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Freitag, 26. April 2019

Ein Ösi in Connecticut (Teil 44)


Teil 44: Fazit


Den meisten, die wie ich im sogenannten Westen (Wien liegt östlicher als Prag, Leipzig und Dresden) des Nachkriegseuropas gegen Ende des Kalten Krieges und der Sowjetunion geboren worden und aufgewachsen sind, wurden die Vereinigten Staaten als die Neue Welt der Verheißung vermittelt. Als Schlaraffenland, wo der Tellerwäscher zum Millionär werden konnte. John Wayne hatte im Strahlenkranz der Hollywoodstudioscheinwerfer eigenhändig den Wilden Westen erobert und ganz alleine den Zweiten Weltkrieg gewonnen. An beiden Ozeanen. Spiel- und Dokumentarfilme sowie TV-serien vermittelten Gläubigen zu allen Seiten des Atlantiks die Frohbotschaft der First Church of Income. Und das Licht der Freiheit, in dem sich die US-Amerikaner am liebsten selbst sahen und gesehen werden wollten. Bis heute. Der Eiserne Vorhang stellte in dieser Stimmungslage bekanntermaßen die Wetterscheide dar. Aber weder real existierender Sozialismus noch Reaganomics schufen das Paradies auf Erden. Das USA-Bild meiner Kindheit und Teenagerjahre, geprägt vom Kalten Krieg, Kapitalismus und Unterhaltungsindustrie, wurde für mich in den vergangenen zwei Jahren nicht bloß angeknackst, es ging völlig zu Bruch, nachdem es im Alltag alle Glaubwürdigkeit eingebüßt und aus dem Rahmen gefallen war. Besonders das historische und politische Motto der USA „E pluribus unum!“ hing in Fransen. Da es in meinen Augen weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart der Vereinigten Staaten jemals so etwas wie Einschließlichkeit und Toleranz gegeben hat. Zu tief waren seit jeher die politischen und sozialen Grabenbrüche. Zu ausgeprägt erwies sich der Alltagsrassismus. Die heutigen USA unter Präsident Donald Trump präsentierten sich mir mitnichten als Paradies, aber als Fegefeuer. Für viel zu viele wurden sie zur Hölle auf Erden, wenige konnten unter besonders günstigen Umständen ihre Seligkeit erlangen, die Mehrheit büßte hier ihre Sünden ab.
Viele Klischees über die USA und ihre Bewohner hielten der Überprüfung durch das Zusammenleben nicht stand. Zuallererst, die so genannten „Amerikaner“, „Amis“ oder wie auch immer jemand die vielfältigen Bürgerinnen und Bewohner der US-Staaten zusammenfassen möchte, waren kein Stück dümmer oder ungebildeter als alle anderen Durchschnittsbevölkerungen der restlichen Welt. Vieles, was mir während meines Auslandsaufenthalts von österreichischen Medien als unlösbare innenpolitische Debatten daheim dargestellt worden waren, bedeutete in den USA überhaupt kein Problem: Berittene Polizei, Rechtsabbiegen bei Rot und elektronische Abbiegeassistenten in Fahrzeugen. Um hier nur drei Paradebeispiele zu nennen. Wahr ist hingegen, dass im Vergleich zu Europa sehr viel weniger Menschen Zugang zu Bildung, Wohlstand und Medizin haben.
Die US-amerikanische Gesellschaft präsentierte sich mir keineswegs als frei und sozial durchlässig. Im Gegenteil, ich erlebte eine feudale oder oligarchische Gesellschaft, in der Geburt und „Rasse“ und keineswegs Begabung und Leistung die Klassen- bzw. Milieuzugehörigkeit bestimmte. Und zwar unwiderruflich und auf Lebenszeit. „Entitlement“/ „Anspruch“ war daher in etlichen Gesprächen und Diskussionen über gesellschaftliche Probleme ein Thema. Insbesondere, wenn das durch Elternhaus, Lehrerinnen und Ausbilder anerzogene Selbstverständnis der Yale-Studierenden in ganz normalen Alltagssituationen auf die Wirklichkeit traf, z.B. beim Überqueren einer Straße als Fußgänger. Nein, Autofahrer bremsten nicht sofort, sobald eine oder einer von ihnen den Fuß auf die Fahrbahn setzte. Doch wie einige selbst zugaben, bis zu ihrem Studienabschluss hatte noch niemand jemals „Nein“ zu ihnen gesagt.
Um eine faszinierende Facette reicher ist die Diskussion um das „Entitlement“ durch die Verurteilung der Hochstaplerin Anna Sorokin in New York. Die in die USA emigrierte Deutschrussin wurde wegen Diebstahls schuldig gesprochen, das volle Strafmaß wird im Mai 2019 bekannt gegeben. Sorokin war es gelungen, sich mittels selbstbewusstem und entsprechendem Auftreten in die so genannten wohlhabenden Kreise New York Citys einzuschleusen. Die junge Frau aus einfachen Verhältnissen, Sorokin war die Tochter eines Lastwagenfahrers, gab sich erfolgreich als „reiche Erbin“ aus, ermöglichte sich ein Luxusleben auf Pump und bekam von Banken Unsummen an Krediten für ihre Geschäftsideen genehmigt. Wie es aussieht, alles Lüge. Sie hatte gelernt, mit den Wölfen zu heulen. Wen wundert es, dass sich der Streamingdienst Netflix und der Sender HBO bereits für eine Verfilmung ihrer Lebensgeschichte interessierten.
Diesen besonderen Anspruch, dieses Geburtsrecht, behauptete allerdings die gesamte Nation für sich. Bis heute und seit ihrer Gründung. So konnte der 45. US-Präsident Donald Trump in seiner 2019 State of the Union Address am 5. Februar vor dem 116. United States Congress, vor 46,8 Millionen Zusehern auf 12 der wichtigsten nationalen TV-Sender und vor weiteren rund 15 Millionen online unwidersprochen erklären: „Together, we represent the most extraordinary Nation in all of history.“ („Gemeinsam repräsentieren wir die außergewöhnlichste Nation der ganzen Geschichte.“)
Weltgeschichtlich war diese Aussage naturgemäß Quatsch. Objektiv betrachtet war sie sogar lächerlich. Irgendwo im Jenseits hörte man die Pharaonen Ägyptens, die Konsuln und Cäsaren Roms, die Moguln Indiens und die Söhne des Himmels Chinas zu der unfreiwilligen Pointe lachen.
„Sie“, die US-Amerikaner, waren allerdings so zahlreich, dass ihr Wort innerhalb der gegenwärtigen kapitalistischen Weltordnung ungleich mehr ins Gewicht fiel als die Äußerungen aller anderen Global Player. Und sogar bekennenden regierungskritischen und ausgewiesen liberalen Intellektuellen konnte ich ein unbewusstes Lächeln ins Gesicht zaubern, wenn ich darauf angesprochen hinwies, dass die österreichische Kleinstaaterei zwar in gehäuften Einzelfällen unappetitlich wurde, aber gegen die Schelmenstücke des US-Präsidenten unwichtig war. Da Donald Trump anders als Bundeskanzler Sebastian Kurz und die FPÖ welthistorische und globale Tragweite und Bedeutung besaß. Stolz hieß die Canaille! Auch wenn meine Gesprächspartner sich und anderen niemals eingestehen würden, dass sie patriotische Gefühle hegten. Und wer jetzt beim Lesen, dass österreichische Innenpolitik weltpolitisch unbedeutend war, eine kleine Ärger Wallung verspürt hat, dito.
Aufgrund der gewaltigen Ausdehnung ihrer Nation, eigentlich ein inzwischen als Nation begriffener Staatenbund, fiel es leicht, die USA mit der Welt an sich zu verwechseln. Des Frosches Horizont war bekanntlich immer und überall der Brunnenrand, und Uncle Sam´s Brunnenkranz war gewaltig. Im Osten und Westen jeweils ein Ozean, Atlantik und Pazifik. Die Menschen konnten zum Schifahren nach Colorado oder Vermont, zum Schwimmen nach Florida oder Kalifornien, an den Strand einer exotischen Inselwelt nach Hawaii, in die Karibik nach Puerto Rico, ins Ewige Eis nach Alaska, in die Wüste nach Nevada, zum Viehtrieb nach Texas und in das Reich ihrer Träume nach Disneyland oder Hollywood. Ein Flugzeug flog hier etliche Stunden in eine Himmelsrichtung, durchquerte mehrere Klima- und Zeitzonen und landete danach immer noch im Inland. Ein Mensch konnte sein Leben lang niemals sein Geburtsland verlassen haben und trotzdem zigtausende Kilometer bzw. Meilen gereist sein, um in unterschiedlichsten Gesellschaften gelebt zu haben. In einem politischen System, das eine einheitliche Währung und exklusive, nicht-metrische Maßeinheiten verwendete. Wie sollte ein Mensch unter einfachen oder mittelständischen Lebensumständen da zu der Einsicht kommen, dass es so, wie sie oder er es gewohnt ist, nicht auch auf dem ganzen Erdenrund zugeht? Nicht überall dasselbe gegessen, gedacht und gemacht wird? Es sei denn, sie oder er traten der US-Army bei und wurden im Ausland stationiert. Entgegen landläufiger Vorurteile waren es Veteranen, die überdurchschnittlich oft einen gemäßigten, weltoffenen und klimabewussten Blickwinkel vertraten. Aus alldem ergab sich ein Krähwinkel globalen Ausmaßes. Ein Planet Krähwinkel sozusagen.
Viele im globalen Dorf quäkten „Freiheit!“ und schlossen sich dem Selbstbild der USA an, weil sie aus den eingangs beschriebenen Kanälen nichts anderes kannten. Ohne zu begreifen, dass dieser Freiheitsbegriff auf den schlimmsten gemeinsamen Nenner gebracht nichts anderes bedeutete als Abbau des Sozialstaates, Zensur, Rassentrennung und Erboligarchie. Sie verwechselten quasi die Landkarte mit der Landschaft. Oder anders, sie hielten das idealisierte Selbstporträt für ein authentisches Foto.
Einem Großteil der restlichen Welt, mit und ohne Internetanschluss, waren die Ansichten der Vereinigten Staaten nach wie vor zwar völlig egal. Leider jedoch bekam der gesamte Planet die Auswirkungen ihrer Politik zu spüren.
Gerade noch so waren die USA die größte Volkswirtschaft auf der Erde. Da die US-amerikanische Bevölkerung mit rund 327 Millionen Einwohnern im Vergleich zu Europas Staaten riesig war, gab es logischerweise auch von jeder sozialen Gruppe mehr. Alleine New York City hatte genauso viele Einwohner wie die gesamte Republik Österreich oder das flächenzweitgrößte deutsche Bundesland Niedersachsen. Die Gesamtheit war in sich natürlich noch einmal mehrfach unterteilt, und wir alle wissen, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter wird. Nirgends habe ich bisher so viele hochgebildete und intelligente Frauen und Männer getroffen wie in den USA. Gleichzeitig habe ich noch nirgends so große Teile der Bevölkerung gesehen, die keinerlei Zugang zu Ausbildung, Krankenversorgung und Wohlstand hatten. Manche Stadtviertel und Industrieruinen erinnerten mich an Teile des ehemaligen Ostblocks kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, namentlich an jene Orte der ehemaligen CSSR, wo die Roma und Sinti gelebt hatten.
Infrastruktur und öffentlicher Raum verschiedener US-Bundesstaaten präsentierten sich uns vielerorts wie in so genannten Entwicklungsländern oder in „gescheiterten Staaten“. In Gemeinden der so genannten „Flyover states“ gab es sechs oder noch viel mehr Pfarrkirchen, aber kein Museum für Naturgeschichte. Und, OMG, das einzige Krankenhaus weit und breit war fest in römisch-katholischer Hand. Der Skandal und Inhalt der Empörung sollte meiner Meinung nach sein, dass außer religiösen und anderen karitativen Organisationen und Logen sich niemand für diese Menschen interessierte und sich um sie kümmerte. Und über diese fettleibigen, zahnlückigen und bibelfesten Hinterwäldler durfte dann auch noch herzhaft gelacht werden. Komisch, dass die dann Populisten wählten und einen Grant auf die liberalen Eliten in den feinen Städten entwickelten.
Angesichts solcher Zustände fragte ich mich oft, welche Länder Donald Trump eigentlich mit welcher Berechtigung im Vergleich zu seinen eigenen als „shithole country“ bezeichnete? Im eleganten Teil der Vereinigten Staaten, wo die reichsten Menschen der Welt hervorragend lebten, bekam er von alldem natürlich keinen Eindruck. Die Touristen in den Zentren der großen Städte New York City, Boston, Washington DC oder Los Angeles auch nicht.
Das alles zusammen ergab eine schiefe Optik. Jede Generalisierung war darum von vorneherein falsch. Auch, oder gerade, weil sich aus vermehrten Ereignissen und Haltungen gewisse Tendenzen und Muster ableiten ließen. Zum Ausgleich dieser Ungerechtigkeit wurden Stereotypen über den jeweils anderen zu beiden Seiten des Atlantiks gehegt und gepflegt. Die US-amerikanischen Vorurteile über Europäer sind keineswegs freundlicher. Nur hierzulande weniger bekannt. Und bekam man sie z.B. in Sitcoms zu Ohren, hielt sie jede und jeder wohlwollend für Satire und einen Scherz.
Die Transatlantische Freundschaft hatte als Überseekabel für den Datenaustausch zwischen dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland und den Vereinigten Staaten von Amerika begonnen, entwickelt und quer durch den kalten und finsteren Atlantik verlegt durch den deutschen Siemens-Konzern. Und wenn man ganz ehrlich ist, zu nichts anderem mehr oder Wärmeren hatte sich diese Verbundenheit seit 1874 weiterentwickelt. In den letzten Jahren war zudem eine deutliche Abkühlung des Gesprächsklimas zu spüren gewesen.
Für den so genannten durchschnittlichen US-Amerikaner war Europa der Kontinent der Weichlinge („sissy“), der schon sehr bald in einem moslemischen Kalifat enden wird. Oder alternativ dazu (allerdings ungleich weniger verbreitet), im Vierten Reich. Europäische Mädchen und Frauen waren für jeden Mann einfach zu haben. Und europäische Bildung und akademische Lehre wurde insgesamt als „Scheiße“ („crap“) angesehen. Was für jedermann zu gleichen Bedingungen zugänglich war, das musste Müll sein. Kurz gesagt: Die Alte Welt war dem Untergang geweiht. Gegenwart und Zukunft gehörten den USA. Und der Vergangenheit drückten sie im Nachhinein und nachhaltig ihren Stempel auf.
Alle diese Stereotypen vereinten sich in der für mich überhaupt nicht nachvollziehbaren Aufregung über die französische Fußball-Nationalmannschaft, als dieses Team 2018 in Russland den Weltmeistertitel gewann. Das Finale gegen Kroatien wurde von vielen, nicht nur von white supremacists, als Menetekel betrachtet. Skurriler Weise auch von einem kanadischen Einwanderer. Es war mir in mehreren Gesprächen nicht möglich gewesen, mein jeweiliges Gegenüber von der Tatsache zu überzeugen, dass farbige französische Nationalspieler durchaus Frankreich und nicht den Untergang des Abendlandes repräsentierten. Und das erlebte ich in einer Nation, deren Athleten in allen Sportarten jede mögliche ihrer Hautschattierungen zu Markte trugen.
Für viele deutschsprachige Menschen ist es bis dato unvorstellbar, dass noch weit mehr englischsprachigen beim Gedanken an eine politische und wirtschaftliche deutsche Hegemonie der Europäischen Union ein kalter Schauder den Rücken hinunterläuft. Für viele von ihnen sind die deutschsprachigen Überlebenden des Zweiten Weltkriegs nicht mehr und nicht weniger als die Nachkommen der Feinde von einst. Und für einige aus durchaus nachvollziehbaren Gründen. Familienmitglieder fielen oder wurden während des Holocaust ermordet. Der vielerorts geschätzte Schlussstrich und die historische Amnesie wurden jenseits des Atlantiks nicht mitgemacht. Sieger vergaßen ihre Triumphe nur höchst ungern. Ein deutscher Akzent war darum für eine große Anzahl von US-Amerikanern entweder ein rotes Tuch, oder Anlass zur Erheiterung. Natürlich niemals offen im beruflichen oder akademischen Umfeld. Dort nur privat und hinter vorgehaltener Hand.
Direkt erfahrbar wurden diese Vorbehalte für mich in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Warte- und Vorzimmer meiner Ärztinnen und Therapeuten oder unterwegs als Tourist. Der Bundesstaat Pennsylvania hatte seine deutschsprachige Vergangenheit beinahe völlig aus dem Alltagsleben entfernt oder zu randständiger touristischer Folklore gemacht. Zum Glück nur einige wenige Male wurden Juliane und ich offen ausgelacht, nachgeäfft oder sogar angepöbelt. Vielen war so ein Benehmen merklich unangenehm, da mehrheitlich großer Wert auf Höflichkeit und Respekt im Umgang gelegt wird. Die Umstehenden versuchten sofort, den Vorfall ungeschehen zu machen. Durch eisiges Ignorieren der Übeltäter und freundliches über das zuvor Gesagte Hinweg-Plaudern.
Indes, in etlichen US-amerikanischen Kino- und TV-Produktionen sprachen groteske Gestalten in der Originalfassung sehr oft mit deutschem Akzent („The Big Lebowski“, 1998). Der Effekt ging allerdings in den meisten deutschen Synchronisationen verloren, oder die verantwortlichen Studios ersetzten den charaktergebenden Akzent durch einen österreichischen Dialekt („A Bug´s Life“/ „Das große Krabbeln“, 1998 und „Zootopia“/ „Zoomania“, 2016; beide: Walt Disney Pictures). Bei anderen Figuren bzw. Antagonisten wie Mr. Freeze/ Victor Fries in dem DC-Comicfranchise Batman, wurde der deutschsprachige Hintergrund und Akzent des Charakters nachträglich gestrichen oder verschleiert. Arnold Schwarzenegger verkörperte 1997 den Bösewicht noch entsprechend auf der großen Leinwand („Batman & Robin“). Das ganze Phänomen zeigte sich zuletzt insgesamt rückläufig, wohl auch dem Umstand geschuldet, dass es sich im deutschsprachigen Raum nach wie vor um den zweitgrößten Absatzmarkt für die US-Unterhaltungsindustrie handelte.
Überhaupt haben das gesprochene und auch das gegebene Wort in den USA meiner Erfahrung nach einen völlig anderen Stellenwert als in Europa. Böse Zungen würden behaupten, keinerlei. Nichts anderes habe ich tatsächlich in jedem Reiseführer und Ratgeber über die Vereinigten Staaten gelesen, so dass ich glaube, dass es sich um eine allgemeine Erfahrung handelte. Am Service-Telefon bedeutete das Versprechen, demnächst zurückzurufen, ein bewährtes Abwimmeln unangenehmer Anrufer. Niemand wird sich je melden. Eine Einladung zum Abendessen oder zu einem Besuch ohne Terminvereinbarung war weder ein Versprechen, noch eine Absichtserklärung. Es handelte sich um eine Höflichkeitsfloskel. Groß war z.B. das Entsetzen, als eine junge Frau aus Osteuropa plötzlich wirklich bei jemandem mit ihren Koffern vor der Türe stand, um in den USA zu bleiben. Niemand hatte sie tatsächlich eingeladen oder ehrlich zum Einwandern ermutigt. Insgesamt festigte sich unser Eindruck, dass es entgegen US-amerikanischer Gewohnheit war, ein Anliegen abzulehnen, einer Bitte zu widersprechen und Unwillen oder gar Unvermögen offen anzusprechen. Eine Bitte wurde angenommen oder eine Zusage gegeben, selbst falls eine Umsetzung nicht möglich oder gewünscht war. Anders gesagt, alles Vorgebrachte wurde von vornherein bejaht. Entweder um sein Gesicht zu wahren, oder um gute Stimmung zu machen. Oder beides. Hakte jemand nach, konnte sich niemand mehr erinnern. Und mehrmals war es uns passiert, dass eine Verabredung erst am Treffpunkt und auf Nachfrage via Mobiltelefon abgesagt wurde, sogar bereits im Konzertsaal an den reservierten Plätzen.
Julianes und meine baldige Abreise provozierte großes Bedauern. Auch über den Umstand, mich nicht besser kennengelernt zu haben. In zwei Jahren war auch wirklich kaum Zeit dazu gewesen. Andere wieder äußerten tiefe Traurigkeit darüber, wie sehr sie uns vermissen werden. Was mich mehr als verwunderte, da ich kaum oder gar keinen Kontakt mit diesen Menschen hatte.
Polinnen und Polen haben angeblich bis vor kurzem noch zu bedeutungslosem Geschwätz, leeren Versprechen und Dampfplauderei „österreichisch geredet“ gesagt. Ich würde heute für eine Änderung der Wendung in „amerikanisch geredet“ plädieren.
Auch die Politik funktionierte mehr und mehr nach dem „sola figura“-Prinzip. Das Erscheinungsbild des Redners und der Unterhaltungsgrad seiner Worte ersetzten den Inhalt. Sympathiewerte bestimmten den Grad der Glaubwürdigkeit. Nach welchen Kriterien Sympathie, Glauben und Zuneigung verteilt wurden, war und ist mir allerdings schleierhaft. Flüchtlinge, Arme und Behinderte wurden als leistungsscheu und privilegiert angefeindet, wogegen Personen, die tagein und tagaus Fotos von sich beim Golfen, Schminken und Sonnenbaden am Pool posteten, zigtausende Follower in den Sozialen Medien um sich scharten. Und Kunstformen, die laut und deutlich Sexismus, Habgier und Gewalt verherrlichten, zum Mainstream verklärt wurden.
So gewann ich den Eindruck, dass weniger bedeutsam war, was jemand sagte, sondern wer etwas sagte. Größere Bedeutung als dem klar und vernehmlich ausgesprochenen Wort wurde Abstammung und Geschlecht der Autoren zugemessen. In der öffentlichen Diskussion stand eher im Vordergrund, ob z.B. ein weißer alter Mann oder eine junge farbige Frau ein Thema aus- bzw. angesprochen hatte. Wie vieles war auch das nicht so einfach wie es sich zunächst darstellte. Aber allzu leicht konnte auch dieses Problemfeld von den üblichen Verdächtigen vereinfacht und instrumentalisiert werden. Für die Republikaner waren die antisemitischen Aussagen der demokratischen Politikerin und Abgeordneten im Repräsentantenhaus Ilhan Abdullahi Omar (MN) ein willkommener Anlass. Besonders vor dem Hintergrund der eigenen Skandale, z.B. um den Senator Tommy Norment (VA) und das rassistische „black facing“.
Die ganze Sache gestaltete sich besonders schwierig, sobald es parteiintern unter Demokraten zu ganz ähnlichen Reibereien kam, sobald es um mögliche Präsidentschaftskandidaten für die Wahl 2020 gegen Donald Trump ging. Angesichts dieses „divide et impera“ kann der amtierende US-Präsident leicht auf die Kandidatur von Joe Biden antworten, dass dieser eine größere Gefahr für sich selbst als für ihn darstellt: „Welcome to the race Sleepy Joe. I only hope you have the intelligence, long in doubt, to wage a successful primary campaign. It will be nasty - you will be dealing with people who truly have some very sick & demented ideas. But if you make it, I will see you at the Starting Gate!” [5:22 AM - 25 Apr 2019, @realDonaldTrump]
Auf die Frage, was ich selbst am meisten von New Haven vermissen werde, musste ich wahrheitsgemäß antworten, dass es die Musik sein wird. Die zahlreichen Freundschaften und tiefgründigen Gespräche werden es nicht sein. Die wahrhaft geschlossenen Beziehungen konnte ich an einer Hand abzählen. Nichtsdestotrotz konnte ich auch diese Erfahrung machen. Ich habe durchaus auch Menschen getroffen, deren Ja ein Ja und deren Nein ein Nein gewesen war. Aber Hatty, meine Krankenschwester, versicherte mir, dass diese geringe Anzahl auch für ein ganzes Leben in Connecticut ein guter Schnitt wäre und nicht nur für zwei Jahre. Bis auf ein paar wenige, führte ich die längsten und offensten Gespräche mit Menschen, die dafür bezahlt wurden (entweder von mir oder meiner Krankenversicherung). Also, mit Ärzten und Therapeuten. Viele Menschen, denen ich in Yale und an anderen Unis begegnete, beschränkten sich darauf, abzuchecken, welche Rolle ich in ihrer Karriere einnehmen konnte, oder halt nicht. Und beim Versuch, nichts zu äußern, was nicht von der Mehrheit akzeptiert und geteilt wurde, oder was sie dachten, das ich nicht hören wollte bzw. sollte, sagten sie gar nichts von Belang. Oder wirklich nichts.
Bevor ein Gedanke in Gesellschaft geäußert wurde, der keine breite Akzeptanz versprach oder sonst von niemanden geteilt wurde und darum zum Bumerang werden konnte, wurde er verschwiegen. Das ließ so manche Europäerin die erwartete intellektuelle Neugier vermissen. Es hinterließ bei sozialem Kontakt sehr oft dasselbe Gefühl wie ein Familienessen, dessen Teilnehmer ein Leben lang nichts Persönliches von sich preisgegeben hatten und somit keiner irgendwem etwas zu sagen hatte. Im Leben der Anderen spielte keiner der Anwesenden eine Rolle. Die alten Anekdoten waren sattsam bekannt, neue Gemeinsamkeiten kamen nicht dazu. Der Rest war betretenes Schweigen. Sogar Konversationsratgeber – ich hatte einen erworben und gelesen, um in Zukunft Fehler auf Partys, bei Besuchen und Empfängen zu vermeiden –, rieten, sich nur dort aufzuhalten, wo gelacht wurde und die Sonne schien. Das bedeutete, Sonderlinge und Langweiler im Schatten ihrer trüben Wolke stehenzulassen. Es sei denn, es handelte sich bei ihnen um Vorgesetzte und potentielle Unterstützer, dann konnte das eisige Ausgrenzen rasch in speichelleckerischen Konformismus umkippen. In Zeiten jeder möglichen politischen und religiösen Radikalisierung und feuerbewaffneter Amokläufe beurteilte ich solches Verhalten als keine zukunftsreiche Strategie.
Umgekehrt, die schönen und angenehmen Erlebnisse sollte jede und jeder mit seinem engsten Freundeskreis verbringen. Wo dieser angetroffen werden sollte, wo niemand irgendwo irgendetwas von sich preisgab, ist mir bis dato ein Rätsel. Erschwerend hinzu kam, dass sogar Frauen und Männer, die ihr Leben dem Lesen zwischen den Zeilen der Literatur und dem Deuten der Nuancen der Philosophie gewidmet hatten, jedes Buch ohne zu Zögern nach dem Einband beurteilten. Das heißt, alle Menschen nach ihrem oberflächlichen Erscheinen bewerteten und etikettierten. Getreu dem Grundsatz: Bist du Freund oder Feind?
Wen wunderte es also, dass meine Therapeutin jeden Stundenschlag ihres Arbeitstags eine oder einen Yalie auf der Couch liegen bzw. im Polstersessel sitzen hatte. Auch die allerjüngsten, ihre Töchter und Söhne im Vorschulalter. Alle litten unter Erfolgsdruck, Konkurrenz und am allerschlimmsten unter Einsamkeit. Von den im Abwasser aufgelösten Antidepressiva schwebten die örtlichen Kanalratten gewiss auf Wolke sieben. Um vom Cannabis high zu werden, reichte an manchen Tagen das tiefe einatmen vor geöffneten Fenstern von Wohnungen aber vor allem von geparkten Autos.
Nach einer Verallgemeinerung über die von Populisten angefeindete so genannte liberale Elite der USA gefragt, würde ich antworten, dass sie just den Fehler begangen hat, vor dem bereits Voltaire vor mehreren hundert Jahren eindringlich gewarnt hatte. Der französische Philosoph der Aufklärung war überzeugt, dass es keinen Gott gab, dass man dieses Wissen aber niemals seinem Diener mitteilen dürfe, weil einen dieser sonst im Schlaf erwürgen würde. Anders gesagt, all die Eiferer, die in aller Bequemlichkeit ihrer Herkunft über die soziale Revolution und Dekonstruktion aller Werte faselten, übersahen, dass sie selbst in den Augen einer wachsenden Mehrheit die Privilegierten waren, von denen sie den „einfachen Mann“ befreien wollten. Welche Hochnäsigkeit. Und zugleich, welche Gefahr, trug diese offen zur Schau gestellte Haltung doch maßgeblich dazu bei, die Schwellenangst abzutragen, die jahrhundertelang ihren elitären Status geschützt und erhalten hatte.
Was genau meine ich damit? Gab es keinerlei Legitimation für Hierarchie und Regierung mehr außer Gewalt und Geld, nach welchen Maßstäben sollte sich eine Gesellschaft in Zukunft organisieren? Wonach sollten die Unterdrückten streben? Zugang zu Bildung und zu sozialem Aufstieg hatten sie nicht. Wovon gingen also die Münder der Populärkultur über (vor allem in der Hip hop music), womit waren die Herzen voll? Mit Geld, Sexismus und Gewalt. Und wessen Schuld war das? Meiner Meinung nach war es die Verantwortung jener, die bisher alle anderen, auch die jahrhundertelang kulturell gewachsenen Inhalte entwertet hatten. Gleichzeitig aber durch sie angenehm gelebt hatten. Jedwede Glaubwürdigkeit ging somit verloren. Und mit ihr der Glaube an die Zukunft.
Dieser düstere Ausblick bildete jedoch nicht mein Fazit. Das lautete bei aller Kritik zum Glück anders und weit positiver. Und ich bin dabei nach wie vor meiner Herkunft und Erziehung verpflichtet:
Ich bin überzeugt, dass wenn es zukünftigen Generationen gelingen könnte, alle Vorteile und Errungenschaften von beiden Seiten des Atlantiks zu einer Gesellschaftsform zu vereinen – Demokratie, Wohlstand, Sozialstaat, Medizin und Wissenschaft –, dann wäre diese Gemeinschaft zwar immer noch nicht der Himmel auf Erden, aber ein glücklicherer Ort für alle.

E pluribus unum!