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Freitag, 26. April 2019

Ein Ösi in Connecticut (Teil 44)


Teil 44: Fazit


Den meisten, die wie ich im sogenannten Westen (Wien liegt östlicher als Prag, Leipzig und Dresden) des Nachkriegseuropas gegen Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion geboren worden und aufgewachsen sind, wurden die Vereinigten Staaten als die Neue Welt der Verheißung vermittelt. Als Schlaraffenland, wo der Tellerwäscher zum Millionär werden konnte. John Wayne hatte im Strahlenkranz der Hollywoodstudioscheinwerfer eigenhändig den Wilden Westen erobert und ganz alleine den Zweiten Weltkrieg gewonnen. An beiden Ozeanen. Spiel- und Dokumentarfilme sowie TV-serien vermittelten Gläubigen zu allen Seiten des Atlantiks die Frohbotschaft der First Church of Income. Und das Licht der Freiheit, in dem sich die US-Amerikaner am liebsten selbst sahen und gesehen werden wollten. Bis heute. Der Eiserne Vorhang stellte in dieser Stimmungslage bekanntermaßen die Wetterscheide dar. Aber weder real existierender Sozialismus noch Reaganomics schufen das Paradies auf Erden. Das USA-Bild meiner Kindheit und Teenagerjahre, geprägt vom Kalten Krieg, Kapitalismus und Unterhaltungsindustrie, wurde für mich in den vergangenen zwei Jahren nicht bloß angeknackst, es ging völlig zu Bruch, nachdem es im Alltag alle Glaubwürdigkeit eingebüßt und aus dem Rahmen gefallen war. Besonders das historische und politische Motto der USA „E pluribus unum!“ hing in Fransen. Da es in meinen Augen weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart der Vereinigten Staaten jemals so etwas wie Einschließlichkeit und Toleranz gegeben hat. Zu tief waren seit jeher die politischen und sozialen Grabenbrüche. Zu ausgeprägt erwies sich der Alltagsrassismus. Die heutigen USA unter Präsident Donald Trump präsentierten sich mir mitnichten als Paradies, aber als Fegefeuer. Für viel zu viele wurden sie zur Hölle auf Erden, wenige konnten unter besonders günstigen Umständen ihre Seligkeit erlangen, die Mehrheit büßte hier ihre Sünden ab.
Viele Klischees über die USA und ihre Bewohner hielten der Überprüfung durch das Zusammenleben nicht stand. Zuallererst, die so genannten „Amerikaner“, „Amis“ oder wie auch immer jemand die vielfältigen Bürgerinnen und Bewohner der US-Staaten zusammenfassen möchte, waren kein Stück dümmer oder ungebildeter als alle anderen Durchschnittsbevölkerungen der restlichen Welt. Vieles, was mir während meines Auslandsaufenthalts von österreichischen Medien als unlösbare innenpolitische Debatten daheim dargestellt worden waren, bedeutete in den USA überhaupt kein Problem: Berittene Polizei, Rechtsabbiegen bei Rot und elektronische Abbiegeassistenten in Fahrzeugen. Um hier nur drei Paradebeispiele zu nennen. Wahr ist hingegen, dass im Vergleich zu Europa sehr viel weniger Menschen Zugang zu Bildung, Wohlstand und Medizin haben.
Die US-amerikanische Gesellschaft präsentierte sich mir keineswegs als frei und sozial durchlässig. Im Gegenteil, ich erlebte eine feudale oder oligarchische Gesellschaft, in der Geburt und „Rasse“ und keineswegs Begabung und Leistung die Klassen- bzw. Milieuzugehörigkeit bestimmte. Und zwar unwiderruflich und auf Lebenszeit. „Entitlement“/ „Anspruch“ war daher in etlichen Gesprächen und Diskussionen über gesellschaftliche Probleme ein Thema. Insbesondere, wenn das durch Elternhaus, Lehrerinnen und Ausbilder anerzogene Selbstverständnis der Yale-Studierenden in ganz normalen Alltagssituationen auf die Wirklichkeit traf, z.B. beim Überqueren einer Straße als Fußgänger. Nein, Autofahrer bremsten nicht sofort, sobald eine oder einer von ihnen den Fuß auf die Fahrbahn setzte. Doch wie einige selbst zugaben, bis zu ihrem Studienabschluss hatte noch niemand jemals „Nein“ zu ihnen gesagt.
Um eine faszinierende Facette reicher ist die Diskussion um das „Entitlement“ durch die Verurteilung der Hochstaplerin Anna Sorokin in New York. Die in die USA emigrierte Deutschrussin wurde wegen Diebstahls schuldig gesprochen, das volle Strafmaß wird im Mai 2019 bekannt gegeben. Sorokin war es gelungen, sich mittels selbstbewusstem und entsprechendem Auftreten in die so genannten wohlhabenden Kreise New York Citys einzuschleusen. Die junge Frau aus einfachen Verhältnissen, Sorokin war die Tochter eines Lastwagenfahrers, gab sich erfolgreich als „reiche Erbin“ aus, ermöglichte sich ein Luxusleben auf Pump und bekam von Banken Unsummen an Krediten für ihre Geschäftsideen genehmigt. Wie es aussieht, alles Lüge. Sie hatte gelernt, mit den Wölfen zu heulen. Wen wundert es, dass sich der Streamingdienst Netflix und der Sender HBO bereits für eine Verfilmung ihrer Lebensgeschichte interessierten.
Diesen besonderen Anspruch, dieses Geburtsrecht, behauptete allerdings die gesamte Nation für sich. Bis heute und seit ihrer Gründung. So konnte der 45. US-Präsident Donald Trump in seiner 2019 State of the Union Address am 5. Februar vor dem 116. United States Congress, vor 46,8 Millionen Zusehern auf 12 der wichtigsten nationalen TV-Sender und vor weiteren rund 15 Millionen online unwidersprochen erklären: „Together, we represent the most extraordinary Nation in all of history.“ („Gemeinsam repräsentieren wir die außergewöhnlichste Nation der ganzen Geschichte.“)
Weltgeschichtlich war diese Aussage naturgemäß Quatsch. Objektiv betrachtet war sie sogar lächerlich. Irgendwo im Jenseits hörte man die Pharaonen Ägyptens, die Konsuln und Cäsaren Roms, die Moguln Indiens und die Söhne des Himmels Chinas zu der unfreiwilligen Pointe lachen.
„Sie“, die US-Amerikaner, waren allerdings so zahlreich, dass ihr Wort innerhalb der gegenwärtigen kapitalistischen Weltordnung ungleich mehr ins Gewicht fiel als die Äußerungen aller anderen Global Player. Und sogar bekennenden regierungskritischen und ausgewiesen liberalen Intellektuellen konnte ich ein unbewusstes Lächeln ins Gesicht zaubern, wenn ich darauf angesprochen hinwies, dass die österreichische Kleinstaaterei zwar in gehäuften Einzelfällen unappetitlich wurde, aber gegen die Schelmenstücke des US-Präsidenten unwichtig war. Da Donald Trump anders als Bundeskanzler Sebastian Kurz und die FPÖ welthistorische und globale Tragweite und Bedeutung besaß. Stolz hieß die Canaille! Auch wenn meine Gesprächspartner sich und anderen niemals eingestehen würden, dass sie patriotische Gefühle hegten. Und wer jetzt beim Lesen, dass österreichische Innenpolitik weltpolitisch unbedeutend war, eine kleine Ärger Wallung verspürt hat, dito.
Aufgrund der gewaltigen Ausdehnung ihrer Nation, eigentlich ein inzwischen als Nation begriffener Staatenbund, fiel es leicht, die USA mit der Welt an sich zu verwechseln. Des Frosches Horizont war bekanntlich immer und überall der Brunnenrand, und Uncle Sam´s Brunnenkranz war gewaltig. Im Osten und Westen jeweils ein Ozean, Atlantik und Pazifik. Die Menschen konnten zum Schifahren nach Colorado oder Vermont, zum Schwimmen nach Florida oder Kalifornien, an den Strand einer exotischen Inselwelt nach Hawaii, in die Karibik nach Puerto Rico, ins Ewige Eis nach Alaska, in die Wüste nach Nevada, zum Viehtrieb nach Texas und in das Reich ihrer Träume nach Disneyland oder Hollywood. Ein Flugzeug flog hier etliche Stunden in eine Himmelsrichtung, durchquerte mehrere Klima- und Zeitzonen und landete danach immer noch im Inland. Ein Mensch konnte sein Leben lang niemals sein Geburtsland verlassen haben und trotzdem zigtausende Kilometer bzw. Meilen gereist sein, um in unterschiedlichsten Gesellschaften gelebt zu haben. In einem politischen System, das eine einheitliche Währung und exklusive, nicht-metrische Maßeinheiten verwendete. Wie sollte ein Mensch unter einfachen oder mittelständischen Lebensumständen da zu der Einsicht kommen, dass es so, wie sie oder er es gewohnt ist, nicht auch auf dem ganzen Erdenrund zugeht? Nicht überall dasselbe gegessen, gedacht und gemacht wird? Es sei denn, sie oder er traten der US-Army bei und wurden im Ausland stationiert. Entgegen landläufiger Vorurteile waren es Veteranen, die überdurchschnittlich oft einen gemäßigten, weltoffenen und klimabewussten Blickwinkel vertraten. Aus alldem ergab sich ein Krähwinkel globalen Ausmaßes. Ein Planet Krähwinkel sozusagen.
Viele im globalen Dorf quäkten „Freiheit!“ und schlossen sich dem Selbstbild der USA an, weil sie aus den eingangs beschriebenen Kanälen nichts anderes kannten. Ohne zu begreifen, dass dieser Freiheitsbegriff auf den schlimmsten gemeinsamen Nenner gebracht nichts anderes bedeutete als Abbau des Sozialstaates, Zensur, Rassentrennung und Erboligarchie. Sie verwechselten quasi die Landkarte mit der Landschaft. Oder anders, sie hielten das idealisierte Selbstporträt für ein authentisches Foto.
Einem Großteil der restlichen Welt, mit und ohne Internetanschluss, waren die Ansichten der Vereinigten Staaten nach wie vor zwar völlig egal. Leider jedoch bekam der gesamte Planet die Auswirkungen ihrer Politik zu spüren.
Gerade noch so waren die USA die größte Volkswirtschaft auf der Erde. Da die US-amerikanische Bevölkerung mit rund 327 Millionen Einwohnern im Vergleich zu Europas Staaten riesig war, gab es logischerweise auch von jeder sozialen Gruppe mehr. Alleine New York City hatte genauso viele Einwohner wie die gesamte Republik Österreich oder das flächenzweitgrößte deutsche Bundesland Niedersachsen. Die Gesamtheit war in sich natürlich noch einmal mehrfach unterteilt, und wir alle wissen, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter wird. Nirgends habe ich bisher so viele hochgebildete und intelligente Frauen und Männer getroffen wie in den USA. Gleichzeitig habe ich noch nirgends so große Teile der Bevölkerung gesehen, die keinerlei Zugang zu Ausbildung, Krankenversorgung und Wohlstand hatten. Manche Stadtviertel und Industrieruinen erinnerten mich an Teile des ehemaligen Ostblocks kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, namentlich an jene Orte der ehemaligen CSSR, wo die Roma und Sinti gelebt hatten.
Infrastruktur und öffentlicher Raum verschiedener US-Bundesstaaten präsentierten sich uns vielerorts wie in so genannten Entwicklungsländern oder in „gescheiterten Staaten“. In Gemeinden der so genannten „Flyover states“ gab es sechs oder noch viel mehr Pfarrkirchen, aber kein Museum für Naturgeschichte. Und, OMG, das einzige Krankenhaus weit und breit war fest in römisch-katholischer Hand. Der Skandal und Inhalt der Empörung sollte meiner Meinung nach sein, dass außer religiösen und anderen karitativen Organisationen und Logen sich niemand für diese Menschen interessierte und sich um sie kümmerte. Und über diese fettleibigen, zahnlückigen und bibelfesten Hinterwäldler durfte dann auch noch herzhaft gelacht werden. Komisch, dass die dann Populisten wählten und einen Grant auf die liberalen Eliten in den feinen Städten entwickelten.
Angesichts solcher Zustände fragte ich mich oft, welche Länder Donald Trump eigentlich mit welcher Berechtigung im Vergleich zu seinen eigenen als „shithole country“ bezeichnete? Im eleganten Teil der Vereinigten Staaten, wo die reichsten Menschen der Welt hervorragend lebten, bekam er von alldem natürlich keinen Eindruck. Die Touristen in den Zentren der großen Städte New York City, Boston, Washington DC oder Los Angeles auch nicht.
Das alles zusammen ergab eine schiefe Optik. Jede Generalisierung war darum von vorneherein falsch. Auch, oder gerade, weil sich aus vermehrten Ereignissen und Haltungen gewisse Tendenzen und Muster ableiten ließen. Zum Ausgleich dieser Ungerechtigkeit wurden Stereotypen über den jeweils anderen zu beiden Seiten des Atlantiks gehegt und gepflegt. Die US-amerikanischen Vorurteile über Europäer sind keineswegs freundlicher. Nur hierzulande weniger bekannt. Und bekam man sie z.B. in Sitcoms zu Ohren, hielt sie jede und jeder wohlwollend für Satire und einen Scherz.
Die Transatlantische Freundschaft hatte als Überseekabel für den Datenaustausch zwischen dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland und den Vereinigten Staaten von Amerika begonnen, entwickelt und quer durch den kalten und finsteren Atlantik verlegt durch den deutschen Siemens-Konzern. Und wenn man ganz ehrlich ist, zu nichts anderem mehr oder Wärmeren hatte sich diese Verbundenheit seit 1874 weiterentwickelt. In den letzten Jahren war zudem eine deutliche Abkühlung des Gesprächsklimas zu spüren gewesen.
Für den so genannten durchschnittlichen US-Amerikaner war Europa der Kontinent der Weichlinge („sissy“), der schon sehr bald in einem moslemischen Kalifat enden wird. Oder alternativ dazu (allerdings ungleich weniger verbreitet), im Vierten Reich. Europäische Mädchen und Frauen waren für jeden Mann einfach zu haben. Und europäische Bildung und akademische Lehre wurde insgesamt als „Scheiße“ („crap“) angesehen. Was für jedermann zu gleichen Bedingungen zugänglich war, das musste Müll sein. Kurz gesagt: Die Alte Welt war dem Untergang geweiht. Gegenwart und Zukunft gehörten den USA. Und der Vergangenheit drückten sie im Nachhinein und nachhaltig ihren Stempel auf.
Alle diese Stereotypen vereinten sich in der für mich überhaupt nicht nachvollziehbaren Aufregung über die französische Fußball-Nationalmannschaft, als dieses Team 2018 in Russland den Weltmeistertitel gewann. Das Finale gegen Kroatien wurde von vielen, nicht nur von white supremacists, als Menetekel betrachtet. Skurriler Weise auch von einem kanadischen Einwanderer. Es war mir in mehreren Gesprächen nicht möglich gewesen, mein jeweiliges Gegenüber von der Tatsache zu überzeugen, dass farbige französische Nationalspieler durchaus Frankreich und nicht den Untergang des Abendlandes repräsentierten. Und das erlebte ich in einer Nation, deren Athleten in allen Sportarten jede mögliche ihrer Hautschattierungen zu Markte trugen.
Für viele deutschsprachige Menschen ist es bis dato unvorstellbar, dass noch weit mehr englischsprachigen beim Gedanken an eine politische und wirtschaftliche deutsche Hegemonie der Europäischen Union ein kalter Schauder den Rücken hinunterläuft. Für viele von ihnen sind die deutschsprachigen Überlebenden des Zweiten Weltkriegs nicht mehr und nicht weniger als die Nachkommen der Feinde von einst. Und für einige aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Familienmitglieder fielen oder wurden während des Holocaust ermordet. Der vielerorts geschätzte Schlussstrich und die historische Amnesie wurden jenseits des Atlantiks nicht mitgemacht. Sieger vergaßen ihre Triumphe nur höchst ungern. Ein deutscher Akzent war darum für eine große Anzahl von US-Amerikanern entweder ein rotes Tuch, oder Anlass zur Erheiterung. Natürlich niemals offen im beruflichen oder akademischen Umfeld. Dort nur privat und hinter vorgehaltener Hand.
Direkt erfahrbar wurden diese Vorbehalte für mich in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Warte- und Vorzimmer meiner Ärztinnen und Therapeuten oder unterwegs als Tourist. Der Bundesstaat Pennsylvania hatte seine deutschsprachige Vergangenheit beinahe völlig aus dem Alltagsleben entfernt oder zu randständiger touristischer Folklore gemacht. Zum Glück nur einige wenige Male wurden Juliane und ich offen ausgelacht, nachgeäfft oder sogar angepöbelt. Vielen war so ein Benehmen merklich unangenehm, da mehrheitlich großer Wert auf Höflichkeit und Respekt im Umgang gelegt wird. Die Umstehenden versuchten sofort, den Vorfall ungeschehen zu machen. Durch eisiges Ignorieren der Übeltäter und freundliches über das zuvor Gesagte Hinweg-Plaudern.
Indes, in etlichen US-amerikanischen Kino- und TV-Produktionen sprachen groteske Gestalten in der Originalfassung sehr oft mit deutschem Akzent („The Big Lebowski“, 1998). Der Effekt ging allerdings in den meisten deutschen Synchronisationen verloren, oder die verantwortlichen Studios ersetzten den charaktergebenden Akzent durch einen österreichischen Dialekt („A Bug´s Life“/ „Das große Krabbeln“, 1998 und „Zootopia“/ „Zoomania“, 2016; beide: Walt Disney Pictures). Bei anderen Figuren bzw. Antagonisten wie Mr. Freeze/ Victor Fries in dem DC-Comicfranchise Batman, wurde der deutschsprachige Hintergrund und Akzent des Charakters nachträglich gestrichen oder verschleiert. Arnold Schwarzenegger verkörperte 1997 den Bösewicht noch entsprechend auf der großen Leinwand („Batman & Robin“). Das ganze Phänomen zeigte sich zuletzt insgesamt rückläufig, wohl auch dem Umstand geschuldet, dass es sich im deutschsprachigen Raum nach wie vor um den zweitgrößten Absatzmarkt für die US-Unterhaltungsindustrie handelte.
Überhaupt haben das gesprochene und auch das gegebene Wort in den USA meiner Erfahrung nach einen völlig anderen Stellenwert als in Europa. Böse Zungen würden behaupten, keinerlei. Nichts anderes habe ich tatsächlich in jedem Reiseführer und Ratgeber über die Vereinigten Staaten gelesen, so dass ich glaube, dass es sich um eine allgemeine Erfahrung handelte. Am Service-Telefon bedeutete das Versprechen, demnächst zurückzurufen, ein bewährtes Abwimmeln unangenehmer Anrufer. Niemand wird sich je melden. Eine Einladung zum Abendessen oder zu einem Besuch ohne Terminvereinbarung war weder ein Versprechen, noch eine Absichtserklärung. Es handelte sich um eine Höflichkeitsfloskel. Groß war z.B. das Entsetzen, als eine junge Frau aus Osteuropa plötzlich wirklich bei jemandem mit ihren Koffern vor der Türe stand, um in den USA zu bleiben. Niemand hatte sie tatsächlich eingeladen oder ehrlich zum Einwandern ermutigt. Insgesamt festigte sich unser Eindruck, dass es entgegen US-amerikanischer Gewohnheit war, ein Anliegen abzulehnen, einer Bitte zu widersprechen und Unwillen oder gar Unvermögen offen anzusprechen. Eine Bitte wurde angenommen oder eine Zusage gegeben, selbst falls eine Umsetzung nicht möglich oder gewünscht war. Anders gesagt, alles Vorgebrachte wurde von vornherein bejaht. Entweder um sein Gesicht zu wahren, oder um gute Stimmung zu machen. Oder beides. Hakte jemand nach, konnte sich niemand mehr erinnern. Und mehrmals war es uns passiert, dass eine Verabredung erst am Treffpunkt und auf Nachfrage via Mobiltelefon abgesagt wurde, sogar bereits im Konzertsaal an den reservierten Plätzen.
Julianes und meine baldige Abreise provozierte großes Bedauern. Auch über den Umstand, mich nicht besser kennengelernt zu haben. In zwei Jahren war auch wirklich kaum Zeit dazu gewesen. Andere wieder äußerten tiefe Traurigkeit darüber, wie sehr sie uns vermissen werden. Was mich mehr als verwunderte, da ich kaum oder gar keinen Kontakt mit diesen Menschen hatte.
Polinnen und Polen haben angeblich bis vor kurzem noch zu bedeutungslosem Geschwätz, leeren Versprechen und Dampfplauderei „österreichisch geredet“ gesagt. Ich würde heute für eine Änderung der Wendung in „amerikanisch geredet“ plädieren.
Auch die Politik funktionierte mehr und mehr nach dem „sola figura“-Prinzip. Das Erscheinungsbild des Redners und der Unterhaltungsgrad seiner Worte ersetzten den Inhalt. Sympathiewerte bestimmten den Grad der Glaubwürdigkeit. Nach welchen Kriterien Sympathie, Glauben und Zuneigung verteilt wurden, war und ist mir allerdings schleierhaft. Flüchtlinge, Arme und Behinderte wurden als leistungsscheu und privilegiert angefeindet, wogegen Personen, die tagein und tagaus Fotos von sich beim Golfen, Schminken und Sonnenbaden am Pool posteten, zigtausende Follower in den Sozialen Medien um sich scharten. Und Kunstformen, die laut und deutlich Sexismus, Habgier und Gewalt verherrlichten, zum Mainstream verklärt wurden.
So gewann ich den Eindruck, dass weniger bedeutsam war, was jemand sagte, sondern wer etwas sagte. Größere Bedeutung als dem klar und vernehmlich ausgesprochenen Wort wurde Abstammung und Geschlecht der Autoren zugemessen. In der öffentlichen Diskussion stand eher im Vordergrund, ob z.B. ein weißer alter Mann oder eine junge farbige Frau ein Thema aus- bzw. angesprochen hatte. Wie vieles war auch das nicht so einfach wie es sich zunächst darstellte. Aber allzu leicht konnte auch dieses Problemfeld von den üblichen Verdächtigen vereinfacht und instrumentalisiert werden. Für die Republikaner waren die antisemitischen Aussagen der demokratischen Politikerin und Abgeordneten im Repräsentantenhaus Ilhan Abdullahi Omar (MN) ein willkommener Anlass. Besonders vor dem Hintergrund der eigenen Skandale, z.B. um den Senator Tommy Norment (VA) und das rassistische „black facing“.
Die ganze Sache gestaltete sich besonders schwierig, sobald es parteiintern unter Demokraten zu ganz ähnlichen Reibereien kam, sobald es um mögliche Präsidentschaftskandidaten für die Wahl 2020 gegen Donald Trump ging. Angesichts dieses „divide et impera“ kann der amtierende US-Präsident leicht auf die Kandidatur von Joe Biden antworten, dass dieser eine größere Gefahr für sich selbst als für ihn darstellt: „Welcome to the race Sleepy Joe. I only hope you have the intelligence, long in doubt, to wage a successful primary campaign. It will be nasty - you will be dealing with people who truly have some very sick & demented ideas. But if you make it, I will see you at the Starting Gate!” [5:22 AM - 25 Apr 2019, @realDonaldTrump]
Auf die Frage, was ich selbst am meisten von New Haven vermissen werde, musste ich wahrheitsgemäß antworten, dass es die Musik sein wird. Die zahlreichen Freundschaften und tiefgründigen Gespräche werden es nicht sein. Die wahrhaft geschlossenen Beziehungen konnte ich an einer Hand abzählen. Nichtsdestotrotz konnte ich auch diese Erfahrung machen. Ich habe durchaus auch Menschen getroffen, deren Ja ein Ja und deren Nein ein Nein gewesen war. Aber Hatty, meine Krankenschwester, versicherte mir, dass diese geringe Anzahl auch für ein ganzes Leben in Connecticut ein guter Schnitt wäre und nicht nur für zwei Jahre. Bis auf ein paar wenige, führte ich die längsten und offensten Gespräche mit Menschen, die dafür bezahlt wurden (entweder von mir oder meiner Krankenversicherung). Also, mit Ärzten und Therapeuten. Viele Menschen, denen ich in Yale und an anderen Unis begegnete, beschränkten sich darauf, abzuchecken, welche Rolle ich in ihrer Karriere einnehmen konnte, oder halt nicht. Und beim Versuch, nichts zu äußern, was nicht von der Mehrheit akzeptiert und geteilt wurde, oder was sie dachten, das ich nicht hören wollte bzw. sollte, sagten sie gar nichts von Belang. Oder wirklich nichts.
Bevor ein Gedanke in Gesellschaft geäußert wurde, der keine breite Akzeptanz versprach oder sonst von niemanden geteilt wurde und darum zum Bumerang werden konnte, wurde er verschwiegen. Das ließ so manche Europäerin die erwartete intellektuelle Neugier vermissen. Es hinterließ bei sozialem Kontakt sehr oft dasselbe Gefühl wie ein Familienessen, dessen Teilnehmer ein Leben lang nichts Persönliches von sich preisgegeben hatten und somit keiner irgendwem etwas zu sagen hatte. Im Leben der Anderen spielte keiner der Anwesenden eine Rolle. Die alten Anekdoten waren sattsam bekannt, neue Gemeinsamkeiten kamen nicht dazu. Der Rest war betretenes Schweigen. Sogar Konversationsratgeber – ich hatte einen erworben und gelesen, um in Zukunft Fehler auf Partys, bei Besuchen und Empfängen zu vermeiden –, rieten, sich nur dort aufzuhalten, wo gelacht wurde und die Sonne schien. Das bedeutete, Sonderlinge und Langweiler im Schatten ihrer trüben Wolke stehenzulassen. Es sei denn, es handelte sich bei ihnen um Vorgesetzte und potentielle Unterstützer, dann konnte das eisige Ausgrenzen rasch in speichelleckerischen Konformismus umkippen. In Zeiten jeder möglichen politischen und religiösen Radikalisierung und feuerbewaffneter Amokläufe beurteilte ich solches Verhalten als keine zukunftsreiche Strategie.
Umgekehrt, die schönen und angenehmen Erlebnisse sollte jede und jeder mit seinem engsten Freundeskreis verbringen. Wo dieser angetroffen werden sollte, wo niemand irgendwo irgendetwas von sich preisgab, ist mir bis dato ein Rätsel. Erschwerend hinzu kam, dass sogar Frauen und Männer, die ihr Leben dem Lesen zwischen den Zeilen der Literatur und dem Deuten der Nuancen der Philosophie gewidmet hatten, jedes Buch ohne zu Zögern nach dem Einband beurteilten. Das heißt, alle Menschen nach ihrem oberflächlichen Erscheinen bewerteten und etikettierten. Getreu dem Grundsatz: Bist du Freund oder Feind?
Wen wunderte es also, dass meine Therapeutin jeden Stundenschlag ihres Arbeitstags eine oder einen Yalie auf der Couch liegen bzw. im Polstersessel sitzen hatte. Auch die allerjüngsten, ihre Töchter und Söhne im Vorschulalter. Alle litten unter Erfolgsdruck, Konkurrenz und am allerschlimmsten unter Einsamkeit. Von den im Abwasser aufgelösten Antidepressiva schwebten die örtlichen Kanalratten gewiss auf Wolke sieben. Um vom Cannabis high zu werden, reichte an manchen Tagen das tiefe einatmen vor geöffneten Fenstern von Wohnungen aber vor allem von geparkten Autos.
Nach einer Verallgemeinerung über die von Populisten angefeindete so genannte liberale Elite der USA gefragt, würde ich antworten, dass sie just den Fehler begangen hat, vor dem bereits Voltaire vor mehreren hundert Jahren eindringlich gewarnt hatte. Der französische Philosoph der Aufklärung war überzeugt, dass es keinen Gott gab, dass man dieses Wissen aber niemals seinem Diener mitteilen dürfe, weil einen dieser sonst im Schlaf erwürgen würde. Anders gesagt, all die Eiferer, die in aller Bequemlichkeit ihrer Herkunft über die soziale Revolution und Dekonstruktion aller Werte faselten, übersahen, dass sie selbst in den Augen einer wachsenden Mehrheit die Privilegierten waren, von denen sie den „einfachen Mann“ befreien wollten. Welche Hochnäsigkeit. Und zugleich, welche Gefahr, trug diese offen zur Schau gestellte Haltung doch maßgeblich dazu bei, die Schwellenangst abzutragen, die jahrhundertelang ihren elitären Status geschützt und erhalten hatte.
Was genau meine ich damit? Gab es keinerlei Legitimation für Hierarchie und Regierung mehr außer Gewalt und Geld, nach welchen Maßstäben sollte sich eine Gesellschaft in Zukunft organisieren? Wonach sollten die Unterdrückten streben? Zugang zu Bildung und zu sozialem Aufstieg hatten sie nicht. Wovon gingen also die Münder der Populärkultur über (vor allem in der Hip hop music), womit waren die Herzen voll? Mit Geld, Sexismus und Gewalt. Und wessen Schuld war das? Meiner Meinung nach war es die Verantwortung jener, die bisher alle anderen, auch die jahrhundertelang kulturell gewachsenen Inhalte entwertet hatten. Gleichzeitig aber durch sie angenehm gelebt hatten. Jedwede Glaubwürdigkeit ging somit verloren. Und mit ihr der Glaube an die Zukunft.
Dieser düstere Ausblick bildete jedoch nicht mein Fazit. Das lautete bei aller Kritik zum Glück anders und weit positiver. Und ich bin dabei nach wie vor meiner Herkunft und Erziehung verpflichtet:
Ich bin überzeugt, dass wenn es zukünftigen Generationen gelingen könnte, alle Vorteile und Errungenschaften von beiden Seiten des Atlantiks zu einer Gesellschaftsform zu vereinen – Demokratie, Wohlstand, Sozialstaat, Medizin und Wissenschaft –, dann wäre diese Gemeinschaft zwar immer noch nicht der Himmel auf Erden, aber ein glücklicherer Ort für alle.

E pluribus unum!


Mittwoch, 17. April 2019

Ein Ösi in Connecticut (Teil 43)


Teil 43: Rückkehr


Zwei Jahre waren schneller vergangen als erwartet. Wobei „erwartet“ je nach Stimmungslage oder Weltanschauung des Lesers und der Leserin jeweils mit „erhofft“, „befürchtet“ und „gedacht“ ersetzt werden kann. Für mich, den Verfasser dieser Zeilen, war es im Augenblick, und so ist es in der Rückschau immer noch, gleichbedeutend. Ich durchlebte und erlebe nämlich ein bisher ungekanntes Wechselbad der Gefühle angesichts dieser ganz und gar relativen Qualität von Lebenszeit und Endlichkeit. In Windeseile wechselten sich Wehmut, Begeisterung und auch Enttäuschung in mir ab. Vieles, was ich in großer Vorfreude von den USA und mir erwartet hatte, war nicht eingetroffen. Weit mehr, und vor allem das, mit dem ich niemals gerechnet hatte, war geschehen. Gerade als Julianes und mein Leben in Connecticut sich „normal“ anzufühlen begann, war es auch schon wieder vorbei. Gerade als wir die Untiefen und Abgründe des Krankenversicherungssystems ausgelotet hatten, und alle Verschreibungen und refills meiner Therapien und Medikamente endlich auf Kurs gebracht hatten, spielte das alles keine Rolle mehr. In Wien und Europa galten wieder andere Regeln. Wir hatten uns in New Haven endlich zu orientieren gelernt, allmählich das Gefühl erlangt, diesen einen kleinen Ort auf der großen weiten Welt wirklich zu kennen, da mussten wir ihn auch schon wieder verlassen. Und mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kehren wir nie wieder dorthin zurück. Für Juliane ist die Wahrscheinlichkeit aufgrund ihres Berufs jedoch ungleich größer.
Aber auch die Leben, in die wir angeblich zurückkehrten, waren nicht mehr dieselben. In zwei Jahren hatte sich viel verändert, vor allem in uns. Und diese Entwicklung fand nicht nur mit uns, sondern auch mit allen anderen statt. Im Prinzip verhielt es sich also mit Menschen und Orten genauso wie mit einem Fluss, niemand konnte zweimal demselben begegnen. Was eine tatsächliche „Rückkehr“ von vornherein unmöglich machte. Was Juliane und mich in Europa erwartete, das war einmal mehr ein Neuanfang.
Als wir im März 2017 unser kahles und damals auch noch kaltes Apartment in New Haven bezogen hatten, fand ich mich an meinem Schreibtisch sitzend einer nüchternen und mehr oder weniger weißen Wand gegenüber. Eher weniger, da der Anstrich fleckig, stellenweise gelblich gewesen war. Ich beschloss, diesen traurigen Anblick durch glückliche Erinnerungen zu ersetzen. Von jedem Ausflug und jeder Besichtigung, die Juliane und ich seither gemacht hatten, habe ich mir ein Plakat, eine Postkarte oder einen Aufkleber mit nachhause genommen. Diese Andenken habe ich daheim an meine Bürowand geklebt, bis sie im März 2019 fast vollkommen mit Erinnerungsstücken bedeckt war. Vom Fenster auf der rechten, bis zur Türe an der linken Seite meines Schreibtisches. Das half mir jetzt, als sich unser zweijähriger Aufenthalt plötzlich wie ein Wimpernschlag anfühlte, zu begreifen, wie viele Bereicherungen wir in dieser scheinbar kurzen Zeit hatten erleben dürfen. Vierundzwanzig Monate hatte es gedauert, ein Stück nach dem anderen anzubringen, und in weniger als zwanzig Minuten hatte ich alle wieder abgenommen. Dieses Abschiedsritual fühlte sich gut an. Es half mir, jeden einzelnen Druck und alle Blätter vor dem Verpacken noch einmal in die Hand zu nehmen. Dabei verstand ich vielleicht zum ersten Mal, was es bedeutete, „etwas zu begreifen“. Die Reflexion wurde manifest, der Gedanke wurde handfest, greifbar. Ich ließ alles Vergangene revuepassieren und hinter mir. Und danach fand ich mich bereit, mich auf Neues in der Zukunft einzulassen. Dasselbe war ja schon einmal, genau vor zwei Jahren geglückt.

Was ich im Kleinen mit meiner Wand unternahm, mussten wir im Großen mit dem ganzen Apartment machen: Unsere persönlichen Habseligkeiten daraus entfernen und verpacken. Da weder Juliane noch ich an Gegenständen und Besitz hängen, nutzten wir die Gelegenheit, um uns von Unnötigem zu trennen. Alle überflüssigen Gegenstände und Kleidungstücke waren buchstäblich Ballast, den wir uns besser sparten. Wie jede und jeder Flugreisende weiß, gestehen Airlines ihren Fluggästen nur eine gewisse Menge an Gepäck zu. Juliane und ich reizten diese Obergrenze ohnedies aus, wir rechneten sogar damit, zusätzliches Gepäck und Übergewicht bezahlen zu müssen. Obwohl wir vieles aufgaben, vor allem Elektro- und Trainingsgeräte, sahen wir uns am Ende unserer Aktion drei riesigen Koffern, zwei kleinen Rollkoffern, zwei Laptoptaschen und ein paar Tragetaschen gegenüber. Vor unserer Eingangstüre war ein Wald aus Rollkofferstangen gewachsen. Einschüchternd in zweierlei Hinsicht: Zum einen mussten wir, das heißt in Wahrheit Juliane, diese Unmengen an Gepäck bewegen. Erst ins Hotel, später vom Hotel ins Airport Shuttle und zur Gepäckaufgabe auf dem Flughafen in New York, und dann, nach einem Transatlantikflug, von der Gepäckabholung in Wien in unsere Wohnung. Zum anderen steckten in diesen trotzdem überschaubaren Behältern zwei Jahre unseres gemeinsamen Lebens. Abzüglich der acht Kisten mit Büchern und Papieren, die inzwischen bereits mit der Post über den Atlantik reisten. Der Anblick machte auch Angst. Unserer beider Persönlichkeiten beraubt, war das Apartment wieder kahl, kalt und im Grunde hässlich. Juliane hatte auch unsere improvisierten Fensterdichtungen wieder entfernt, so dass der Frühlingswind die Vorhänge bewegte. Zum Glück schien die Sonne, und der Himmel vor den Fenstern war blau, so dass die Umstände unseres Auszugs nicht ebenso winterlich und grau gerieten wie im März unseres Einzugs.
Was sollten wir mit all den Dingen machen, die wir nicht mit nach Europa nahmen? Und die wir nicht an Freunde und Bekannte verschenkten wie meinen George Foreman Grill, den Christbaumschmuck, die angebrochenen Flaschen, Gewürze und Zutaten? Juliane und ich waren ja längst nicht die einzigen, die sich nur für begrenzte Zeit in New Haven aufhielten. In der Stadt herrschte ein reges Kommen und Gehen von Stipendiaten und Studierenden jeden Alters und Geschlechts. Auf den Internetseiten der Yale Universität gab es entsprechende Möglichkeiten, Alltagsgegenstände zu tauschen und zu verkaufen. Juliane fotografierte alle ihre Heimsportgeräte und stellte sie ins Netz. Die kunststoffummantelten Hanteln, die Thera-Bänder und auch das Steppbrett waren erst in den USA angeschafft worden. Die komplette Ausrüstung war neuwertig und eigentlich kaum benutzt. Trotzdem, kein Interesse. Wir waren vorab gewarnt worden, wenn Yalies so etwas anschafften, dann ausschließlich fabrikneu und originalverpackt. Alles andere landete auf dem Müll. So wurde mir endgültig klar, warum die Mulde hinter unserem Haus jeden Semesterbeginn und alle Semesterenden geleert werden musste. Klimaschutz und Umweltbewusstsein blieben reine Lippenbekenntnisse und Mausklicks. Auch vor etwas anderem waren wir gewarnt worden, das keinen halben Tag, nachdem Juliane ihre Angebotsliste gepostet hatte, genau wie prophezeit geschah: Ein Typ aus einem Nachbarort fragte an, ob Juliane ihre Sachen denn „immer noch“ loswerden wollte. Der Bieter kannte offensichtlich seine Pappenheimer und den akademischen Kalender. Die einen, Leute wie wir, lösten zum Monatsende März oder Juni einen Haushalt auf und mussten aus den Apartments raus, die anderen, die Nachmieter, kauften zu Monatsbeginn August oder September allen Hausrat im Laden und im Onlineshop. Er bot uns fünf Dollar für alles. Das hielt ich für einen guten, wenn auch geschmacklosen Scherz. Bevor ich unsere Sachen so einem Schlaumeier überließ, verschenkte ich sie lieber an Leute, denen vielleicht das Geld dafür fehlte, die sie aber brauchen konnten und zu schätzen wussten. Und denen sie der Typ meiner Meinung nach auch mit horrender Gewinnspanne weiterkaufen wollte. Für diese Form der „Sachspende“ gab es in New Haven eine bewährte Methode bei der Geber und Nehmer sich nicht begegneten und sich daher auch nicht gegenseitig beschämen konnten. Ja, das Leben in den USA konnte schon ordentlich kompliziert sein.
Was ich bisher für einen übertriebenen Scherz in den Simpsons hielt („Bart, das innere Ich“, Staffel 5, Episode 7/ IF05), war wie viele andere „Gags“ aus der beliebten US-Serie keine Fiktion, sondern Alltag. Genau wie Homer sein ungeliebtes, zuvor von Krusty geschenkt bekommenes Trampolin arrangierte Juliane ihre Sportgeräte vor unserem Haus. Ansprechend und gut sichtbar für den vorbeifahrenden Verkehr. Hügelabwärts und jenseits der Winchester-Fabrik, heute der Yale Science Hill, lag bekanntlich das berühmt berüchtigte Stadtviertel Dixwell. Eine lange Geschichte kurz gemacht: In kürzester Zeit hatten alle Gymnastikgeräte, die Yogamatte und auch alles andere Nützliche neue und hoffentlich zufriedene Besitzerinnen und Eigentümer.
Am Tag unseres Umzugs ins Hotel, zwei Nächte vor unserer Abreise am 1. April zurück nach Europa, lag im Gegensatz dazu der verlassene Christbaum immer noch in Nachbars Garten. Er war eines Morgens Anfang Februar im Vorgarten unseres Wohnhauses völlig unvermittelt aufgetaucht und war kurz darauf kommentar- und kompromisslos auf das Nachbarsgrundstück geworfen worden. Seither hatte er dort ein paarmal seine Position gewechselt, bis er schließlich endgültig zum Liegen kam. Und es schien immer mehr, dass der obdachlos gewordene Weihnachtsbaum dorthin gekommen war, um zu bleiben. Kein Aprilscherz, das immer dürrer und trockener werdende Nadelgehölz lag der Länge nach ausgestreckt exakt auf der Grundstücksgrenze. Weder eine der benachbarten Mietparteien, noch die jeweiligen Grundstückseigentümer fühlten sich für die Entsorgung der verrottenden Konifere verantwortlich. Es war aufgrund seiner Lage weder klar, wem der Baumkadaver gehörte, noch auf wessen Rasenteil er verdorrte. Sogar die seit dem Frühlingsbeginn und dem Ende der Kältewelle für Instandsetzungsarbeiten auf beiden Liegenschaften herbeigerufenen hispanischen Gärtner und Handwerker stiegen über den entzauberten Lichterbaum hinweg und rasenmähten und laubbliesen penibel um ihn herum. Anstatt also aufrecht und geschmückt Licht und Hoffnung in die Dunkelheit der winterlichen Erde zu bringen, lag der kleine verblichene Nadelbaum als dürres Mahnmal zwischen zwei Rasenflächen. Als Wahrzeichen einer von Rechtsanwälten, Jobholdern und dem Selbstverständnis einer Nachwuchselite beseelten Umwelt.
Einmal ganz abgesehen von der Ästhetik, im niederösterreichischen Waldviertel und ganz gewiss auch in jedem anderen Gebiet mit Forstwirtschaft hätten die besorgten Anrainer in dem toten Nadelbaum einen potentiellen Käferbaum erkannt, eine Brutstätte für Borkenkäfer/Buchdrucker und andere Holzschädlinge. Ich bin mir sicher, dass die Christbäume in der Umgebung des Great Smoky Mountains National Park keine drei bis vier Monate irgendwo unkontrolliert und ungestört vor sich hin kompostierten. Schon gar nicht aufgrund ungeklärter Besitzverhältnisse. Und dieser Weihnachtsbaum war keineswegs der einzige. Auch unserer lag im Hinterhof neben den Garagen. In ähnlich erbärmlichen Zustand, seit ihn irgendjemand aus unserer Mülltonne genommen und dort nach hinten geschmissen hatte. Ich hoffe, dass die beiden nicht wirklich zum Problem für die hohen Bäume der Nachbarschaft und des Botanischen Gartens werden.
Diese Sorglosigkeit stach mir umso mehr ins Auge, da die durchschnittlichen US-Amerikaner eine geradezu panische Angst vor allen Arten von „pests“ (Ungeziefer) und „rodents“ (Nagetieren) hatten. Die Furcht vor dem Getier war scheinbar von den puritanisch-englischen Siedlern ererbt und seither bevölkerungsweit kultiviert worden. Die geradezu biblische Feindschaft zwischen den Töchtern und Söhnen Albions und dem Geschlecht der Hasen wurde sprichwörtlich und zum Klischee. Man denke auch bloß an die ausbrechende Panik aller Akteure, sobald in einer US-Komödie oder Sitcom einmal irgendwo ein Squirrel auftaucht. Als wären die putzigen Kerlchen irgendwelche Säbelzahnkatzen. Wie aus Plimoth Plantation berichtet, sahen die meisten US-Amerikaner in Haustieren (außer in Hunden) bereits eine Bedrohung und in Wildtieren eine Lebensgefahr. Auf dem Höhepunkt der Kältewelle im neuenglischen Winter hörte Juliane den Hinweis, dass es bei Schneefall und eisiger Trockenheit für die Squirrels, Vögel und all die anderen Kleintiere des Gartens hilfreich wäre, ihnen eine Schale Wasser auf die Veranda zu stellen. Juliane füllte also eine Plastikschale mit warmen Wasser und platzierte sie vor unserer Tür im Freien. Keine ein bis zwei Stunden später, Juliane brachte den Müll hinunter, war das Wasser schon ausgeschüttet und die Plastikschale entsorgt.
Solche, im Anbetracht der ringsum herrschenden bröckelnden Umstände und unserer bisherigen Erfahrungen als widernatürlich empfundene Anfälle von Ordentlichkeit häuften sich je näher der Zeitpunkt unseres Auszugs und der Abreise rückte. Plötzlich mussten alle Rauchmelder in unserem Apartment vom Vermieter überprüft, und ihre Batterien oder sie selbst erneuert werden. Buchstäblich bei letzter Gelegenheit hatten wir eine Erklärung zu unterschreiben, niemanden wegen der baulichen Mängel an Haus und Infrastruktur zu verklagen. Nicht unsere Vermieter und auch nicht die Stadt New Haven. Fast jeden Tag standen Doktorat-Studierende bei uns auf der Matte, um als potentielle Nachmieter unsere Wohnung zu besichtigen. Im Mietvertrag hatten wir uns zu alldem jederzeit bereit erklärt. Die letzte Interessierte, sie wohnte bisher ein Stockwerk tiefer, musste dafür listig hinter ihrer Wohnungstür gelauert haben, bis wir zum allerletzten Mal die Tür hinter uns zugeschlagen hatten.
Bis es allerdings endlich so weit war und wir auszogen, mussten wir noch jede Menge erledigen. Jede Unterbrechung der Reisevorbereitungen kam also mehr als ungelegen. Besonders Juliane wurde ordentlich gefordert. Der eigentliche Rausschmeißer ereignete sich allerdings am Abend vor unserem Auszug aus dem Apartment. Ich wollte noch einmal in den Barbershop an der Uni, um mir vor dem Abflug einen Haar- und Bartschnitt verpassen zu lassen. Dieser Friseurladen war kein hipper Barbershop wie sie gerade überall in Europa aus dem Boden sprießen, sondern ein ganz und gar traditioneller wie aus einem Clint Eastwood-Film. Und tatsächlich hing über der Kassa auch ein Porträt mit Autogramm von George H.W. Bush (1924-2018). Nicht meine politische Richtung, aber authentischer Lokalkolorit. Yale war Bushs Alma Mater, und dieser Barbershop war während seines Studiums sein Friseur gewesen. Und kleine Abschweife, CNN zeigte seit kurzem im Abendprogramm Dokumentarreihen über berühmte Republikaner wie „Tricky Dick“ Richard Nixon und die Bush-Familie. Wohl um klarzumachen, dass der amtierende US-Präsident keiner von ihrem Format und auch kein Republikaner war. Dass er kein Demokrat war, sollte inzwischen jeder Wählerin und jedem Wähler klar geworden sein. Aber zurück zum Rausschmeißer und warum Leben und Politik in den gegenwärtigen USA so kompliziert waren. Um zu dem Barbershop und meinem Haarschnitt zu kommen, nahmen Juliane und ich einen Uber. Die Wallstreet, die Seitenstraße in der der Laden lag, war eng und eine Einbahn. Sie bestand nur aus zwei Spuren, einer Fahrbahn und einem Parkstreifen. Als der hispanische Uberfahrer vor dem Friseur zwischen Blue State Café und Joseph Slifka Center for Jewish Life at Yale anhielt, um uns aussteigen zu lassen, blockierte er zwangsläufig den Verkehr. Juliane stieg aus, um mir vom Beifahrersitz und aus dem Auto zu helfen. Wir waren das schon gewohnt, in diesem Moment hupten immer ein paar Autofahrer. Sobald sie aber sahen, dass ich Hilfe beim Aussteigen benötigte und am Stock ging, hörten sie normalerweise auf. Sogar in New York City. Diesmal nicht. Einer der drei Afroamerikaner im Wagen hinter uns, er saß auf der Rückbank des angejahrten PKWs, ließ das Seitenfenster hinunter und brüllte uns an. Nein, nicht uns, er beschimpfte Juliane auf das Vulgärste. Er forderte sie lauthals zu sexuellen Handlungen mit ihm auf. Als ich mich zu ihm umdrehte, ihm direkt ins Gesicht schaute und ihn fragte, warum er sich so benahm, schrie er weiter. Ich hatte keine Lust auf ein Schreiduell. Aber kampflos wollte ich nicht untergehen. Ich war dem Kerl in meinem gut sichtbaren Zustand körperlich unterlegen, das wussten er und ich. Ich musste einen klaren Kopf bewahren. Und zu meinem ehrlichen Entsetzen war ich scheinbar auch moralisch unterlegen, da sich niemand ringsum fand, der für Juliane und mich Partei ergriff. Oder wenigstens Juliane irgendwie zu Hilfe kam. Im Gegenteil, hinter dem Schaufenster des benachbarten Kaffeehauses fanden ein paar vollbärtige Studenten, dem Aussehen nach aus dem Nahen- oder Mittleren Osten, die Szene unglaublich komisch. Ausgerechnet! Als hätten Donald Trump oder der Satan oder beide gemeinsam Regie geführt. Und die anwesenden so genannten Weißen oder „Kaukasier“ taten so, als ginge sie das alles nichts an. Einige Yalies dachten sich wohl: „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!“, und sie steckten Opfer und Täter zusammen in eine Schublade, in die unterste. Kein Stereotyp wurde in dem liebevollen Arrangement ausgelassen. Wo die in diesem Teil der Stadt ansonsten stets allgegenwärtige Yale-Security gerade war, keine Ahnung. In Wien standen vor jeder jüdischen Institution rund um die Uhr zwei Polizisten. Der Wagen mit dem Schreihals kam jetzt genau vor mir zum Stehen. Der Typ plärrte weiter. Juliane war ja von ihren Ausfahrten mit dem Fahrrad schon einiges an so genannten Catcalls und Street Harassments vonseiten solcher und ganz ähnlicher Herren gewohnt, aber der hier übertraf alles bisher erlebte. Für mich war sein Benehmen der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Ich fragte ihn nochmals: „Why are you behaving like this?“ Er hielt sich scheinbar immer noch für einen ganz tollen Burschen oder Helden, dass er völlig ungehindert eine Frau und einen Behinderten auf offener Straße bedrohte. Beifahrer und Fahrer des Autos machten dagegen den Eindruck zu verstehen, was ich ihn wirklich fragte. Ich wollte in Wahrheit von ihm wissen, warum er mir bereitwillig jedes einzelne mögliche rassistische Klischee der USA vor Augen führte? Hätten die beiden mit dem Krakeeler mitgemacht, die Lage wäre so richtig ungut für Juliane und mich geworden. Aber das Auto fuhr weg. Die Stimme des Typen verklang. Solche Ausnahmesituationen gruben sich viel tiefer als jede andere Alltagserfahrung oder veröffentlichte Kriminalstatistik in das Bewusstsein. Und wenig hilfreich war dabei der biologistische und meiner Meinung nach ziemlich krankhafte Ansatz, jedes menschliche Verhalten mit dem US-amerikanischen Konzept der „race“, der „Rasse“, erklären und begründen zu wollen. Vielmehr befeuerte genau das den ohnedies in den USA schwelenden Konflikt. Der amerikanische Traum „E pluribus unum“ wirkte ausgeträumt. Für mich war der Tag jedenfalls gelaufen, für den Rest des Abends stand ich neben mir und sah mir selber dabei zu. Weder konnte ich meinen Friseurbesuch genießen – ich spürte und hörte deutlich meinen Herzschlag zwischen den Ohren –, noch das anschließende Abschieds-Abendessen mit Julianes Gastgeber und seiner Frau. Tatsächlich befand ich mich in einem Gemütszustand, für den ich mich bei vollem Bewusstsein schämte. Es war mir sogar relativ egal, dass mir die Friseurin aufgrund eines Missverständnisses zu viel Bart abgenommen und mir quasi das Kinn amputiert hatte. Dem beim Abendessen geäußerten Bedauern, dass nur so wenige Menschen mit stärkerer Hautpigmentierung das ausgewählte Restaurant besuchten, konnte ich mich im Augenblick nicht guten Gewissens und ohne zu Heucheln anschließen. Ich sagte nichts dazu. Ich entschuldigte mich aber für meine spürbare geistige Abwesenheit und erzählte, was geschehen war.
Mein Menschenbild regenerierte sich zum Glück relativ rasch, mein Abschiedsschmerz behielt einen nachhaltigen Dämpfer, und unsere bevorstehende Rückkehr nach Europa gewann über Nacht sehr an Attraktivität. Am nächsten Morgen und gerade noch rechtzeitig, erreichte Juliane die Bitte unserer Vermieterin, die Hintertür der Wohnung beim Gehen offen zu lassen. Die Mieterin im Erdgeschoss wollte das Apartment besichtigen, nachdem wir gegangen waren. Kein Problem, sobald wir aus der Wohnung draußen waren, ging uns das alles nichts mehr an. Unter großem Getöse, die Dinger waren richtig schwer und sperrig, schleppte Juliane unsere Koffer über die krachende und knarrende Holztreppe nach unten auf die front porch, wo ich sie anschließend bewachte. Unser Aufbruch war nicht zu überhören. Der junge Mann aus Usbekistan, der das letzte Jahr über uns gewohnt hatte, half uns völlig überraschend und unaufgefordert mit den Unmengen an Gepäck. Wir hatten uns schon vorher ein paar Mal unterhalten, und sein Mitbewohner und er hatten auch schon unser Apartment besichtigt. Beide waren sichtlich schockiert darüber gewesen, welchen Komfort man für seine Miete in den USA, das heißt in New Haven, auch bekommen konnte. Und das im selben Haus. Und wir sprechen hier nicht von Luxus, sondern von geraden Wänden, Vorhängen (von uns gekauft und aufgehängt), funktionierenden Armaturen und Abflüssen sowie einer Geschirrspülmaschine. Er begegnete uns zufällig zwischen all unseren Koffern und Tragetaschen vor dem Haus und sprach uns an. Irgendjemand hatte gestern seine Postpakete von der Veranda geklaut, und er hatte sich online ein Jackett für sein Praktikum gekauft. Als ihm klar wurde, dass wir gerade auszogen, schleppte er unsere Koffer und wuchtete sie sogar in den Kofferraum des gerufenen Ubers ins Hotel. Wir bedankten uns bei ihm und wünschten ihm alles Gute für sein bevorstehendes Berufspraktikum in London. Er studierte ein Fach und erlernte einen Beruf, der ihn gemäß der herrschenden Vorurteile für die Rolle des Samariters in der Not überhaupt nicht qualifizierte: Investmentbanker. Und gerade als mir die freundliche schwarze Uberfahrerin den Sicherheitsgurt angelegt hatte und losgefahren war, erhielt Juliane eine Kurznachricht von der Vermieterin, ob sich unsere Nachbarin jetzt das Apartment ansehen kommen konnte, eine Theologiestudentin aus Ohio.

Aus den beschriebenen Gründen hielt sich meine Lust, das Hotelzimmer zu verlassen in Grenzen. Ich hatte mich schon vor dem Zwischenfall am Barbershop auf der Straße nicht wirklich sicher gefühlt. Im öffentlichen Raum fühlte ich mich als behinderter Mann immer irgendwie als potentielles Opfer ausgemacht. In kurzer Zeit quatschte mich fast immer jemand wegen Kleingeld oder sonst irgendwas an, und die seit zwei Jahren täglich in Julianes Mailbox eintreffenden Polizeiberichte von Ronnell Higgins, dem Chief of Police at Yale University, trugen auch nicht zu meiner Beruhigung bei. Die Überfälle und Übergriffe häuften sich. Und Chief Higgins, einem respektgebietenden breitschultrigen Afroamerikaner, kann wirklich niemand vorwerfen, im Dienste von Hetze und Panikmache zu stehen. Im Gegenteil, sein Auftrag und Anliegen war es stets, der Universitätsstadt Beruhigung und Sicherheit zu vermitteln. Diesen Job erledigte jetzt für mich das Zimmer im New Haven Hotel. Hier schloss sich für Juliane und mich auch endlich der Kreis. Wir hatten die erste Nacht in New Haven in dem Haus verbracht und auch unsere letzte. Während Juliane die abschließenden Wege erledigte, unsere Handyrechnungen mussten bezahlt und noch einige Dinge aus der Apotheke abgeholt werden, zog ich mich an den Schreibtisch zurück und schrieb meine Erinnerungen an Tennessee und North Carolina nieder. Eigentlich hatte ich noch einmal an den Lighthouse Point an die Bucht gewollt, aber weder das Wetter, strömender Regen, noch meine Stimmung sprachen dafür. Ich verließ das Hotelzimmer nur, um ein letztes Mal in der Box 63 in der Elm Street ein Jambalaya zu verputzen. Juliane und ich trafen eine ihrer Kolleginnen zum Abendessen, die lustiger Weise auch aus Wien stammte und mit deren Familie wir bereits Sylvester gefeiert hatten. Das wurde ein freundlicher Abend und versöhnte mich zum Abschluss.
Bereits zu Mittag buchten wir aus dem New Haven Hotel aus. Unser GoShuttle nach JFK war pünktlich, und wir waren seine einzigen Fahrgäste. Den Fahrer kannten wir bereits, er stammte ursprünglich aus Syrien und litt seit kurzem erst an einem Nierenleiden. Er hatte so einiges zu erzählen und wollte auch einiges von uns wissen. Es wurde eine angenehme und unterhaltsame Fahrt. Auch der Verkehr auf dem Highway nach New York City präsentierte sich ruhig und entspannt. Ganz anders als erwartet. Die Kehrseite der Medaille, aber jetzt nicht unbedingt ein Nachteil, wir hatten noch sechs Stunden bis zu unserem Flug nach London. In aller Ruhe konnten wir unsere Gepäckmengen einchecken und die Sicherheitskontrollen absolvieren. Endlich wurde unsere lange gehegte Frage beantwortet, wer bitte diese Leute waren, die mit Unmengen an Koffern und Trolleys verreisten und warum. Heute waren es Juliane und ich, die solche Massen mit sich herumzerrten. Die restliche Wartezeit verkürzten wir uns am Gate. Da von hier die transatlantischen Flüge abgingen, war dieses besser mit Gastronomie und Shops ausgestattet. Fad wurde uns nicht, es gab auch viel zu beobachten.
Auf unserem Inlandsflug nach Knoxville, TN hatte ich unbeabsichtigt mitangehört, dass Fluggäste, die den Special Service benötigten, vom Flugpersonal „Jackpot“ genannt wurden. Damals war ich einer von zwei „Haupttreffern“ gewesen. Vor den Sicherheitskontrollen in JFK war ein alter Mann in seinem Krankenfahrstuhl kollabiert. Uniformierte standen ringsum, und ein Verwandter fächelte dem in sich zusammengesunken Mann Luft zu. Ein dicker Speichelfaden troff aus seinem Mundwinkel, und ich bezweifelte in meinem tiefsten Inneren, dass er seine Reise fortsetzen würde können. Er erschien mir endgültig angekommen. Im nächsten Moment strömten Menschen in freudiger Erwartung an ihre bevorstehende Flugreise vorbei. Am Gate gegenüber, von wo beinahe zeitgleich mit unserem der Flug nach Kairo startete, sammelte sich an diesem Nachmittag ein Topf von gezählten zwanzig Jackpots. Die Special Service-Mitarbeiter des Flughafens stellten jeweils drei Rollstühle in sechs Reihen für das Boarding zusammen. Zwei weitere warteten schon an der Tür zur Fluggastbrücke. Beinahe im Minutentakt gesellten sich neue hinzu. In der überwiegenden Mehrheit der Krankenfahrstühle saßen Frauen. Zu diesen zahlreichen Flugästen mit besonderen Bedürfnissen traten am Beginn des Boardings auch vier Mütter mit behinderten Kindern dazu. Natürlich wurde der Transkontinentalflug von einem riesigen Flugzeug durchgeführt, trotzdem berührte mich dieser Anblick sehr, und eigentlich wusste ich nicht wirklich, was ich mit diesen Eindrücken anfangen sollte.
Waren die USA für mich zum Land der unendlichen Widersprüche geworden, so bildete der JFK Airport einen abschließenden Kulminationspunkt. Auf meiner einen Seite muslimische Frauen mit Kopftuch und im Tschador, im Durchgang in der Mitte elegante Stewardessen in hochhackigen Schuhen, und auf meiner anderen Seite das rothaarige Pin-up-Girl mit dem Union Jack an der Nase unseres Airbus von Virgin Atlantic. Bei ihr war nur eines klar, nämlich dass sie nicht Theresa May darstellte. Dann ging alles recht schnell, ich wurde über die Fluggastbrücke gerollt, die Flugbegleiter übernahmen unser Handgepäck und führten uns an unsere Plätze. Beim kurz laut werdenden Tumult, wer um alles in der Welt zwei Gepäckfächer mit seinem Zeug vollgepackt hatte, schlugen Juliane und ich die Augen nieder oder guckten beim Fenster hinaus. Zum Glück sah man wegen der Gesichtsmasken aus dem Krankenhaus unsere schuldigen und ertappten Mienen nicht.
Wir waren froh in London umzusteigen, solange das Vereinigte Königreich dank der jüngsten Fristverlängerung noch Teil der EU war. Trotz aller Brexit-Verwirrung zeigte sich Heathrow diesmal für seine Verhältnisse gnädig. Keinesfalls reibungslos, aber kooperativ. Nur eine Security-Mitarbeiterin kippte den Inhalt meiner Pillendose in die Plastikschale an der Sicherheitskontrolle, als wären meine Tabletten einfache Aspirin. Laut entsprechenden Erhebungen sind die grauen Dinger so ziemlich der dreckigste Ort auf Erden. Und ein paar Männer in der Warteschlange fanden es sinnvoller herum zu maulen, dass wir zu viel Zeit und Platz beanspruchten, anstatt Juliane beim Einsammeln und Freiräumen des Rollbands zu helfen. Der Special Service klappte diesmal, wir rollten pünktlich über die Fahrgastbrücke in das Flugzeug nach Wien. Gerade hatten wir aufatmend und ohne Blick zurück im Zorn die Studierenden von Yale hinter uns gelassen, hier krachten wir in eine Reisegruppe Wiener Privatschüler. Dieselbe zur Schau getragene innere Haltung bei etwas unterschiedlichem Background und in einem völlig anderen Dialekt.
Obwohl der zweite Flug im Vergleich zum ersten nur Kurzstrecke war, gestaltete er sich qualvoll. Das lag weder am Personal noch am Flugzeug oder an den Mitreisenden. Nach einem Transatlantikflug tut einem einfach alles weh. Am Flughafen Wien angekommen, redete jeder Mitarbeiter wie selbstverständlich mit mir Englisch. Mit Juliane sowieso. Auch in den USA hielten sie alle für eine Polin oder Russin. Das war der erste merkbare Kulturunterschied. Fähigkeit und Bereitschaft, eine Fremdsprache mit Gästen zu sprechen, waren schon in London ungleich größer gewesen als in den USA. Wobei es in England natürlich aufgrund der Landessprache noch nicht so aufgefallen war. In Wien fiel mir das unmittelbar ins Ohr, da ich hier eigentlich erwartet hatte, in meiner Muttersprache angesprochen zu werden. Aber genau wie ich es vor zwei Jahren beabsichtigt hatte, hatte ich mein Aussehen völlig an die USA angepasst. Jetzt fiel ich in Tennessee oder New York nicht mehr auf, dafür wurde ich in meiner Heimatstadt als Fremder begrüßt. Es wird wohl etwas Zeit in Anspruch nehmen, mich meinem neuen alten Umfeld wieder anzupassen.
Dass mit dem öffentlichen Raum in Neuengland Grundsätzliches nicht in Ordnung war, zeigte sich an meiner Verblüffung und Begeisterung darüber, wie gepflegt die Wiener Flughafenautobahn und die Landschaft ringsum waren. Sogar die Raffinerie in Schwechat war im Vergleich zu den Industrieruinen in Bridgeport eine Augenweide. Nur der Verkehr erschien mir hektischer als gewohnt, und die beteiligten Autos winzig. Und der zehnte Wiener Gemeindebezirk Favoriten, hierzulande übel beleumundet und sogar verschrien, präsentierte sich meinen Augen sauber und aufgeräumt. Die Gehsteige, Fassaden und Grünanlagen, nirgends Zeichen oder Spuren von Abfallhalden und strukturellem Verfall. Das angesichts dieser Umstände aufkommende Gefühl des Glücks und der Befriedigung kann, denke ich, nur nachvollziehen, wer wirklich länger mit allen Höhen und Tiefen in den USA gelebt hat. Es mag wie ein altväterlicher Kalauer klingen, aber wir haben in Europa keine Ahnung, wie schön wir es nach wie vor auf unserem gemeinsamen Kontinent haben. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag. Der Unterschied war gewaltig. Man musste ihn bloß sehen. Das wäre jedoch auf beiden Seiten des Atlantiks unerwünscht. Weshalb es mich nicht im Geringsten wunderte, dass US-amerikanische Produktions- und Distributionsfirmen für Dreharbeiten in Übersee ganze Straßenzüge europäischer Städte mit schwarzen Müllsäcken und Graffitis verwüsten lassen, damit z.B. Hamburg (rosa Müllsäcke, gelbe bzw. weiße Wertstoffsäcke) auf Leinwand und Bildschirm genauso scheiße aussah wie New York City („A Most Wanted Man“, 2014, Lionsgate).
Größer als bei meinem ersten Besuch im Allgemeinen Krankenhaus der Meduni Wien hätte der Kulturschock aber nicht ausfallen können. Im Vergleich zum nicht für die breite Masse bestimmten Yale New Haven Hospital brummten die riesigen Gebäude geschäftig wie Bienenkörbe. Hier wurde sogleich beim Eintreten spürbar und augenfällig, wie viele Menschen mehr Zugang zu medizinischer Versorgung hatten, und auch welche positive Auswirkung das für die Bevölkerung brachte. Nichtsdestotrotz, in der Frühlingssonne vor dem AKH habe ich an einem einzelnen lauen Morgen mehr Raucher gesehen als an allen 730 Tagen in den USA zusammen. Im Restaurant des Yale New Haven Hospitals gab es Cheeseburger und Pommes frites zu kaufen, im AKH Zigaretten und Alkohol. Jeder Bevölkerung ihr ureigenes Gift.

Fortsetzung folgt…