Teil 26: Von Fahrer zu Fahrgast
Wir fahren mit Uber. In einer
US-amerikanischen Kleinstadt wie New Haven mit 130.000 Einwohnern eine halbe
Stunde auf ein Taxi zu warten, ist keine Alternative. Die Yale-Shuttles fahren
auch nicht immer und überall. Mit Uber ist in drei bis vier Minuten der
Transport geregelt. Via App. Ich mache hier sicher keine Werbung für das
Unternehmen. Vergessen wir aber einmal die sozioökonomischen Aspekte.
Konzentrieren wir uns auf die sozialen, d.h. die zwischenmenschlichen. Gespräche
mit Taxilenkern sind schon spannend. Und das weltweit. In den Uber-Fahrern
trafen wir in den USA die interessantesten Gesprächspartner. Aus aller Welt.
Spannenderweise saßen bisher nur zwei Frauen am Steuer. Beide junge und patente
Afroamerikanerinnen. Weder die eine noch die andere hatte Angst, Fahrgäste in
der Nacht durch New Haven zu steuern. Wie gesagt, eine Kleinstadt. Mit Uni. Einem
goldenen Käfig von der Armut umringt wie das kleine gallische Dorf von
Römerlagern. Die betrunkenen College-Studenten, die Nachtens von einer Bar zur
anderen oder heim ins Bettchen gefahren werden wollen, die wären zwar laut und
nervig, aber harmlos. Eine Beobachtung, der ich mich anschließe. Außerdem sind
die im Vergleich zu den Vollzeitstudenten wenigen partylaunigen Youngsters im
Moment halb erfroren. In kurzen Hosen und T-Shirts steif wie die Leguane in
Florida. Der nächste Frühling und Sommer kommen indes bestimmt. Durst ist
schlimmer als Heimweh. Und einige Fahrten führen aus der Gated Community
hinaus. Ich bin mir darum sicher, dass die freundlichen jungen Uber-Fahrerinnen
etwas Verbindliches zu ihrem Schutz im Handschuhfach mitführen. Generell
empfiehlt es sich, sein europäisches Autofahrergemüt und seinen so leicht im
Verkehr gekränkten Stolz zu zügeln. Also nicht mit rotem Kopf Beschimpfungen zu
brüllen und/oder seinen Mitmenschen Vögelchen und Fingerchen zu zeigen. Die
Chance ist groß, dafür geschwind in den Lauf einer Shotgun oder ähnlichem
Geschütz zu schielen. Mitgeführt von einem selbstständigen Unternehmer windigen
Gewerbes, eines wehrhaften Republikaners oder gar gleich eines schlecht
gelaunten Officers. Letztes wäre übrigens der Jackpot. Von einer Nacht in der
Zelle träumt doch jeder. Wer eine Reise tut, der will auch was erzählen.
Die USA waren und sind ein
Einwanderungsland. Seit die ersten Jäger und Sammler via Eisschollen und über
die Beringstraße hierher wanderten. Die einzige aus dem Kontinent geborene humanoide
Lebensform haben die Migranten aufgefressen, das Riesenfaultier. Auch die einheimischen
Pferde, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Menschen aus aller Herren
Länder kamen und kommen hierher. Die komplette Farbpalette der gegenwärtigen
Welle fährt für Uber. Zusammen mit rüstigen Rentnern und Zweit- oder
Drittjobholdern. Die Gespräche, die sich daraus ergeben sind spannend, informativ
und gelegentlich verstörend. Ein erster Eindruck in aller Kürze und gemäß allen
Klischees (Wie schon oft gesagt und geschrieben, die müssen ja irgendwoher
kommen):
Der rüstige weiße
US-amerikanische Rentner fährt Hybrid oder eine deutsche Limousine. Als Gründe
für seine Tätigkeit gibt er Langeweile an. Der Erhalt des Lebensstandards bei drastisch
reduziertem Jahreseinkommen und/oder die Schieflage des Haussegens kommen dann später
erst zur Sprache. Nachdem man sich gegenseitig ein wenig beschnuppert hat, und Juliane
und ich als Renegaten der First Church of Income erkannt wurden. Keiner der
gutsituierten Herren möchte in seiner Wohngegend als armer Schlucker verkannt
sein und aus der Limousine in einen Kleinwagen umsteigen. Da fährt er das kostenintensive
Ding lieber für Uber in Grund und Boden und seine Gesundheit in Nachtschichten
und beim Kofferstemmen an die Wand. Bitte, it´s
the land of the free. Ähnliche Motivationen verraten afroamerikanische und
spanischsprechende Familienväter. Sie sind wie die weißen Pensionisten gut
gekleidet, sind gebildet, aber auf dem Armaturenbrett leuchtete in den meisten
Fällen die Motorkontrollleuchte. Das nächste Service stand an, jedoch nicht auf
dem Finanzplan. In der Kostenabrechnung hatten andere Posten Priorität. Ausbildung
und Gesundheit der Kinder zum Beispiel. Beim einzigen Nebenerwerbsstudent, der
uns zu später Stunde nachhause fuhr, leuchtete die Kontrolllampe im fabrikneuen
SUV nicht. Er gab aber ohne Abschweife zu, dass sein Jeep weder fabrikneu wäre
noch Reifen hätte, würde er nach seinen Vorlesungen und Lerneinheiten keine
Fahrgäste durch New Haven fahren.
Der größte Anteil der Uber-Fahrer
rekrutiert sich aber wie gesagt aus Einwanderern. Aus Südamerika und aus
muslimischen Herkunftsländern. Unser eigener Akzent funktioniert als Eisbrecher
hervorragend. In den allermeisten Fällen ergibt sich daraus sofort ein
Gespräch. Frei nach dem Motto: Wo kommt ihr denn her? Ich bin aus XY… Von
Österreich und Deutschland hatten bisher alle wenigstens schon einmal gehört.
Juliane ist allerdings schon ein wenig davon gekränkt, dass ihre Antwort mit
einem zustimmenden Grunzen quittiert wird, und nach meiner die
Begeisterungskurve schlagartig steigt.
Gleich zum Jahreswechsel
begegneten wir so einem recht verhaltensoriginellen jungen Mann aus Pakistan. Juliane
war gleich aufgefallen, dass seine Kundenbewertung mit nur einem Stern im
Vergleich zu allen anderen unter jeder Sau war. Zu Neujahr war die Auswahl
nicht groß, der Heimdrang dagegen schon. Also mit bester Absicht und im guten
Glauben eingestiegen. Keineswegs ungewöhnlich wollte er wissen, woher wir beide
kamen, was wir so machten und wie viele Sprachen wir sprächen. Bei Juliane sind
es halt doch ein paar mehr, und auch ich habe die eine oder andere lernen
dürfen. Er war spürbar enttäuscht von unseren Antworten und relativierte unsere
Sprachenkenntnisse im nächsten Atemzug als „international“. Und ich dachte
immer, das sei der eigentliche Zweck, um Fremdsprachen zu lernen, sich
international austauschen und verstehen zu lernen. Nein, jener wollte uns aufs
Auge drücken, dass er acht Sprachen erlernt hatte. Das nötigte mir wiederum
ehrliche Bewunderung ab. Seine Enttäuschung wurde jetzt noch größer. Weil ich
keinerlei Geringschätzung für „indigene“ Sprachen erkennen ließ, und seine acht
Sprachen alles Regionalsprachen des indischen Subkontinents waren. Weshalb
auch. Vielsprachigkeit gehört in multiethnischen oder nomadischen
Gesellschaften zum Alltag. Ich schloss, dass er einiges an eurozentrischer bzw.
amerikazentrischer Verachtung für seine Herkunft zu spüren bekommen hatte und
darum die mit Yale verbundenen Wissenschaftler und Studenten gerne mit der
bloßen Anzahl beschämen wollte. Wobei Yale ein schlechter Ort für diese
Strategie ist. Er war halt dann doch nicht die hellste Kerze auf dem
Weihnachtsbaum. Als mich zu Beschämen weder auf die eine noch die andere Weise
klappte, änderte er seine Taktik. Ab hier griff er meine Frau an. Nun wollte er
mir weismachen, dass mein Glauben in seinen Augen eben doch nicht so gut war
wie ich dachte. Als ich ihm dann in rumpelnden Arabisch meine Kenntnisse seiner
Religion vortrug, war der Spaß endgültig vorbei. Meine Frau sei zwar die
Professorin, aber ich der klügere und so fort. Bevor das ganze eskalieren
konnte, war die Fahrt zu Ende. Mit einem freundlichen Basmala schickte ich ihn seiner Wege. Auf hoffentlich
Nimmerwiedersehen.
Auf der höchst angenehmen Fahrt
ins Kino zu einem leider enttäuschenden Filmerlebnis baumelte der arabische
Namenszug Gottes am Innenspiegel. Das konnte ich nicht unkommentiert lassen. Zu
groß war meine Neugier. Und mit diesem Mann unterhielt ich mich prächtig vom
Einsteigen bis zum Aussteigen. Über Gott und die Welt, Winterreifen und die unergründlichen
Geheimnisse der US-amerikanischen Schneeräumung.
Gerne bin ich mit
spanischsprechenden Fahrern unterwegs. Die hören die beste Musik. Und die Augen
wider den bösen Blick und die Kalligraphie sind in ihren Cockpits durch
Rosenkränze und Madonnen ersetzt. Religion ist bei diesen Menschen kein Thema. Man
hat die richtige, oder keine. Hemd wie Hose.
Noch lange in Erinnerung bleiben
wird mir ein eher unheimlicher Argentinier. Zum einen weil er mich bzw. uns zu
einem unterm Strich unerquicklichen aber bitter notwendigen Arzttermin gefahren
hat, zum anderen weil auch er ein missionarisches Mitteilungsbedürfnis an den
Tag legte, das mir mit der Zeit unangenehm wurde. Aber man kann seinem Fahrer schlecht
den Mund verbieten, auf halbem Weg und mit Kinderstube. Zuerst berichtete er in
gebrochenem Englisch und recht kurzweilig über seine Nachtschichten. Die er
fahren musste, weil ein Familienbesuch bei den Großeltern in Argentinien zwei
seiner Jahresgehälter verschlingt. Sein Redeschwall war zwar verstörend, aber
in allem nachvollziehbar. Bis er sich in Rage redete. Er zeigte uns beim
Vorbeifahren ein College, von dem er regelmäßig schmusende Mädchen abholte. Das
Skandalöse daran, die Mädchen küssten und umarmten andere Mädchen. Es waren schwule
Mädchen. Guten Morgen, für diese offene Politik ist Yale in den USA bekannt.
Hier, anders als in Europa, gilt Yale als die Hippie-Uni unter den Ivy-League
Colleges. Wie dem auch sei. Das nächtliche Schmusen der liebestollen höheren
Töchter hatte irgendein Ventil gelöst. Im nächsten Atemzug beschwerte er sich
über das Bruststillen. Amerikaner, ärgerte er sich, tolerierten Homosexuelle
auf offener Straße, aber mit dem Stillen hatten sie ein Problem. Ich spitzte
die Ohren. Er kritisierte das Richtige aber im Vergleich zum Falschen und meiner
Meinung nach aus den falschen Motiven. Beim Anblick einer stillenden Mutter
bricht wirklich buchstäblich Panik aus, jede Form von Gewalt darf jedoch verherrlicht
und gezeigt werden. Das wäre mein Problem mit der Sache. Juliane und ich sind
uns darin einig, wir hatten aber anderes im Kopf, meinen Arzttermin, und ließen
unsren Fahrer weiter schwadronieren. Die Sau war jetzt ohnedies schon heraus,
also randalierte sie munter im Weingarten des Herrn. Angesichts unseres
Fahrziels gerieten Arzttermine und Medikamentenverschreibungen zum Inhalt
seines Ärgers. Er berichtete wie lange er auf einen Termin beim Doktor zu
warten habe, und dass seine schwangere Ehefrau keine Schmerzmittel bekam. Wegen
ihrer ständigen Beschwerden wollte er sie am Liebsten umbringen. Das trug er
völlig frei von Ironie vor. Zu seinen Gunsten interpretierte ich sein Gesagtes
als missglückten Scherz bzw. als Sprach- und Übersetzungsproblem. Schon hörte
ich die Veränderung im Atemrhythmus meiner Gattin. Und einmal mehr rettete das
Erreichen unseres Ziels die Situation.
Bei einer anderen Fahrt freute
sich dagegen ein netter Bursche aus der Republik Kongo wie toll er das
US-amerikanische Gesundheitssystem fand. Im Vergleich zu dem in seinem
Herkunftsland. Juliane und ich hörten seine Worte und trauten unseren Ohren nicht.
Er bemerkte unsere Verwirrung und führte weiter aus: In den USA musste er
hunderte und tausende Dollar bezahlen während oder nachdem er einen Doktor
gesprochen hatte. In Afrika hatte er dieselben Summen aufbringen müssen, um
überhaupt einen Arzt treffen zu dürfen. Der war dann manchmal gar keiner,
sondern nur irgendein Typ in einem weißen Kittel. Für ihn waren die USA und ihr
Gesundheitssystem eine echte Bereicherung und Verbesserung. Natürlich hätten
wir ihm jetzt widersprechen können, die Vorzüge des Sozialsystems in
Zentraleuropa preisen und ihm die USA madig reden können, aber damit wäre weder
ihm noch uns in irgendeiner Weise geholfen worden. Warum sollten wir einem
ehrlich Glücklichen die Freude vermiesen?
Juliane und ich empfinden vieles
am US-amerikanischen Gesundheitssystem als Spießrutenlauf. Vor allem das
ständige Gezerre wegen der Versicherung. Dabei sei klar gesagt, dass weder unser
Versicherungsträger noch die Ärzte und Spitäler das Problem bilden. Die
Doktoren leiten ihre Verschreibungen direkt an die zuständige Apotheke weiter.
Es gibt keine Rezepte. Bis das Medikament aber endlich in meinen Händen, oder
besser gesagt in meinem Mund landet, haben noch einige Würstchen ihren Senf
abzugeben. Und das dauert. Jede medizinische Hilfe und Versorgung erfolgt unter
Finanzierungsvorbehalt. Zum Davonrennen. Darüber könnte man sehr leicht
vergessen, wie viele Schrecken, Mühen und Gefahren Menschen auf sich nehmen, um
in die USA zu gelangen.
Die Diskussion über die so
genannten Dreamers ist in aller
Munde. Wir haben schon einige Demonstrationen und Kundgebungen zu ihren Gunsten
gesehen. Und ich glaube, in einem jungen Mann mit leichtem spanischem Akzent
haben wir neulich auch einen von ihnen getroffen. Auf der Fahrt unter dem riesigen
Blutmond über Fair Haven erzählte er uns von seinem Vater, der die lange Reise
von Ecuador in die USA zu Fuß unternommen hatte. Von seinem Marsch von Mexiko durch
die Wüste nach Texas. Unter sengender Sonne, ohne Wasser und Proviant.
Last but not least trafen wir im
Uber einen jungen Mann, der uns recht schnell und schnörkellos gestand, die USA
nicht zu mögen. Die Menschen wären unfreundlich und abweisend zu ihm. Das widersprach
meinen eigenen Erfahrungen, und ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren,
dass die Ablehnung mit seinem Herkunftsland zu tun hatte. Mein erster Eindruck
von ihm war ein positiver, sein Umgang freundlich und offen. Wie üblich fragte
er uns nach unserem Akzent. Und siehe da, sein Bruder lebte in Wien, und ein
Cousin in Deutschland. Die Österreicher wären sehr nett, die Deutschen weniger.
Diese Darstellung verblüffte mich ein wenig. Die österreichische
Gastfreundschaft wird zurzeit nicht gerade gepriesen. Jedenfalls nicht in den
Sozialen Netzwerken. Für den jungen Mann stand sie außer Zweifel. Die besten
Pässe, sagte er, wären ein österreichischer, ein schwedischer oder ein
deutscher. Seinem Bruder wurde bedingungslos geholfen, seinem Cousin
widerwilliger aber doch. Er musste rund um die Uhr arbeiten, um ein Auskommen
zu finden. Und Connecticut ist sehr teuer. Sobald er seine Greencard bekommt,
will er in ein freundlicheres Land. Dazu brauchte er aber den
US-amerikanischen Pass. Seiner war nämlich nichts wert. Was das denn für ein
Pass sei, wollte ich wissen. Ich hatte inzwischen einen Verdacht, der sich prompt
bestätigte: Der junge Mann war aus Afghanistan. Als ich ihn fragte, ob er
Pashtun sprach, zeigte er sich erschüttert. Er hatte scheinbar noch nicht
erlebt, dass jemand wusste, dass es Volk und Sprache der Pashtunen überhaupt
gab. Seine Muttersprache war allerdings Dari. Wobei er auch Urdu, Pashtun und
Farsi beherrschte. Nach Afghanistan zurück wollte er nie mehr.
Unter dem Eindruck all dieser
verschiedenen Gespräche und dem fortgesetzten Konsum heimischer Medien traue
ich mir inzwischen folgenden Schluss zu ziehen: Der größte Unterschied zwischen
den USA und dem deutschsprachigen Europa in der Politik ist, dass alles, was
zum Beispiel in Österreich von vielen bereits als rechts oder konservativ
angesehen wird, in den USA eindeutig und zweifelsfrei links ist. Umgekehrt
haben in Österreich viele, die sich links oder mittig verorten, Gedankengut
verinnerlicht, das sie auch ohne Bedenken äußern und als normal empfinden, das
in den USA eindeutig und zweifelsfrei als rechts erkannt wird.
Kurz zusammengefasst: Wer Ohren
hat zum Hören, der kann auf Uber-Fahrten sehr viel lernen. Nämlich Demut und
Dankbarkeit.
Fortsetzung folgt…