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Mittwoch, 4. Oktober 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 16)

Teil 16: Schokolade und bittere Pillen


Für Juliane und mich hat sich endlich der Schleier eines großen Geheimnisses gelüftet: Wer kauft die riesigen Toblerone-Barren auf internationalen Flughäfen? Und warum? Die Antwort: Menschen, in deren Umgebung es keine, oder nur fragwürdige Schokolade zu kaufen gibt! Jedenfalls hat mir Juliane so ein riesiges Trumm von bester Schweizer Qualität nachhause mitgebracht. Die Gattin weilte nämlich in Oxford, hielt dort an der Uni einen Vortrag und besuchte das ehrenwerte Pub The Eagle and Child aka The Bird and Baby, in dem sich die legendären Inklings trafen. Jener Autorenklub zu dem auch J.R.R. Tolkien (Herr der Ringe) oder C.S. Lewis (Die Chroniken von Narnia) gehört haben. Letzteres hat sie freilich nur für mich und aus Liebe getan, weil ich ihr deshalb in den Ohren gelegen habe: „Bringst Du mir auch was mit?“ Aber anders, als es die Krimiserie Lewis nahelegte, gab es dort keine Devotionalien oder Souvenirs zu kaufen. (Da war auch kein Schwert!) Ich konnte dieses Mal nicht mit, Universität und Pub hätte ich gerne selbst besucht, wirkten dort doch einige der bedeutendsten britischen Denker und Schriftsteller, auch Lewis Carroll (Alice im Wunderland). Und Oxford ist auch die historische und geistige Mama meiner Alma Mater in Wien. Aber das ist eine andere Geschichte. Zu meinem Strohwitwertum weiter unten etwas mehr, jetzt zurück zur Schokolade.
Es ist ja nicht so, dass es in den USA nichts Süßes gäbe. Ganz im Gegenteil, so manch wogendes Hüftgold und herausragender Steiß bezeugen stolz das Gegenteil. Wo liegt dann das Problem? Der überaus schmackhafte durchschnittliche US-amerikanische Schokoriegel besteht im Großen und Ganzen aus einem Erdnußbutter-, Karamell- und Nusskern, umhüllt von zarter Milchschokolade bzw. fetter Kuvertüre. Zum einen ist das reichlich nahrhaft, zum andern ordentlich bissfest. Das heißt nach dem Abbeißen von der Köstlichkeit bildet sich im Mund so etwas wie Fugenmasse. Diese legt sich dann luftdicht um Gaumen, Zahnfleisch und Zähne, so dass man danach mühelos einen kompletten Mundhöhlenabdruck herausziehen könnte, einem Zahnschutz für das Boxen nicht unähnlich. Als zartbesaiteter Europäer höre ich da schon beim Verzehr leise die Karies nagen, und ich fürchte außerdem um meine herrlichen Amalgamplomben. Diese wunderbaren und verlässlichen Schwermetallerinnerungen an die späten Achtziger und frühen Neunziger, die ungebrochen in meinem Backenzähnen harren und von mir mit Händen und Füßen gegen erneuerungswütige Zahnärzte und ihren neumodischen Kunststoffkram verteidigt werden. Damit dieses dentale Maschinenstürmen nicht unversehens unnötig wird, weil mein Zahn unter Karamell und Peanutbutter langsam verrottet, vermeide ich soweit möglich den Genuss des US-Schokoriegels. Das gefühlt mehrstündige Reinigen des Gebisses mit Zahnseide und Zahnstocher wirkt als Spaßbremse. Die optische Ähnlichkeit des legendären „Baby Ruby“-Riegels mit einem ganz anderem, am entgegengesetzten Ende der Nahrungsaufnahme entstehenden Dings, hat die legendäre Swimmingpool Szene in der Komödie Caddyshack (1980) ein- und nachdrücklich vor Augen geführt. Wie dem auch sei, beides, Angst vor Zahnverlust und pubertärer Analogieschluss, trägt nicht zur Appetitanregung bei. Last but not least ist da auch noch die vorsätzliche Täuschung des arglosen Europäers, der schamlose Etikettenschwindel. Da befiel mich einmal der Gusto nach einem Milky Way. Weil ich den Riegel durch die Scheibe eines Automaten sah, und mir bei der Erinnerung aus Kindertagen an den sahnig sanften Geschmack eines Milky Ways vom Fließband des Viersener Süßwarenwerkes das Wasser im Mund zusammenlief. Es hätte mich stutzig machen müssen, die Verpackung war nicht glänzend und blauweiß mit Sternen. Die Schrift war Grün auf Weiß, der Rest der Hülle Dunkelbraun. Quasi statt einem kultigen DeLorean ein braver VW-Bulli, statt einer spacigen Zeitmaschine eine Hippieschaukel. Egal, das Ding wurde gekauft und sogleich ausgepackt. Von der Größe ließ sich nichts ableiten oder bestimmen, für mein Gefühl ist in den letzten Jahrzehnten jeder Verpackungsinhalt auf eine Einheitsminiatur geschrumpft. Beim ersten Biss, dann der Schock: Das war kein Milky Way, es war ein Mars! Das war für mich The Crying Game der Süßwarenwelt.
Dagegen half in Zukunft nur der Import von redlicher Schweizer Alpenschokolade. Die Toblerone haben zwar jetzt auch nicht mehr alle Ecken im Karton, aber auf die übrigen kann man vertrauen. Da erkennt jeder gleich an der Verpackung mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks wie der Inhalt tickt. Das glauben so ja auch ganz viele Zeitgenossen von ihren Mitmenschen. Und wenn das so üblich ist, dann kann es ja nichts Schlechtes sein. Oder?
Bevor ich allerdings meine Schokolade hatte, musste ich ein paar Tage auf mich alleine gestellt verbringen. Ich kann nur sagen, nichts ersetzt die ungetrübte, unschuldige kleinkindartige Freude, sich selbst und ohne fremder Hilfe seine Hosen angezogen zu haben. Unter zu Hilfenahme nur eines mechanischen Hilfsmittels. Weil ich ja schon groß bin und mit Maschinen hantieren darf. Zum Beispiel mit einer Sockenanziehmaschine, die in ihrem Aufbau und ihrer Funktion so herzzerreißend simpel wie genial ist, dass ich mich frage, warum ich da nicht selbst draufgekommen bin. Mehr oder weniger ist es ein Spatenblatt aus weichem Plastik mit einer Schnur zum Ziehen dran. Heureka, denke ich, und fühle mich den großen Denkern so nah. Das also ist das Aha-Erlebnis, das hinter Geistesrevolutionen steckt. Es war die ganze Zeit vor Augen, aber keiner hat´s bisher kapiert. Und weil ich auf der Welle des Erkenntnisglücks noch weiter reiten wollte, erinnerte ich mich daran, wie sich Russell Crowe als Captain Jack Aubrey (Master and Commander, 2003) ohne Gummiband auf Deck seines Schiffes im Sturmwind die wehenden Haare zusammenband. Nur mit schlichter Lederschnur ausgerüstet, die er in seiner Westentasche trug. Ergriffen und tapfer wagte ich den Versuch eines Nachahmens, und siehe: Wahrlich, ich konnte mir mit einem einfachen Stoffband einen Zopf machen. So ein schickes Lederteil hatte ich nicht zur Hand. Aber ich arbeite daran. Ich war im Moment von meinem Stoffband schon ganz begeistert. Ja, das klingt jetzt fürs Erste alles ganz trallala einfach, aber wenn man seine Hände wenn es hochkommt bis zu den Schläfen hochkriegt, oder an die Ohren, dann ist das schon eine tolle Sache. Stolz blähte meinen Busen. Daran konnte auch die Uhr nichts ändern, die mich hämisch darauf hinwies, wie lange ich für das alles gebraucht hatte. Aber mir lief ja niemand hinterher. Und Fluchen konnte ich dabei auch nach Herzenslust, ich spielte ohne Aufsicht.
Zum Abschluss die paar bitteren Pillen, die es für mich auch zum Schlucken gab:
Meine Therapie entwickelte sich ebenfalls anders als erwartet, die Gespräche gruben tiefer als gedacht. Die letzten beiden Sitzungen waren so eine Freude, dass ich gleich danach erstmal eine Zigarette gebraucht habe. Total verboten und ganz schlimm, ich weiß. All die guten Menschen auf der Straße haben mich mit ihren Blicken auch gleich daran erinnert, was für ein schlechter Mensch und Raucher ich doch war. In ihren Augen fraß ich kleine Kinder, und in meinem Innern wurde ich selbst wieder als solches aufgefressen. Und dass alles zwischen Foodtrucks, die nach verbranntem Fleisch und Knoblauch rochen.
Beim Ansehen oder Anhören der Nachrichten aus Europa kommt mir indes jedes Essen wieder hoch. Ich frage mich inzwischen, ob ich es nicht besser lassen sollte, den heimischen Wahlkampf zu verfolgen. Aus einem Land, in dem Politik zu Kabarett wird, und Kabarettisten Politik machen. In dem Witze Argumente sind, und Haltungen zum Scherz verkommen. Bei all den Wuchteln und dem Schmäh ist mir das Lachen echt vergangen. Nichtsdestotrotz habe ich bereits gewählt. Ist ja meine Bürgerpflicht, sagte man früher. Das Wahlrecht für alle war auch weidlich hart genug erkämpft. Anders als befürchtet kam meine Wahlkarte zeit- und fristgerecht in New Haven an. Ich hatte bereits anderes gehört. Meine war jedenfalls da, dank dem Magistrat. Und die US-amerikanische Post hat sie ohne jeden Einwand wieder retour zugestellt. Wählen aus dem Ausland kostete mich also keinen Penny. Es besteht also wirklich kein Grund, sich nicht die Zeit zu nehmen. Immerhin will ich ja zurückkehren, und da möchte ich, was die Zukunft meines Geburtslandes angeht, vielleicht ein Wörtchen mitreden. Auch, oder gerade weil, da ein paar Herrschaften etwas dagegen haben und die Briefwahl abschaffen wollen. Es sollte einem zu denken geben, dass es nach der Auszählung der Wahlkarten immer einen letzten Ruck im Ergebnis gibt. Von all jenen, die ihren Rock und ihren Kopf ein wenig in der weiten Welt gelüftet haben. Als Geschenk zur Wahlkarte habe ich die herrlichen Kundmachungen erhalten. Ich werde mir die Papierbögen aufheben, immerhin steht ja mein Name in den Listen. Unter PILZ by the way. Abgesehen vom Erinnerungszweck denke ich über eine praktische Nutzung nach: Ich könnte die weiße oder die gelbe Kundmachung zum Zudecken bei meinem Mittagsschlaf und nach der Behandlung benutzen. Oder wir kleben sie längsseits zusammen und erhalten so eine geschmackvolle Tagesdecke für unser Ehebett. Jetzt kommt außerdem die kalte Jahreszeit, da kann man die beiden auch gut als Spanische Wand und Raumteiler benutzen.
Und ich habe mein erstes Social Media-Lehrgeld auf facebook bezahlt. Ich habe es geschafft, mich in eine Online-Diskussion verwickeln zu lassen, in der Thema und Argumente so lange verdreht wurden, bis ich mir daraus ein Seil um den Hals gelegt und mich in der Schlinge um Kopf Kragen geredet hatte. Man sagt mir, so etwas kommt vor, und ich soll es vergessen. Aber es ärgert mich trotzdem. Weil mir so etwas immer wieder passiert. Dass mir mit den Zügeln in der Hand und der Straße bewusst, die Gäule durchgehen.
Einmal noch Photopherese im Yale New Haven Hospital, dann geht es mit Juliane für ein paar Tage nach Atlanta, Georgia. Zwar ist nach meinen gegenwärtigen hiesigen Erfahrungen meine Liebe zum historischen Süden der USA ziemlich abgekühlt, trotzdem freue ich mich auf die Stadt. Atlanta hat zwei Persönlichkeiten hervorgebracht, die ich heute vor meinem geistigen Horizont als moralische Antipoden sehe: Margaret Mitchel, die Autorin von „Vom Winde verweht“, und Dr. Martin Luther King, Pastor und Bürgerrechtler. Ich hoffe, von beiden etwas zu sehen zu bekommen und über beide etwas mehr zu erfahren.
Ich melde mich also wieder zurück aus Dixie!

Fortsetzung folgt…

Als geborener und gelernter Ösi sage ich: Folks, geht bitte wählen!