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Montag, 16. Oktober 2017

Arrogance and Stupidity – Ein wütender Kommentar zum Wahlergebnis

Dummheit hält sich für Intelligenz, Intelligenz hinterfragt stets die eigene Dummheit. Die Dummheit sucht den Fehler immer bei den Anderen, die Intelligenz immer bei sich selbst. So ungefähr hat es M. Tullius Cicero zu seiner Zeit auf den Punkt gebracht. Am Ende der römischen Republik, in der Morgensonne des Populismus und am Beginn der Diktatur. Er war zu seiner Zeit auch ein bescheidenes Gemüse (Cicero=Kichererbse), das Wahlerfolge errungen hatte und im Senat als politische Kontrollinstanz gegen Korruption und Machtmissbrauch gewirkt hat. Dieses Mal, am 15. Oktober 2017 in Österreich, war es allen Vorzeichen zum Trotz und allen bisherigen Hochrechnungen nach keine grüne Erbse, aber ein kleiner Pilz, der Wurzeln schlagen durfte.
Meiner Meinung nach ist es falsch, angesichts dieses Wahlergebnisses weiter von einem geteilten Land zu sprechen. Ich denke, das Ergebnis spricht für sich, und eine überwältigende Mehrheit hat sich für einen so genannten Rechtsruck entschieden und gegen so genannte linke Ideen. Im nächsten Nationalrat werden also nach aktuellem Stand eine konservative, eine heimat-soziale, eine wirtschaftsliberale Partei und eine junge Bewegung, geführt von einem erfahrenen Politiker, vertreten sein. Und eine Sozialdemokratie, von der eigentlich niemand mehr so wirklich weiß, vor allem nach einem Hrn. Schröder und einem Hrn. Hartz, auf welcher politischen Hemisphäre sie eigentlich steht. Die Sozialdemokratie wirkt wie der Markuslöwe (das Wappen der alten Republik Venedig), wie ein Mischwesen mit Klauen und Flügeln, das mit den Vorderpfoten auf dem Land und den Hinterfüßen auf dem Wasser steht. Dieses Tier läuft, fliegt und schwimmt überall und nirgends zugleich. Und es bleibt die Frage: „Sag, was bist Du eigentlich und was willst Du überhaupt?“ Im blendenden Licht der politischen Heilsbringer und parlamentarischen Vernunftehen scheint die Zeit für Fabelwesen endgültig vergangen.
Sieben Jahre später ist eine Situation eingetreten, die Gerd Schilddorfer und ich in unserem Bestseller NARR vorhergesagt haben (genrespezifisch überspitzt und dramatisiert), und ein junger fescher Minister hat alle anderen politischen Mitbewerber rechts überholt. Damals wurden wir von einigen belächelt, heute steht es weltweit in den Schlagzeilen. In einem anderen Buch von mir, das wohl niemals erscheinen wird, habe ich den Kater sogar noch konkreter vorhergesagt, der heute, am Morgen nach der Wahl, in meinem und in bestimmt vielen anderen Köpfen jammert:
„Die Schlange im Gras ist die Gefahr der individuellen Radikalisierung durch das Aufhalten in so genannten Filterblasen oder Echokammern. Mit dem Begriff Echokammer beschreiben Kommunikationswissenschaftler das Phänomen, dass viele Menschen in den sozialen Netzwerken dazu neigen, sich nur noch mit Gleichgesinnten zu umgeben, um sich gegenseitig in der eigenen Position zu bestärken. So entsteht eine fatale Dynamik. Wer den Konsens der Gruppe mit Inhalten und Kommentaren am besten trifft, wird ‚geteilt‘ und ‚gelikt‘ und bekommt reichlich Freundschaftsanfragen und Follower. Die Echokammer wächst und bläht sich zu dem Irrtum auf, sie repräsentiere keine gesellschaftliche Minderheit, sondern die demokratische Mehrheit. Es ist unwichtig, ob die Menschen außerhalb politische und gesellschaftliche Positionen teilen oder nicht. In der Echokammer ist man immer in der Mehrheit und automatisch auf der moralisch richtigen Seite. (…) Social Media jeder Art befördern diese Entwicklung. Indem sie mittels der aus freiwillig geteilten Informationen gewonnenen Algorithmen dafür sorgen, dass ich nur noch oder vorrangig Inhalte von meinem Browser angezeigt bekomme, die von Gleichgesinnten stammen oder von ihnen ‚gelikt‘ wurden. Informatiker nennen diesen Vorgang: Filterblase. Die Algorithmen-gestützte Filterblase sorgt dafür, dass ich nur noch mit Webinhalten und Content konfrontiert werde, die mein Weltbild stützen. Während andere, meinem Weltbild zuwiderlaufende Informationen herausgefiltert werden. So wird um den Nutzer sozialer Netzwerke ein bequemer Informationskokon gesponnen, in dem er als einzelnes Würmchen lebt, und den er für die Welt hält. Wie jede Münze hat auch diese Medaille zwei Seiten: Wohlbehütet kann ich in meiner eigenen Filterblase übersehen, wie aus der von mir belächelten Minderheit ganz unbemerkt die Mehrheit geworden ist. Meine Algorithmen lullen mich in Wohlgefallen ein, wiegen mich in Sicherheit. Und das Diskussionsforum meiner Wahl täuscht mich darüber hinweg. Und Eins, Zwei, Drei schreiten die von Volksvertretern und ‚Lügenpresse‘ Enttäuschten am zahlreichsten zu den Wahlurnen. Das wäre ein böses Erwachen am Morgen nach der Wahl. Aber wäre es Demokratie? Ob es mir in der aktuellen politischen Situation weltanschaulich schmeckt oder nicht, antwortet Jean-Jacques Rousseau in seinem Werk Der Gesellschaftsvertrag von 1762:
‚Übrigens darf ein Volk immer, worum es auch im einzelnen (!) gehen mag, seine Gesetze ändern, sogar die guten: Wer hätte das Recht, es daran zu hindern, wenn es sich nun einmal unbedingt schaden will?‘ [S. 70]“
Kurz gesagt: Das Aufhalten in einer Echokammer bewirkt Weltfremdheit. In dieser Weltfremdheit geborgen, trifft einem das gestrige Wahlergebnis wie eine Faust ins Gesicht. Und leider wurden auch schon die ersten tatsächlich angegriffen, auf Buchmessen und bei Wahlveranstaltungen.
Die Schuld an diesem Wahlergebnis nur bei den Anderen zu suchen ist dumm. Die Andersdenkenden als die Dummen zu betrachten ist arrogant. Und Dummheit und Arroganz sind eine gefährliche Mischung.
Viel zu viele selbsterklärte Linke haben bewiesen, dass sie von zu vielem zu wenig Ahnung haben, aber zu allem die „richtige“ Meinung. (Eine Eigenschaft, die sie mit vielen Rechten gemeinsam haben!) Das wiederum hat die Mehrheit der Menschen m.M.n. zu Recht als Beleidigung empfunden. Als disrespect wie der US-Amerikaner sagt. Persönliche Erfahrungsberichte wurden belächelt, vorweg abgelehnt, oder als „unpassend“ bezeichnet, weil sie nicht in die gewohnte Bestätigungsspirale gepasst haben. Berichte wurden als unwahrscheinlich abgetan, weil sie in der eigenen Lebensrealität keine Rolle spielten, daher auch keine Bedeutung hatten. Und bei all dem wurde übersehen, dass die eigene Lebensrealität, die einer privilegierten Minderheit ist. Privilegiert, weil sie die Möglichkeit beinhaltet, frei von Existenzängsten über Inhalte nachzudenken. Und nicht frei, aufgrund von Wohlstand, sondern aufgrund von Bildung. Aber leider ist Bildung nicht mit Wissen gleichzusetzen.
Im Elfenbeinturm der eigenen moralischen Überlegenheit haben leider viele aufgehört, ihren Mitmenschen zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Kanon und Mehrstimmigkeit werden zunehmend als Misstöne empfunden, der Wunsch nach einem Leitmotiv wächst. Der Grundton, den die Stimmgabeln der Populisten anschlagen, ist klar: Die Europäische Union läuft Gefahr, in den Abgrund zu schlittern. Das größte Friedenswerk der europäischen Geschichte droht, an den Folgen einer für viele Systemkritiker aus Habgier entstandenen und für Ökonomen mit Gewissen vorhersehbar gewesenen Wirtschaftskrise zu zerschellen und von Flüchtlingsströmen fortgespült zu werden. Zäune und Grenzkontrollen nehmen der Freiheit die Luft zum Atmen. Überwunden geglaubte Ressentiments, Chauvinismus und banaler Futterneid bringen die gefährlichste Seuche des neunzehnten Jahrhunderts zurück, den Nationalismus. Wobei man nicht vergessen darf, was Sozialanthropologe David N. Gellner festgestellt hat: „Nationen entstehen ja nicht von allein, sondern werden erst durch Staaten und Nationalisten geschaffen.“ So genannte nationalkonservative Parteien erobern Raum, die fixe Idee Nation ist wieder salonfähig. Vergessen scheint, dass die Pandemie Nationalismus im Zuge ihres gewalttätigen Ausbruchs im zwanzigsten Jahrhundert in nur zehn Jahren (1914-18 und 1939-45) rund 95 Millionen Tote gefordert hat.
Politikverdrossenheit und Ohnmachtsgefühle bewirken bei vielen Mitmenschen einen Rückzug in die eigenen vier Wände (räumlich und geistig) und eine Realitätsflucht in fantastische Welten. Ist der eigene Planet alleine ökologisch nicht mehr in der Lage, die Menschheit zu ernähren und zu tragen, sucht und erschafft man sich halt neue. Und wenn sie auch nur als Bits und Bytes oder im Kopf existieren. Die Suche nach einfachen Antworten auf immer komplexer werdende Fragestellungen hat Hochkonjunktur. Orthodoxie und Dogmatik bieten sich als Lösung an, die Befolgung strenger Regeln und Glaubensätze bieten Sicherheit. Sei dies nun in Religion, Esoterik, Lifestyle und/oder Technologie- und Fortschrittsgläubigkeit. Sie alle sind bloß Facetten eines einzigen Schliffs. Konformität in Erscheinungsbild und Sitte wird wieder zum gesellschaftlichen Wert. Die vierte industrielle Revolution bedroht das gesellschaftliche und soziale Gleichgewicht. Arm und Reich driften zusehends auseinander. Migration trägt ihren Teil zum sozialen Unfrieden bei. Die wirtschaftliche Abhängigkeit, die Angst, Job und Anstellung zu verlieren, fördert eine Entwicklung, die als massiver und bedenklicher Rückfall in im Verlauf der letzten Jahrzehnte überwunden geglaubte Rollen- und Geschlechterklischees bezeichnet werden kann.
Viele Linke haben ihren Mitmenschen einfach nicht zugehört. Und als ich heute (am 16.10.2017) Terizija Stoisits im Mittagsjournal auf Ö1 zugehört habe, habe ich sie, als Antwort auf jede Frage des Interviewers nach den Gründen für das Scheitern der Grünen, Gebetsmühlenartig wiederholen gehört, „dass sie es sich einfach nicht vorstellen kann!“ Und egal, welche Worte auf diese Einleitung folgten, die eigentliche Beantwortung war bereits diese Realitätsverweigerung. Den größten Fehler sah sie darin, Peter Pilz nicht angegriffen zu haben. Falsch, der größte Fehler der Grünen in diesem Wahlkampf ist es gewesen, Julian Schmid anstelle von Peter Pilz auf Listenplatz Vier zu wählen. Wie auch das Wahlergebnis anschaulich macht, empfindet es nur eine verschwindende Minderheit als cool, im Kapuzenpullover vor den Nationalrat zu treten. Die Mehrheit, auch ich, empfindet es als Besudelung des Hohen Hauses und der Republik. Es schüttelt mich vor Ekel, wenn Themen und Grundfesten der Demokratie mit einer vulgären Imitation von Kabaretthumor angegangen werden. Wozu ich Michael Häupl zitieren möchte: „Wenn wir uns selbst nicht ernst nehmen, wer bitte soll uns dann noch ernst nehmen?“ Oder diese Republik?
In der Sozialdemokratie erscheint mir der Wiener Bürgermeister wie der letzte Mohikaner. Und er möge mir den flapsigen Vergleich vergeben. Für mich ist er der letzte Krieger eines einst edlen Stammes. Wo bitte, frage ich, existiert die „moderne und offene Gesellschaft“ real, die Christian Kern in seiner letzten Rede an- bzw. versprochen hat. Auf internationalen Konferenzen jedenfalls nicht. Dort behandeln Exilanten die international als österreichisch empfundenen Themen. Die Akademie der Wissenschaften bleibt auch im Ausland lieber unter sich, das internationale Feigenblatt stammt meistens ganz exotisch aus Deutschland. Das zuständige Bundesministerium nimmt jede Menge Geld in die Hand und drückt jedem und jeder KonferenzteilnehmerIn eine bunte Einladung in die Hand, aber wenn ich dann auf den Empfang gehe, dann redet niemand mit mir. Den Krüppel kann man ja in seinem Sessel hocken lassen. Aber nicht nur mit mir hat man nicht geredet. Liebe Landsleute, wenn man sich die Nachbarskinder zum Spielen einlädt, dann muss man ihnen auch die Hand geben und mit ihnen reden. Und während alle Internationalen (US-Amerikaner, Briten, Deutsche, Schweizer, etc…) Englisch sprechen, oder Hochdeutsch, damit sich auch wirklich jeder gegenseitig versteht, dann reden die ÖsterreicherInnen sozialdemokratischer Prägung breitesten Dialekt. Und wenn sie bemerken, dass da einer kommt, der sich ein bisschen anders anzieht und nicht an die Schöpfung Österreichs aus dem Nichts im 45iger-Jahr glaubt, dann erstarren sie und stecken die Köpfe zusammen. Ist das ihre „offene und moderne Gesellschaft“, Herr Kern? Es ist auf alle Fälle ihre (versorgte) Gefolgschaft.

Ich bedaure es zutiefst, dass die kleinen Oppositionsparteien so wenig Stimmen bekommen haben. Wenn alle, die vorab auf wahlkabine.at die meisten Übereinstimmungen mit der KPÖ gehabt hatten, diese auch guten Gewissens hätten wählen können, dann sähe die Welt für die Zweite Republik heute anders aus.

Sonntag, 15. Oktober 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 17)

Teil 17: Down in Dixie


Ich weiß wirklich nicht, warum Juliane und ich nicht einmal einfach irgendwo hinfahren können, ohne dass uns dabei die seltsamsten Dinge widerfahren. Diesmal habe ich die Gattin auf die GSA nach Atlanta, Georgia begleitet, und es war wieder einmal so weit. Inzwischen frage ich mich wirklich, welcher alte Chinese mich „zu einem interessanten Leben“ verflucht hat. Eigentlich bin ich ihr oder ihm dankbar. Was wusste ich bisher denn schon über Atlanta? Dass es im Bürgerkrieg komplett abgebrannt ist, und dass Coca Cola von da stammt.
Losgegangen ist es in aller Herrgottsfrühe am Tag unserer Abreise. Normalerweise kamen die bestellten Taxis verlässlich eine halbe Stunde zu spät. Nein, als der Morgen graute, und die Vögel in den Bäumen husteten, kam das Flughafentaxi zwanzig Minuten zu früh. Netterweise kündigte man sich per Textnachricht an, und wir waren beide schon gekämmt und bekleidet. Trotzdem erfolgte unser Aufbruch zum Hartford Bradley Airport (aka Hartford Springfield, ohne Spaß) etwas überstürzt, aber nicht kopflos. Es wäre auch niemandem geholfen gewesen, hätten wir ein Gepäckstück vergessen. Im schlimmsten Fall den Vortrag (Na Servus!). Oder ich wäre die Treppe auf die Frontveranda hinuntergekugelt. Nichts davon ist geschehen. Dafür anderes, aber davon wussten wir noch nichts.
Ich bin zum ersten Mal mit einem MacDonnell Douglas-Flugzeug geflogen, jedenfalls bewusst. Es war ein kurzer und entspannter Inlandsflug von zweieinhalb Stunden, von Wien aus wären wir wohl schon mindestens in Spanien gewesen. Gemessen an den Kolleginnen und anderen Konferenzteilnehmern, die Juliane am Gate getroffen hat, hätte man an einen Charterflug zur GSA denken können. Und mit der eher kleinen Maschine waren wir alle nicht nur dabei, sondern auch mittendrin im physikalischen Geschehen. Mir hat das ja gefallen, aber Juliane wurde beim Starten und Landen ein klein wenig blass um die Nase. Sie bevorzugt die wuchtigen Transatlantikflieger. Mehr Power! Ich bin dafür immer wieder überrascht, welche Überseekoffer manche Leutchen als Handgepäck mitführen. Die praktische Einbauküche im Rollkoffer, oder was? Wie dem auch sei, Ankunft in Atlanta. Alles planmäßig, und das Wetter erwartungsgemäß sonnig und heiter. Für meine europäischen Begriffe, sommerlich. 26 bis 28 Grad Celsius. Und unglaublich feucht. O ja, das war er, der Süden der USA, wie ich ihn aus meinen Jugendträumen kannte. Rein optisch hatte Atlanta, Georgia nichts mehr mit dem Klischee gemein. Atlanta ist der Heimathafen von Delta Airlines, und Atlanta ist wie schon im neunzehnten Jahrhundert ein Dreh- und Angelpunkt des Verkehrs. Wie die Narbe eines Rades, von dem die Speichen in alle Richtungen abgehen. Früher waren es die Eisenbahnlinien, heute sind es die Flugrouten. Den Eisenbahnknotenpunkt hatten General Sherman und die Unionsarmee abgefackelt, aber der heutige Flughafen ist gigantisch. Hartsfield–Jackson Atlanta International Airport hat zwei Terminals (Inland und International), sieben Abflughallen und beschäftigt rund 70.000 Menschen. Um zum Gepäckband zu gelangen, mussten wir einen Zug nehmen. Zum Glück wurde ich im Rollstuhl gefahren. Andernfalls würde ich dort wahrscheinlich immer noch herumirren.
Von dem Atlanta meiner Träume war nichts mehr übrig. Ich wusste, dass es in Rauch aufgegangen war. Die Stadt, die uns empfing, hatte nichts mehr mit dem historischen Zentrum zu tun. Vom Highway landeten wir direkt in Downtown an. Im Schatten der für die US-amerikanischen Innenstädte typischen Hotelschluchten. Wir waren nur eine Parallelstraße vom eigentlichen Stadtzentrum entfernt, unser Motel 6 lag auf derselben Straße wie das Hilton, das Marriott und das Sheraton, wo die GSA stattfand, aber es fühlte sich wieder einmal nicht so an. Die ersten vom Straßenniveau einsehbaren Stockwerke der benachbarten Häuser waren allesamt Parkgaragen. Der Asphalt der Gehsteige war beulig und brüchig. Pionierpflanzen sprießten aus Sprüngen und Fundamenten. Zwischen den öffentlichen Kunstwerken schliefen die Obdachlosen. Oder sie irrten zwischen den Hotels, den Parkplätzen und Autovermietungen herum. Die Anrainer scherten sich so wenig um sie, dass sie nicht einmal vertrieben wurden. Da telefonierte ein Yuppie vor dem Hilton, keine zwei Meter daneben vertickten fragwürdige Gestalten noch weit fragwürdigere Substanzen. Und ein aufpolierter SUV reihte sich an den nächsten in der Auffahrt zum Valet-Parking. Eine gewaltige Laufbahn auf Stelzen verband die Parkgarage mit dem Peachtree Center in der Parallelstraße, um jeden ungewollten Kontakt mit dem öffentlichen Raum zu vermeiden. Und daran schloss sich eine weitere Beobachtung an: Ich weiß, Uber ist cool. Aber die meisten, vor allem Weiße, benutzen den spottbilligen Fahrtendienst, um den öffentlichen Nahverkehr zu vermeiden. Öffentliche Verkehrsmittel sind für Farbige und Latinos. Für diejenigen, die die schöne Welt mit Aircondition am Laufen halten. Genau wie vor 150 Jahren.
Nachdem sich Juliane im Sheraton für die GSA registriert hatte, sind wir ins Hard Rock Café gegangen. Das war schon eine feine Sache, zwischen all den Reliquien internationaler Musikgrößen seinen Cheeseburger und ein Bier zu genießen. Und ich habe gelernt, dass die Hard Rock Cafés inzwischen den US-amerikanischen Natives gehören, nämlich dem Seminole Tribe of Florida. Nach dem Essen gingen Juliane und ich getrennte Wege. Juliane hatte ihren ersten Termin. Tatsächlich sind in Downtown Atlanta vergleichsweise viele Menschen zu Fuß unterwegs. Das verleiht der Stadt ein sicheres Gefühl. Aber sobald die Passanten verebben, machte sich in mir ein seltsames Aufpassen breit. Eine Alarmbereitschaft, die ich vom nächtlichen Nachhause Gehen in Wien Favoriten nur allzu gut kenne. Als Behinderter am Stock wäre ich auch leichte Beute. Und wirklich, als ich alleine ins Motel gegangen bin, hat mich auch schon einer von den homeless people angequatscht. Ich wollte mich nicht wie ein Arschloch aufführen, aber der benahm sich genau wie aus dem Lehrbuch des kriminalpolizeilichen Dienstes: Überfreundlich, und er wollte gleich Händeschütteln und Umarmen. Nein, mein Freund, das zieht bei mir nicht. Zum Glück war ich nur ein paar Schritte vom Grundstück unseres Motels entfernt. Es mag brutal klingen, aber wenn man Menschen zwingt, unter solch menschenunwürdigen Umständen zu leben, verhalten sie sich eben irgendwann wie Raubtiere.
Während Juliane und ich dann im Bett in unserem Motelzimmer lagen, fiel die Aircondition aus. Und nicht nur die, das ganze Haus war ohne Strom. Ein Auto war in den Pfosten mit der Strom- und Telefonleitung gekracht. Ich hörte die Telefonate des Rezeptionisten mit aufgeregten Hotelgästen und den Stadtwerken. Der Strom konnte in ein paar Stunden wiederhergestellt werden, aber das WLAN war für ein bis zwei Tage beim Teufel. Auf dem Parkplatz vor dem Motel gingen die Lichter in den abgestellten Autos an. Juliane war nicht die einzige GSA-Teilnehmerin im Haus. Und viele mussten noch ihre Texte für die Arbeitsgruppen überarbeiten oder lesen.
Am nächsten Tag die freudige Nachricht: Der dritte Hurrikan in kürzester Zeit machte sich bereit, auf das Festland der USA zu treffen. Nate steuerte direkt auf Atlanta zu. Aber es war eh völlig wurscht, wo Juliane und ich gerade waren, würde Nate nämlich seinen Kurs halten, traf er auch Boston. Nates eintreffen wurde von CNN auf Sonntagnachmittag vorhergesagt. Und die mussten es wissen, die haben ihre Zentrale in Atlanta. Und sie hatten völlig Recht. Sonntagnachmittags war Nate bei uns. Als Tropensturm und absolut mieser Laune. Es hat geschüttet, die Wolken hingen tief und es war stockdunkel draußen. Juliane musste durch knöcheltiefes Wasser ins Sheraton auf die Konferenz und wieder zurück. Am Abend in der Lobby reihten sich Essenslieferant an Essenslieferant, weil niemand von den Gästen das Haus verlassen wollte. Die armen Zusteller. Aber die Pizza schmeckte mir großartig. Überhaupt war Atlanta kulinarisch der Bringer. Abends zuvor aßen wir mit einem Freund im Ponce City Market, und abends zuvor mit einer Kollegin von Juliane im Trader Vic´s, einem coolen hawaiianischen Restaurant, das es immerhin seit 42 Jahren gibt.
Nate hatte uns einen ganzen Tag Sightseeing gekostet. Aber weil wir beim Flugbuchen am und pm verwechselt hatten, ging unser Flug nachhause nicht mittags, sondern quasi mitten in der Nacht. Was uns erst geärgert hatte, war jetzt ein Glück. Ich wollte zwei Dinge in Atlanta unbedingt sehen: Das Martin Luther King Memorial und das Margret Mitchell House. Für mich heute die zwei Seiten einer Münze, nämlich des alten Südens. Es hat zwar immer noch geregnet. Und das Besucherzentrum im Martin Luther King Memorial hatte geschlossen, so dass Juliane unser Gepäck mitschleppen musste. Das war ärgerlich und für sie sehr anstrengend, weil wir uns natürlich die Ebenezer Baptist Church, das historische Feuerwehrhaus und das Haus der Kings ansehen wollten. Wir haben alle drei geschafft. Für mich etwas irritierend, weil mensch liebt ja das Klischee: Das Martin Luther King Memorial gehört zu den Nationalparks. Ergo dessen sind die Mehrheit der Angestellten Ranger. Und Weiße, noch dazu in Uniform. Das kam ordentlich schräg bei mir an. Was mich geärgert und Juliane gekränkt hat war, das einige der schwarzen Angestellten unglaublich unfreundlich zu Juliane gewesen sind. Und immer nur dann, wenn ich nicht in der Nähe gewesen bin. War es, weil sie weiß und blond war und mit deutschem Akzent sprach? Ich weiß es nicht. Denkbar wäre es. Mich hat auf der Suche nach einem Restaurant, um die Wartezeit bis zur Führung im Geburtshaus zu überbrücken, ein Obdachloser gefragt, ob er mir seine „Bälle“ zeigen soll. Nein, danke, das Angebot habe ich höflich ignoriert. Die Gegend rund um die historischen Stätten sah überhaupt aus, dass wir uns zunächst gefragt haben, wo zum Teufel sind wir da bloß gelandet? Die Graffitis internationaler Street Art-Größen (unter anderem der gebürtige Steirer Nychos) an den Feuerwänden verrieten aber, dass das Viertel hipp sein musste. Auch die überaus netten vollbärtigen und tätowierten Jungs, die uns unseren Lunch machten und servierten, sprachen dafür. Ich komme mit den sozialen Widersprüchen in diesem Land nur schwer klar.
Die Führung im Geburtshaus hat ein blinder weißer Ranger gemacht. Und seine Performance war in jeder Hinsicht bemerkenswert. Zum einen hat er mit schauspielerischer Grandezza jedem Mitglied der Familie King eine eigene Stimme gegeben und damit dem Ort Leben eingehaucht, zum anderen hat er es geschafft, den Spirit der Bewegung zu vermitteln und Äußerlichkeiten und Unterschiede vergessen zu machen. Auf jeden Fall für den Moment, und hoffentlich auch langfristiger.
Im Martin Luther King Memorial habe ich zum ersten Mal die Worte von Martin Luther King junior (1929-1968) wirklich vernommen. Ich habe selten so eine Kraft und Klarheit gespürt. Ich habe schon Biographien von Menschen gehört, die überzeugte Atheisten geworden sind, weil sie als Jugendliche eine schlechte Predigt von einem (alten) Trottel gehört haben. Hier, in der Ebenezer Baptist Church, hat ein Mann gepredigt, der mit seinem Mut die USA verändert hat. Und mit seinen Worten aus Mitläufern Bürgerrechtler gemacht hat.
Und um das Kontrastprogramm voll zu machen, im Margaret Mitchell House geleitete uns eine souveräne und gebildete alte Afroamerikanerin durch das Leben und das Apartment der Autorin von „Vom Winde verweht“. Nach dem bürgerlichen Haus der Kings und vor allem nach der Villa Mark Twains war ich überrascht, dass die Autorin des Megabestsellers und Filmklassikers mit ihrem zweiten Mann in einem Zweizimmerapartment gewohnt hat. Die Wohnung hatte etwas von einem Wiener Gemeindebau in den Zwanzigerjahren. Überhaupt stimmte es mich bedenklich, wie vielfältig Menschen in ihren Ansichten sein können. Margaret Mitchell (1900-1949) war eine überzeugte Feministin, brach mit gesellschaftlichen Konventionen, arbeitete als Reporterin, war einmal geschieden und trat vehement für das Stimmrecht von Frauen ein. Aber sie wollte den Raum nicht mit Afroamerikanern teilen.
Obwohl Clark Gable dagegen protestiert hatte, durften die schwarzen Darsteller nicht an der Filmpremiere von „Gone with the Wind“ in Atlanta teilnehmen. Man befürchtete Unruhen. Das war 1939. Der Darsteller des Ashley Wilkes, Leslie Howard, war auch nicht dabei, er wurde 1943 von der deutschen Luftwaffe abgeschossen.
Ich habe die großmütterliche Dame, die uns geführt hat, auf den Rassismus in „Vom Winde verweht“ angesprochen. Ihre Antwort war beeindruckend. Margret Mitchell war in einem Umfeld aufgewachsen, in dem der alte Süden noch am Leben war, und der Bürgerkrieg das tägliche Gesprächsthema in der Familie. Mitchell erfuhr überhaupt erst viel später, dass die Konföderation den Krieg verloren hatte. Sie lebte und schrieb über ihre Kultur, und das war der historische Süden. Für diese klare Analyse verdiente die alte Dame meinen Respekt. Martin Luther King angewandt. Ich kann das Verhalten Margaret Mitchells dank ihr nachempfinden. Das Trauma des Kriegsendes wurde in meiner Familie auch an die späteren Generationen weitergegeben. An mich jedenfalls. Ich habe zuerst Heimatverlust und Opferrolle gelernt, die historische Täterschaft musste ich mir erst erarbeiten. Und das Runterbeten von Fakten im Geschichtsunterricht war dabei eher kontraproduktiv. Das zeigt sich ja leider auch in den aktuellen Wahlergebnissen.
Obwohl das Wetter nach wie vor bescheiden war, wurde unser Heimflug nicht vom Winde verweht.
Diejenigen, die panisch ihren Heimflug vorverlegt hatten, hatten da oft weniger Glück. Bei uns lief alles glatt. Naja, bis auf die Tatsache, dass unser Koffer in Hartford nicht auf dem Gepäckband erschien. Das stimmte meine müde Gattin ein wenig ungeschmeidig. Indes, das gute Stück hatte einen Flug vorher genommen und wartete schon längst vor dem Büro des Special Service auf uns. Das wusste wiederum der nette junge, natürlich hispanische Mann, der meinen Rollstuhl schob.
Nach diesem erfrischenden Zwischenspiel ging es rasch über den nächtlichen Highway nachhause. Nate war auch schon da, die Wolken hingen tief und es war heiß und feucht. Trotzdem: Seltsam, wie schnell man sich zuhause fühlt. Ich spürte ein sehr warmes und vertrautes Gefühl, als ich die Hügel, die Bäume und die Orte Neuenglands vor dem Seitenfenster vorbeiziehen sah. Schaute ganz anders als das flache Georgia aus. In der Küche dann die große Überraschung: Wir hatten bei unserer eiligen Abreise vergessen, die Milch zurück in den Kühlschrank zu stellen. Eine ganze Gallone war grün geworden. Die sich breitmachende Pilzkultur schien kurz davor zu stehen, eine Schrift zu entwickeln. Aber der Müdigkeit gedankt, es war uns völlig wurscht, und wir sind ins Bett gefallen.


Fortsetzung folgt…

Mittwoch, 4. Oktober 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 16)

Teil 16: Schokolade und bittere Pillen


Für Juliane und mich hat sich endlich der Schleier eines großen Geheimnisses gelüftet: Wer kauft die riesigen Toblerone-Barren auf internationalen Flughäfen? Und warum? Die Antwort: Menschen, in deren Umgebung es keine, oder nur fragwürdige Schokolade zu kaufen gibt! Jedenfalls hat mir Juliane so ein riesiges Trumm von bester Schweizer Qualität nachhause mitgebracht. Die Gattin weilte nämlich in Oxford, hielt dort an der Uni einen Vortrag und besuchte das ehrenwerte Pub The Eagle and Child aka The Bird and Baby, in dem sich die legendären Inklings trafen. Jener Autorenklub zu dem auch J.R.R. Tolkien (Herr der Ringe) oder C.S. Lewis (Die Chroniken von Narnia) gehört haben. Letzteres hat sie freilich nur für mich und aus Liebe getan, weil ich ihr deshalb in den Ohren gelegen habe: „Bringst Du mir auch was mit?“ Aber anders, als es die Krimiserie Lewis nahelegte, gab es dort keine Devotionalien oder Souvenirs zu kaufen. (Da war auch kein Schwert!) Ich konnte dieses Mal nicht mit, Universität und Pub hätte ich gerne selbst besucht, wirkten dort doch einige der bedeutendsten britischen Denker und Schriftsteller, auch Lewis Carroll (Alice im Wunderland). Und Oxford ist auch die historische und geistige Mama meiner Alma Mater in Wien. Aber das ist eine andere Geschichte. Zu meinem Strohwitwertum weiter unten etwas mehr, jetzt zurück zur Schokolade.
Es ist ja nicht so, dass es in den USA nichts Süßes gäbe. Ganz im Gegenteil, so manch wogendes Hüftgold und herausragender Steiß bezeugen stolz das Gegenteil. Wo liegt dann das Problem? Der überaus schmackhafte durchschnittliche US-amerikanische Schokoriegel besteht im Großen und Ganzen aus einem Erdnußbutter-, Karamell- und Nusskern, umhüllt von zarter Milchschokolade bzw. fetter Kuvertüre. Zum einen ist das reichlich nahrhaft, zum andern ordentlich bissfest. Das heißt nach dem Abbeißen von der Köstlichkeit bildet sich im Mund so etwas wie Fugenmasse. Diese legt sich dann luftdicht um Gaumen, Zahnfleisch und Zähne, so dass man danach mühelos einen kompletten Mundhöhlenabdruck herausziehen könnte, einem Zahnschutz für das Boxen nicht unähnlich. Als zartbesaiteter Europäer höre ich da schon beim Verzehr leise die Karies nagen, und ich fürchte außerdem um meine herrlichen Amalgamplomben. Diese wunderbaren und verlässlichen Schwermetallerinnerungen an die späten Achtziger und frühen Neunziger, die ungebrochen in meinem Backenzähnen harren und von mir mit Händen und Füßen gegen erneuerungswütige Zahnärzte und ihren neumodischen Kunststoffkram verteidigt werden. Damit dieses dentale Maschinenstürmen nicht unversehens unnötig wird, weil mein Zahn unter Karamell und Peanutbutter langsam verrottet, vermeide ich soweit möglich den Genuss des US-Schokoriegels. Das gefühlt mehrstündige Reinigen des Gebisses mit Zahnseide und Zahnstocher wirkt als Spaßbremse. Die optische Ähnlichkeit des legendären „Baby Ruby“-Riegels mit einem ganz anderem, am entgegengesetzten Ende der Nahrungsaufnahme entstehenden Dings, hat die legendäre Swimmingpool Szene in der Komödie Caddyshack (1980) ein- und nachdrücklich vor Augen geführt. Wie dem auch sei, beides, Angst vor Zahnverlust und pubertärer Analogieschluss, trägt nicht zur Appetitanregung bei. Last but not least ist da auch noch die vorsätzliche Täuschung des arglosen Europäers, der schamlose Etikettenschwindel. Da befiel mich einmal der Gusto nach einem Milky Way. Weil ich den Riegel durch die Scheibe eines Automaten sah, und mir bei der Erinnerung aus Kindertagen an den sahnig sanften Geschmack eines Milky Ways vom Fließband des Viersener Süßwarenwerkes das Wasser im Mund zusammenlief. Es hätte mich stutzig machen müssen, die Verpackung war nicht glänzend und blauweiß mit Sternen. Die Schrift war Grün auf Weiß, der Rest der Hülle Dunkelbraun. Quasi statt einem kultigen DeLorean ein braver VW-Bulli, statt einer spacigen Zeitmaschine eine Hippieschaukel. Egal, das Ding wurde gekauft und sogleich ausgepackt. Von der Größe ließ sich nichts ableiten oder bestimmen, für mein Gefühl ist in den letzten Jahrzehnten jeder Verpackungsinhalt auf eine Einheitsminiatur geschrumpft. Beim ersten Biss, dann der Schock: Das war kein Milky Way, es war ein Mars! Das war für mich The Crying Game der Süßwarenwelt.
Dagegen half in Zukunft nur der Import von redlicher Schweizer Alpenschokolade. Die Toblerone haben zwar jetzt auch nicht mehr alle Ecken im Karton, aber auf die übrigen kann man vertrauen. Da erkennt jeder gleich an der Verpackung mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks wie der Inhalt tickt. Das glauben so ja auch ganz viele Zeitgenossen von ihren Mitmenschen. Und wenn das so üblich ist, dann kann es ja nichts Schlechtes sein. Oder?
Bevor ich allerdings meine Schokolade hatte, musste ich ein paar Tage auf mich alleine gestellt verbringen. Ich kann nur sagen, nichts ersetzt die ungetrübte, unschuldige kleinkindartige Freude, sich selbst und ohne fremder Hilfe seine Hosen angezogen zu haben. Unter zu Hilfenahme nur eines mechanischen Hilfsmittels. Weil ich ja schon groß bin und mit Maschinen hantieren darf. Zum Beispiel mit einer Sockenanziehmaschine, die in ihrem Aufbau und ihrer Funktion so herzzerreißend simpel wie genial ist, dass ich mich frage, warum ich da nicht selbst draufgekommen bin. Mehr oder weniger ist es ein Spatenblatt aus weichem Plastik mit einer Schnur zum Ziehen dran. Heureka, denke ich, und fühle mich den großen Denkern so nah. Das also ist das Aha-Erlebnis, das hinter Geistesrevolutionen steckt. Es war die ganze Zeit vor Augen, aber keiner hat´s bisher kapiert. Und weil ich auf der Welle des Erkenntnisglücks noch weiter reiten wollte, erinnerte ich mich daran, wie sich Russell Crowe als Captain Jack Aubrey (Master and Commander, 2003) ohne Gummiband auf Deck seines Schiffes im Sturmwind die wehenden Haare zusammenband. Nur mit schlichter Lederschnur ausgerüstet, die er in seiner Westentasche trug. Ergriffen und tapfer wagte ich den Versuch eines Nachahmens, und siehe: Wahrlich, ich konnte mir mit einem einfachen Stoffband einen Zopf machen. So ein schickes Lederteil hatte ich nicht zur Hand. Aber ich arbeite daran. Ich war im Moment von meinem Stoffband schon ganz begeistert. Ja, das klingt jetzt fürs Erste alles ganz trallala einfach, aber wenn man seine Hände wenn es hochkommt bis zu den Schläfen hochkriegt, oder an die Ohren, dann ist das schon eine tolle Sache. Stolz blähte meinen Busen. Daran konnte auch die Uhr nichts ändern, die mich hämisch darauf hinwies, wie lange ich für das alles gebraucht hatte. Aber mir lief ja niemand hinterher. Und Fluchen konnte ich dabei auch nach Herzenslust, ich spielte ohne Aufsicht.
Zum Abschluss die paar bitteren Pillen, die es für mich auch zum Schlucken gab:
Meine Therapie entwickelte sich ebenfalls anders als erwartet, die Gespräche gruben tiefer als gedacht. Die letzten beiden Sitzungen waren so eine Freude, dass ich gleich danach erstmal eine Zigarette gebraucht habe. Total verboten und ganz schlimm, ich weiß. All die guten Menschen auf der Straße haben mich mit ihren Blicken auch gleich daran erinnert, was für ein schlechter Mensch und Raucher ich doch war. In ihren Augen fraß ich kleine Kinder, und in meinem Innern wurde ich selbst wieder als solches aufgefressen. Und dass alles zwischen Foodtrucks, die nach verbranntem Fleisch und Knoblauch rochen.
Beim Ansehen oder Anhören der Nachrichten aus Europa kommt mir indes jedes Essen wieder hoch. Ich frage mich inzwischen, ob ich es nicht besser lassen sollte, den heimischen Wahlkampf zu verfolgen. Aus einem Land, in dem Politik zu Kabarett wird, und Kabarettisten Politik machen. In dem Witze Argumente sind, und Haltungen zum Scherz verkommen. Bei all den Wuchteln und dem Schmäh ist mir das Lachen echt vergangen. Nichtsdestotrotz habe ich bereits gewählt. Ist ja meine Bürgerpflicht, sagte man früher. Das Wahlrecht für alle war auch weidlich hart genug erkämpft. Anders als befürchtet kam meine Wahlkarte zeit- und fristgerecht in New Haven an. Ich hatte bereits anderes gehört. Meine war jedenfalls da, dank dem Magistrat. Und die US-amerikanische Post hat sie ohne jeden Einwand wieder retour zugestellt. Wählen aus dem Ausland kostete mich also keinen Penny. Es besteht also wirklich kein Grund, sich nicht die Zeit zu nehmen. Immerhin will ich ja zurückkehren, und da möchte ich, was die Zukunft meines Geburtslandes angeht, vielleicht ein Wörtchen mitreden. Auch, oder gerade weil, da ein paar Herrschaften etwas dagegen haben und die Briefwahl abschaffen wollen. Es sollte einem zu denken geben, dass es nach der Auszählung der Wahlkarten immer einen letzten Ruck im Ergebnis gibt. Von all jenen, die ihren Rock und ihren Kopf ein wenig in der weiten Welt gelüftet haben. Als Geschenk zur Wahlkarte habe ich die herrlichen Kundmachungen erhalten. Ich werde mir die Papierbögen aufheben, immerhin steht ja mein Name in den Listen. Unter PILZ by the way. Abgesehen vom Erinnerungszweck denke ich über eine praktische Nutzung nach: Ich könnte die weiße oder die gelbe Kundmachung zum Zudecken bei meinem Mittagsschlaf und nach der Behandlung benutzen. Oder wir kleben sie längsseits zusammen und erhalten so eine geschmackvolle Tagesdecke für unser Ehebett. Jetzt kommt außerdem die kalte Jahreszeit, da kann man die beiden auch gut als Spanische Wand und Raumteiler benutzen.
Und ich habe mein erstes Social Media-Lehrgeld auf facebook bezahlt. Ich habe es geschafft, mich in eine Online-Diskussion verwickeln zu lassen, in der Thema und Argumente so lange verdreht wurden, bis ich mir daraus ein Seil um den Hals gelegt und mich in der Schlinge um Kopf Kragen geredet hatte. Man sagt mir, so etwas kommt vor, und ich soll es vergessen. Aber es ärgert mich trotzdem. Weil mir so etwas immer wieder passiert. Dass mir mit den Zügeln in der Hand und der Straße bewusst, die Gäule durchgehen.
Einmal noch Photopherese im Yale New Haven Hospital, dann geht es mit Juliane für ein paar Tage nach Atlanta, Georgia. Zwar ist nach meinen gegenwärtigen hiesigen Erfahrungen meine Liebe zum historischen Süden der USA ziemlich abgekühlt, trotzdem freue ich mich auf die Stadt. Atlanta hat zwei Persönlichkeiten hervorgebracht, die ich heute vor meinem geistigen Horizont als moralische Antipoden sehe: Margaret Mitchel, die Autorin von „Vom Winde verweht“, und Dr. Martin Luther King, Pastor und Bürgerrechtler. Ich hoffe, von beiden etwas zu sehen zu bekommen und über beide etwas mehr zu erfahren.
Ich melde mich also wieder zurück aus Dixie!

Fortsetzung folgt…

Als geborener und gelernter Ösi sage ich: Folks, geht bitte wählen!