Teil 16: Schokolade und bittere Pillen
Für Juliane und mich hat sich
endlich der Schleier eines großen Geheimnisses gelüftet: Wer kauft die riesigen
Toblerone-Barren auf internationalen
Flughäfen? Und warum? Die Antwort: Menschen, in deren Umgebung es keine, oder
nur fragwürdige Schokolade zu kaufen gibt! Jedenfalls hat mir Juliane so ein
riesiges Trumm von bester Schweizer Qualität nachhause mitgebracht. Die Gattin
weilte nämlich in Oxford, hielt dort an der Uni einen Vortrag und besuchte das
ehrenwerte Pub The Eagle and Child
aka The Bird and Baby, in dem sich
die legendären Inklings trafen. Jener
Autorenklub zu dem auch J.R.R. Tolkien (Herr
der Ringe) oder C.S. Lewis (Die
Chroniken von Narnia) gehört haben. Letzteres hat sie freilich nur für mich
und aus Liebe getan, weil ich ihr deshalb in den Ohren gelegen habe: „Bringst
Du mir auch was mit?“ Aber anders, als es die Krimiserie Lewis nahelegte, gab es dort keine Devotionalien oder Souvenirs zu
kaufen. (Da war auch kein Schwert!) Ich konnte dieses Mal nicht mit, Universität
und Pub hätte ich gerne selbst besucht, wirkten dort doch einige der
bedeutendsten britischen Denker und Schriftsteller, auch Lewis Carroll (Alice im Wunderland). Und Oxford ist
auch die historische und geistige Mama meiner Alma Mater in Wien. Aber das ist
eine andere Geschichte. Zu meinem Strohwitwertum weiter unten etwas mehr, jetzt
zurück zur Schokolade.
Es ist ja nicht so, dass es in
den USA nichts Süßes gäbe. Ganz im Gegenteil, so manch wogendes Hüftgold und
herausragender Steiß bezeugen stolz das Gegenteil. Wo liegt dann das Problem?
Der überaus schmackhafte durchschnittliche US-amerikanische Schokoriegel
besteht im Großen und Ganzen aus einem Erdnußbutter-, Karamell- und Nusskern,
umhüllt von zarter Milchschokolade bzw. fetter Kuvertüre. Zum einen ist das
reichlich nahrhaft, zum andern ordentlich bissfest. Das heißt nach dem Abbeißen
von der Köstlichkeit bildet sich im Mund so etwas wie Fugenmasse. Diese legt
sich dann luftdicht um Gaumen, Zahnfleisch und Zähne, so dass man danach
mühelos einen kompletten Mundhöhlenabdruck herausziehen könnte, einem
Zahnschutz für das Boxen nicht unähnlich. Als zartbesaiteter Europäer höre ich
da schon beim Verzehr leise die Karies nagen, und ich fürchte außerdem um meine
herrlichen Amalgamplomben. Diese wunderbaren und verlässlichen
Schwermetallerinnerungen an die späten Achtziger und frühen Neunziger, die
ungebrochen in meinem Backenzähnen harren und von mir mit Händen und Füßen
gegen erneuerungswütige Zahnärzte und ihren neumodischen Kunststoffkram
verteidigt werden. Damit dieses dentale Maschinenstürmen nicht unversehens
unnötig wird, weil mein Zahn unter Karamell und Peanutbutter langsam verrottet,
vermeide ich soweit möglich den Genuss des US-Schokoriegels. Das gefühlt
mehrstündige Reinigen des Gebisses mit Zahnseide und Zahnstocher wirkt als
Spaßbremse. Die optische Ähnlichkeit des legendären „Baby Ruby“-Riegels mit einem ganz anderem, am entgegengesetzten
Ende der Nahrungsaufnahme entstehenden Dings, hat die legendäre Swimmingpool
Szene in der Komödie Caddyshack (1980)
ein- und nachdrücklich vor Augen geführt. Wie dem auch sei, beides, Angst vor
Zahnverlust und pubertärer Analogieschluss, trägt nicht zur Appetitanregung
bei. Last but not least ist da auch noch die vorsätzliche Täuschung des
arglosen Europäers, der schamlose Etikettenschwindel. Da befiel mich einmal der
Gusto nach einem Milky Way. Weil ich
den Riegel durch die Scheibe eines Automaten sah, und mir bei der Erinnerung aus
Kindertagen an den sahnig sanften Geschmack eines Milky Ways vom Fließband des Viersener Süßwarenwerkes das Wasser im
Mund zusammenlief. Es hätte mich stutzig machen müssen, die Verpackung war
nicht glänzend und blauweiß mit Sternen. Die Schrift war Grün auf Weiß, der
Rest der Hülle Dunkelbraun. Quasi statt einem kultigen DeLorean ein braver
VW-Bulli, statt einer spacigen Zeitmaschine eine Hippieschaukel. Egal, das Ding
wurde gekauft und sogleich ausgepackt. Von der Größe ließ sich nichts ableiten
oder bestimmen, für mein Gefühl ist in den letzten Jahrzehnten jeder
Verpackungsinhalt auf eine Einheitsminiatur geschrumpft. Beim ersten Biss, dann
der Schock: Das war kein Milky Way,
es war ein Mars! Das war für mich The Crying Game der Süßwarenwelt.
Dagegen half in Zukunft nur der
Import von redlicher Schweizer Alpenschokolade. Die Toblerone haben zwar jetzt auch nicht mehr alle Ecken im Karton,
aber auf die übrigen kann man vertrauen. Da erkennt jeder gleich an der
Verpackung mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks wie der Inhalt tickt. Das
glauben so ja auch ganz viele Zeitgenossen von ihren Mitmenschen. Und wenn das
so üblich ist, dann kann es ja nichts Schlechtes sein. Oder?
Bevor ich allerdings meine
Schokolade hatte, musste ich ein paar Tage auf mich alleine gestellt
verbringen. Ich kann nur sagen, nichts ersetzt die ungetrübte, unschuldige kleinkindartige
Freude, sich selbst und ohne fremder Hilfe seine Hosen angezogen zu haben.
Unter zu Hilfenahme nur eines mechanischen Hilfsmittels. Weil ich ja schon groß
bin und mit Maschinen hantieren darf. Zum Beispiel mit einer
Sockenanziehmaschine, die in ihrem Aufbau und ihrer Funktion so herzzerreißend
simpel wie genial ist, dass ich mich frage, warum ich da nicht selbst
draufgekommen bin. Mehr oder weniger ist es ein Spatenblatt aus weichem Plastik
mit einer Schnur zum Ziehen dran. Heureka, denke ich, und fühle mich den großen
Denkern so nah. Das also ist das Aha-Erlebnis, das hinter Geistesrevolutionen
steckt. Es war die ganze Zeit vor Augen, aber keiner hat´s bisher kapiert. Und
weil ich auf der Welle des Erkenntnisglücks noch weiter reiten wollte,
erinnerte ich mich daran, wie sich Russell Crowe als Captain Jack Aubrey (Master and Commander, 2003) ohne
Gummiband auf Deck seines Schiffes im Sturmwind die wehenden Haare
zusammenband. Nur mit schlichter Lederschnur ausgerüstet, die er in seiner
Westentasche trug. Ergriffen und tapfer wagte ich den Versuch eines Nachahmens,
und siehe: Wahrlich, ich konnte mir mit einem einfachen Stoffband einen Zopf
machen. So ein schickes Lederteil hatte ich nicht zur Hand. Aber ich arbeite
daran. Ich war im Moment von meinem Stoffband schon ganz begeistert. Ja, das
klingt jetzt fürs Erste alles ganz trallala einfach, aber wenn man seine Hände
wenn es hochkommt bis zu den Schläfen hochkriegt, oder an die Ohren, dann ist
das schon eine tolle Sache. Stolz blähte meinen Busen. Daran konnte auch die
Uhr nichts ändern, die mich hämisch darauf hinwies, wie lange ich für das alles
gebraucht hatte. Aber mir lief ja niemand hinterher. Und Fluchen konnte ich
dabei auch nach Herzenslust, ich spielte ohne Aufsicht.
Zum Abschluss die paar bitteren
Pillen, die es für mich auch zum Schlucken gab:
Meine Therapie entwickelte sich
ebenfalls anders als erwartet, die Gespräche gruben tiefer als gedacht. Die
letzten beiden Sitzungen waren so eine Freude, dass ich gleich danach erstmal
eine Zigarette gebraucht habe. Total verboten und ganz schlimm, ich weiß. All
die guten Menschen auf der Straße haben mich mit ihren Blicken auch gleich
daran erinnert, was für ein schlechter Mensch und Raucher ich doch war. In
ihren Augen fraß ich kleine Kinder, und in meinem Innern wurde ich selbst
wieder als solches aufgefressen. Und dass alles zwischen Foodtrucks, die nach verbranntem Fleisch und Knoblauch rochen.
Beim Ansehen oder Anhören der
Nachrichten aus Europa kommt mir indes jedes Essen wieder hoch. Ich frage mich
inzwischen, ob ich es nicht besser lassen sollte, den heimischen Wahlkampf zu
verfolgen. Aus einem Land, in dem Politik zu Kabarett wird, und Kabarettisten
Politik machen. In dem Witze Argumente sind, und Haltungen zum Scherz
verkommen. Bei all den Wuchteln und dem Schmäh ist mir das Lachen echt
vergangen. Nichtsdestotrotz habe ich bereits gewählt. Ist ja meine
Bürgerpflicht, sagte man früher. Das Wahlrecht für alle war auch weidlich hart
genug erkämpft. Anders als befürchtet kam meine Wahlkarte zeit- und fristgerecht
in New Haven an. Ich hatte bereits anderes gehört. Meine war jedenfalls da,
dank dem Magistrat. Und die US-amerikanische Post hat sie ohne jeden Einwand
wieder retour zugestellt. Wählen aus dem Ausland kostete mich also keinen
Penny. Es besteht also wirklich kein Grund, sich nicht die Zeit zu nehmen.
Immerhin will ich ja zurückkehren, und da möchte ich, was die Zukunft meines
Geburtslandes angeht, vielleicht ein Wörtchen mitreden. Auch, oder gerade weil,
da ein paar Herrschaften etwas dagegen haben und die Briefwahl abschaffen
wollen. Es sollte einem zu denken geben, dass es nach der Auszählung der
Wahlkarten immer einen letzten Ruck im Ergebnis gibt. Von all jenen, die ihren
Rock und ihren Kopf ein wenig in der weiten Welt gelüftet haben. Als Geschenk
zur Wahlkarte habe ich die herrlichen Kundmachungen erhalten. Ich werde mir die
Papierbögen aufheben, immerhin steht ja mein Name in den Listen. Unter PILZ by
the way. Abgesehen vom Erinnerungszweck denke ich über eine praktische Nutzung
nach: Ich könnte die weiße oder die gelbe Kundmachung zum Zudecken bei meinem
Mittagsschlaf und nach der Behandlung benutzen. Oder wir kleben sie längsseits
zusammen und erhalten so eine geschmackvolle Tagesdecke für unser Ehebett. Jetzt
kommt außerdem die kalte Jahreszeit, da kann man die beiden auch gut als
Spanische Wand und Raumteiler benutzen.
Und ich habe mein erstes Social
Media-Lehrgeld auf facebook bezahlt.
Ich habe es geschafft, mich in eine Online-Diskussion verwickeln zu lassen, in
der Thema und Argumente so lange verdreht wurden, bis ich mir daraus ein Seil
um den Hals gelegt und mich in der Schlinge um Kopf Kragen geredet hatte. Man
sagt mir, so etwas kommt vor, und ich soll es vergessen. Aber es ärgert mich
trotzdem. Weil mir so etwas immer wieder passiert. Dass mir mit den Zügeln in
der Hand und der Straße bewusst, die Gäule durchgehen.
Einmal noch Photopherese im Yale
New Haven Hospital, dann geht es mit Juliane für ein paar Tage nach Atlanta,
Georgia. Zwar ist nach meinen gegenwärtigen hiesigen Erfahrungen meine Liebe
zum historischen Süden der USA ziemlich abgekühlt, trotzdem freue ich mich auf
die Stadt. Atlanta hat zwei Persönlichkeiten hervorgebracht, die ich heute vor
meinem geistigen Horizont als moralische Antipoden sehe: Margaret Mitchel, die
Autorin von „Vom Winde verweht“, und
Dr. Martin Luther King, Pastor und Bürgerrechtler. Ich hoffe, von beiden etwas
zu sehen zu bekommen und über beide etwas mehr zu erfahren.
Ich melde mich also wieder zurück
aus Dixie!
Fortsetzung folgt…
Als geborener und gelernter Ösi sage ich: Folks, geht bitte wählen! |