winter ist.
Mit Mariä Lichtmess war auch Weihnachten endgültig vorbei. Juliane und ich haben unseren Christbaum entsorgt und zum Abschluss ein Konzert von Weihnachtsmusik für den Dresdner Kurfürstenhof von Heinrich Schütz besucht. Wobei „entsorgt“ ein wenig übertrieben ist. Von der Wiener MA 48 zu Mülltrennung und zur Christbaumsammelstelle erzogen versuchte ich herauszubekommen, wo wir unseren abgeschmückten Baum hinbringen sollten. Obwohl Juliane und ich uns beide bemühten, wir fanden auf unsere Frage keine Antwort. Und die trockenen Nadeln rieselten derweil auf den Parkett. Wir überlegten, beim Botanischen Garten zu fragen, ob wir unsere brave Tanne bei ihnen auf dem Kompost zur letzten Ruhe betten dürften. Jede einzelne Strähne Engelshaar hatten wir natürlich abgezupft. Dann fragte Juliane bei ihren Gastgebern am Institut nach, was in New Haven mit einem Christbaum a.D. anzustellen sei. Die Frage löste Erstaunen aus. Die Antwort war so einfach, so erschütternd und so US-amerikanisch: Nimm das Ding und lege es am Tag der Müllabfuhr zu den Mülltonnen neben die Straße! Die seligen Jose und DeAndre in ihrer Emanation als Müllmänner nehmen die Baumleiche mit.
Es sind solche Beobachtungen, die mir den Aufenthalt in den USA verleiden könnten, gäbe es nicht ebenso viele angenehme Erlebnisse und Zeitgenossen.
Indes überlege ich mir, den Genuss der heimischen Nachrichten via Internet einzustellen. Die Schlagzeilen und Berichterstattungen gefährden meine Gemütsruhe. Ebenso die Interpretation derselben in den so genannten Sozialen Netzwerken.
Kaum ist Weihnachten auch im offiziellen Kirchenfestkalender zu Ende, werde ich von Zeitungen und Radiojournalen an das Osterfest erinnert. Die österreichische Innenpolitik erinnert mich an Ostereier. Das An- und Einfärben staatlicher Einrichtungen scheint niemanden zu stören. Das Umfärben löst eine Reaktion aus. Vor allem und scheinbar nur, wenn die gewählte Farbe nicht gefällt. In den Wänden von Ministerien werden von Experten technische Einrichtungen geborgen, die je nach politischer Gesinnung entweder ein Lautsprecher oder eine Abhöranlage sind. Die technischen Expertisen der zuständigen Stellen werden in der Beurteilung nicht berücksichtigt. Besser ist es, sich in vorgefassten Mustern zu empören, als mit Fakten und Widersprüchen die Einigkeit zu stören. Wirklichkeit muss nicht bewiesen werden, sie beruft sich auf wiederholtes Zitat und Autorität. Ein solcher Wahrheitsbegriff hat einen Namen: Scholastik. Und er stammt aus dem von heutigen Möchtegern-Aufklärern so verpönten Mittelalter. Über die Argumente und Streitkultur unserer Tage hätte Thomas von Aquin herzlich gelacht. Danach wäre er in Tränen ausgebrochen.
Wer gegen Monstren kämpft, wird selbst zum Monster. So in etwa sagte Friedrich Nietzsche (mit sächsischem Akzent). Man bezichtigt ohne Zaudern oder Zögern das norwegische Nationalteam des Nationalsozialismus, weil sie in Runen „kämpfende Elche“ in ihre Pullover gestrickt tragen. Das ist ihr offizieller Spitzname! Und die altnordischen Runen ihr kulturelles Erbe! Dafür, dass sich ein paar mutmaßliche Nachkommen von Wald- und Wiesengermanen diese Schrift unrechtmäßig angeeignet haben, um auch ein bisschen Wikinger zu sein, dafür können diese Sportlerinnen und Athleten nichts. Eine ZDF-Moderatorin belehrt britische Kostümhersteller, dass es „verstörend“ sei, wenn sich Kinder im Fasching als „Evakuierte“ verkleiden. Das sind keine „Flüchtlinge“, es sind jene, die vor den Bombardements der reichsdeutschen Luftwaffe aus den englischen Städten evakuiert wurden. Es sind jene, die mit ihrem Durchhaltevermögen und ihrer Aufopferung den Sieg der Alliierten über das Dritte Reich ermöglicht haben. Kurz gesagt: In dem Kostüm geht man als Heldin und Held. Jedenfalls auf ein englisches Faschingsfest. Auch das ist kulturelle Vielfalt. Last but not least wird in einer Galerie in Manchester ein Gemälde des Malers John William Waterhouse abgehängt, weil sein Inhalt sexistisch sei. Es zeigt Nymphen, die einen Hirten verführen. Es ist die femme fatale, die emanzipierte und gefährliche weibliche Sexualität, die abgehängt wird. Nicht die Vergewaltigte, nicht die Entführte, nicht die gegen ihren Willen Verhüllte, nicht das Muttchen am Herd!
Ich kann ehrlich gesagt bald nicht mehr länger zusehen, wie der politisch Andersdenkende in der immer aggressiver werdenden Rhetorik mehr und mehr entmenschlicht wird. In der Geschichte der Zivilisationen war und ist dies der erste Schritt zur Menschenjagd.


Fortsetzung folgt…