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Sonntag, 15. Oktober 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 17)

Teil 17: Down in Dixie


Ich weiß wirklich nicht, warum Juliane und ich nicht einmal einfach irgendwo hinfahren können, ohne dass uns dabei die seltsamsten Dinge widerfahren. Diesmal habe ich die Gattin auf die GSA nach Atlanta, Georgia begleitet, und es war wieder einmal so weit. Inzwischen frage ich mich wirklich, welcher alte Chinese mich „zu einem interessanten Leben“ verflucht hat. Eigentlich bin ich ihr oder ihm dankbar. Was wusste ich bisher denn schon über Atlanta? Dass es im Bürgerkrieg komplett abgebrannt ist, und dass Coca Cola von da stammt.
Losgegangen ist es in aller Herrgottsfrühe am Tag unserer Abreise. Normalerweise kamen die bestellten Taxis verlässlich eine halbe Stunde zu spät. Nein, als der Morgen graute, und die Vögel in den Bäumen husteten, kam das Flughafentaxi zwanzig Minuten zu früh. Netterweise kündigte man sich per Textnachricht an, und wir waren beide schon gekämmt und bekleidet. Trotzdem erfolgte unser Aufbruch zum Hartford Bradley Airport (aka Hartford Springfield, ohne Spaß) etwas überstürzt, aber nicht kopflos. Es wäre auch niemandem geholfen gewesen, hätten wir ein Gepäckstück vergessen. Im schlimmsten Fall den Vortrag (Na Servus!). Oder ich wäre die Treppe auf die Frontveranda hinuntergekugelt. Nichts davon ist geschehen. Dafür anderes, aber davon wussten wir noch nichts.
Ich bin zum ersten Mal mit einem MacDonnell Douglas-Flugzeug geflogen, jedenfalls bewusst. Es war ein kurzer und entspannter Inlandsflug von zweieinhalb Stunden, von Wien aus wären wir wohl schon mindestens in Spanien gewesen. Gemessen an den Kolleginnen und anderen Konferenzteilnehmern, die Juliane am Gate getroffen hat, hätte man an einen Charterflug zur GSA denken können. Und mit der eher kleinen Maschine waren wir alle nicht nur dabei, sondern auch mittendrin im physikalischen Geschehen. Mir hat das ja gefallen, aber Juliane wurde beim Starten und Landen ein klein wenig blass um die Nase. Sie bevorzugt die wuchtigen Transatlantikflieger. Mehr Power! Ich bin dafür immer wieder überrascht, welche Überseekoffer manche Leutchen als Handgepäck mitführen. Die praktische Einbauküche im Rollkoffer, oder was? Wie dem auch sei, Ankunft in Atlanta. Alles planmäßig, und das Wetter erwartungsgemäß sonnig und heiter. Für meine europäischen Begriffe, sommerlich. 26 bis 28 Grad Celsius. Und unglaublich feucht. O ja, das war er, der Süden der USA, wie ich ihn aus meinen Jugendträumen kannte. Rein optisch hatte Atlanta, Georgia nichts mehr mit dem Klischee gemein. Atlanta ist der Heimathafen von Delta Airlines, und Atlanta ist wie schon im neunzehnten Jahrhundert ein Dreh- und Angelpunkt des Verkehrs. Wie die Narbe eines Rades, von dem die Speichen in alle Richtungen abgehen. Früher waren es die Eisenbahnlinien, heute sind es die Flugrouten. Den Eisenbahnknotenpunkt hatten General Sherman und die Unionsarmee abgefackelt, aber der heutige Flughafen ist gigantisch. Hartsfield–Jackson Atlanta International Airport hat zwei Terminals (Inland und International), sieben Abflughallen und beschäftigt rund 70.000 Menschen. Um zum Gepäckband zu gelangen, mussten wir einen Zug nehmen. Zum Glück wurde ich im Rollstuhl gefahren. Andernfalls würde ich dort wahrscheinlich immer noch herumirren.
Von dem Atlanta meiner Träume war nichts mehr übrig. Ich wusste, dass es in Rauch aufgegangen war. Die Stadt, die uns empfing, hatte nichts mehr mit dem historischen Zentrum zu tun. Vom Highway landeten wir direkt in Downtown an. Im Schatten der für die US-amerikanischen Innenstädte typischen Hotelschluchten. Wir waren nur eine Parallelstraße vom eigentlichen Stadtzentrum entfernt, unser Motel 6 lag auf derselben Straße wie das Hilton, das Marriott und das Sheraton, wo die GSA stattfand, aber es fühlte sich wieder einmal nicht so an. Die ersten vom Straßenniveau einsehbaren Stockwerke der benachbarten Häuser waren allesamt Parkgaragen. Der Asphalt der Gehsteige war beulig und brüchig. Pionierpflanzen sprießten aus Sprüngen und Fundamenten. Zwischen den öffentlichen Kunstwerken schliefen die Obdachlosen. Oder sie irrten zwischen den Hotels, den Parkplätzen und Autovermietungen herum. Die Anrainer scherten sich so wenig um sie, dass sie nicht einmal vertrieben wurden. Da telefonierte ein Yuppie vor dem Hilton, keine zwei Meter daneben vertickten fragwürdige Gestalten noch weit fragwürdigere Substanzen. Und ein aufpolierter SUV reihte sich an den nächsten in der Auffahrt zum Valet-Parking. Eine gewaltige Laufbahn auf Stelzen verband die Parkgarage mit dem Peachtree Center in der Parallelstraße, um jeden ungewollten Kontakt mit dem öffentlichen Raum zu vermeiden. Und daran schloss sich eine weitere Beobachtung an: Ich weiß, Uber ist cool. Aber die meisten, vor allem Weiße, benutzen den spottbilligen Fahrtendienst, um den öffentlichen Nahverkehr zu vermeiden. Öffentliche Verkehrsmittel sind für Farbige und Latinos. Für diejenigen, die die schöne Welt mit Aircondition am Laufen halten. Genau wie vor 150 Jahren.
Nachdem sich Juliane im Sheraton für die GSA registriert hatte, sind wir ins Hard Rock Café gegangen. Das war schon eine feine Sache, zwischen all den Reliquien internationaler Musikgrößen seinen Cheeseburger und ein Bier zu genießen. Und ich habe gelernt, dass die Hard Rock Cafés inzwischen den US-amerikanischen Natives gehören, nämlich dem Seminole Tribe of Florida. Nach dem Essen gingen Juliane und ich getrennte Wege. Juliane hatte ihren ersten Termin. Tatsächlich sind in Downtown Atlanta vergleichsweise viele Menschen zu Fuß unterwegs. Das verleiht der Stadt ein sicheres Gefühl. Aber sobald die Passanten verebben, machte sich in mir ein seltsames Aufpassen breit. Eine Alarmbereitschaft, die ich vom nächtlichen Nachhause Gehen in Wien Favoriten nur allzu gut kenne. Als Behinderter am Stock wäre ich auch leichte Beute. Und wirklich, als ich alleine ins Motel gegangen bin, hat mich auch schon einer von den homeless people angequatscht. Ich wollte mich nicht wie ein Arschloch aufführen, aber der benahm sich genau wie aus dem Lehrbuch des kriminalpolizeilichen Dienstes: Überfreundlich, und er wollte gleich Händeschütteln und Umarmen. Nein, mein Freund, das zieht bei mir nicht. Zum Glück war ich nur ein paar Schritte vom Grundstück unseres Motels entfernt. Es mag brutal klingen, aber wenn man Menschen zwingt, unter solch menschenunwürdigen Umständen zu leben, verhalten sie sich eben irgendwann wie Raubtiere.
Während Juliane und ich dann im Bett in unserem Motelzimmer lagen, fiel die Aircondition aus. Und nicht nur die, das ganze Haus war ohne Strom. Ein Auto war in den Pfosten mit der Strom- und Telefonleitung gekracht. Ich hörte die Telefonate des Rezeptionisten mit aufgeregten Hotelgästen und den Stadtwerken. Der Strom konnte in ein paar Stunden wiederhergestellt werden, aber das WLAN war für ein bis zwei Tage beim Teufel. Auf dem Parkplatz vor dem Motel gingen die Lichter in den abgestellten Autos an. Juliane war nicht die einzige GSA-Teilnehmerin im Haus. Und viele mussten noch ihre Texte für die Arbeitsgruppen überarbeiten oder lesen.
Am nächsten Tag die freudige Nachricht: Der dritte Hurrikan in kürzester Zeit machte sich bereit, auf das Festland der USA zu treffen. Nate steuerte direkt auf Atlanta zu. Aber es war eh völlig wurscht, wo Juliane und ich gerade waren, würde Nate nämlich seinen Kurs halten, traf er auch Boston. Nates eintreffen wurde von CNN auf Sonntagnachmittag vorhergesagt. Und die mussten es wissen, die haben ihre Zentrale in Atlanta. Und sie hatten völlig Recht. Sonntagnachmittags war Nate bei uns. Als Tropensturm und absolut mieser Laune. Es hat geschüttet, die Wolken hingen tief und es war stockdunkel draußen. Juliane musste durch knöcheltiefes Wasser ins Sheraton auf die Konferenz und wieder zurück. Am Abend in der Lobby reihten sich Essenslieferant an Essenslieferant, weil niemand von den Gästen das Haus verlassen wollte. Die armen Zusteller. Aber die Pizza schmeckte mir großartig. Überhaupt war Atlanta kulinarisch der Bringer. Abends zuvor aßen wir mit einem Freund im Ponce City Market, und abends zuvor mit einer Kollegin von Juliane im Trader Vic´s, einem coolen hawaiianischen Restaurant, das es immerhin seit 42 Jahren gibt.
Nate hatte uns einen ganzen Tag Sightseeing gekostet. Aber weil wir beim Flugbuchen am und pm verwechselt hatten, ging unser Flug nachhause nicht mittags, sondern quasi mitten in der Nacht. Was uns erst geärgert hatte, war jetzt ein Glück. Ich wollte zwei Dinge in Atlanta unbedingt sehen: Das Martin Luther King Memorial und das Margret Mitchell House. Für mich heute die zwei Seiten einer Münze, nämlich des alten Südens. Es hat zwar immer noch geregnet. Und das Besucherzentrum im Martin Luther King Memorial hatte geschlossen, so dass Juliane unser Gepäck mitschleppen musste. Das war ärgerlich und für sie sehr anstrengend, weil wir uns natürlich die Ebenezer Baptist Church, das historische Feuerwehrhaus und das Haus der Kings ansehen wollten. Wir haben alle drei geschafft. Für mich etwas irritierend, weil mensch liebt ja das Klischee: Das Martin Luther King Memorial gehört zu den Nationalparks. Ergo dessen sind die Mehrheit der Angestellten Ranger. Und Weiße, noch dazu in Uniform. Das kam ordentlich schräg bei mir an. Was mich geärgert und Juliane gekränkt hat war, das einige der schwarzen Angestellten unglaublich unfreundlich zu Juliane gewesen sind. Und immer nur dann, wenn ich nicht in der Nähe gewesen bin. War es, weil sie weiß und blond war und mit deutschem Akzent sprach? Ich weiß es nicht. Denkbar wäre es. Mich hat auf der Suche nach einem Restaurant, um die Wartezeit bis zur Führung im Geburtshaus zu überbrücken, ein Obdachloser gefragt, ob er mir seine „Bälle“ zeigen soll. Nein, danke, das Angebot habe ich höflich ignoriert. Die Gegend rund um die historischen Stätten sah überhaupt aus, dass wir uns zunächst gefragt haben, wo zum Teufel sind wir da bloß gelandet? Die Graffitis internationaler Street Art-Größen (unter anderem der gebürtige Steirer Nychos) an den Feuerwänden verrieten aber, dass das Viertel hipp sein musste. Auch die überaus netten vollbärtigen und tätowierten Jungs, die uns unseren Lunch machten und servierten, sprachen dafür. Ich komme mit den sozialen Widersprüchen in diesem Land nur schwer klar.
Die Führung im Geburtshaus hat ein blinder weißer Ranger gemacht. Und seine Performance war in jeder Hinsicht bemerkenswert. Zum einen hat er mit schauspielerischer Grandezza jedem Mitglied der Familie King eine eigene Stimme gegeben und damit dem Ort Leben eingehaucht, zum anderen hat er es geschafft, den Spirit der Bewegung zu vermitteln und Äußerlichkeiten und Unterschiede vergessen zu machen. Auf jeden Fall für den Moment, und hoffentlich auch langfristiger.
Im Martin Luther King Memorial habe ich zum ersten Mal die Worte von Martin Luther King junior (1929-1968) wirklich vernommen. Ich habe selten so eine Kraft und Klarheit gespürt. Ich habe schon Biographien von Menschen gehört, die überzeugte Atheisten geworden sind, weil sie als Jugendliche eine schlechte Predigt von einem (alten) Trottel gehört haben. Hier, in der Ebenezer Baptist Church, hat ein Mann gepredigt, der mit seinem Mut die USA verändert hat. Und mit seinen Worten aus Mitläufern Bürgerrechtler gemacht hat.
Und um das Kontrastprogramm voll zu machen, im Margaret Mitchell House geleitete uns eine souveräne und gebildete alte Afroamerikanerin durch das Leben und das Apartment der Autorin von „Vom Winde verweht“. Nach dem bürgerlichen Haus der Kings und vor allem nach der Villa Mark Twains war ich überrascht, dass die Autorin des Megabestsellers und Filmklassikers mit ihrem zweiten Mann in einem Zweizimmerapartment gewohnt hat. Die Wohnung hatte etwas von einem Wiener Gemeindebau in den Zwanzigerjahren. Überhaupt stimmte es mich bedenklich, wie vielfältig Menschen in ihren Ansichten sein können. Margaret Mitchell (1900-1949) war eine überzeugte Feministin, brach mit gesellschaftlichen Konventionen, arbeitete als Reporterin, war einmal geschieden und trat vehement für das Stimmrecht von Frauen ein. Aber sie wollte den Raum nicht mit Afroamerikanern teilen.
Obwohl Clark Gable dagegen protestiert hatte, durften die schwarzen Darsteller nicht an der Filmpremiere von „Gone with the Wind“ in Atlanta teilnehmen. Man befürchtete Unruhen. Das war 1939. Der Darsteller des Ashley Wilkes, Leslie Howard, war auch nicht dabei, er wurde 1943 von der deutschen Luftwaffe abgeschossen.
Ich habe die großmütterliche Dame, die uns geführt hat, auf den Rassismus in „Vom Winde verweht“ angesprochen. Ihre Antwort war beeindruckend. Margret Mitchell war in einem Umfeld aufgewachsen, in dem der alte Süden noch am Leben war, und der Bürgerkrieg das tägliche Gesprächsthema in der Familie. Mitchell erfuhr überhaupt erst viel später, dass die Konföderation den Krieg verloren hatte. Sie lebte und schrieb über ihre Kultur, und das war der historische Süden. Für diese klare Analyse verdiente die alte Dame meinen Respekt. Martin Luther King angewandt. Ich kann das Verhalten Margaret Mitchells dank ihr nachempfinden. Das Trauma des Kriegsendes wurde in meiner Familie auch an die späteren Generationen weitergegeben. An mich jedenfalls. Ich habe zuerst Heimatverlust und Opferrolle gelernt, die historische Täterschaft musste ich mir erst erarbeiten. Und das Runterbeten von Fakten im Geschichtsunterricht war dabei eher kontraproduktiv. Das zeigt sich ja leider auch in den aktuellen Wahlergebnissen.
Obwohl das Wetter nach wie vor bescheiden war, wurde unser Heimflug nicht vom Winde verweht.
Diejenigen, die panisch ihren Heimflug vorverlegt hatten, hatten da oft weniger Glück. Bei uns lief alles glatt. Naja, bis auf die Tatsache, dass unser Koffer in Hartford nicht auf dem Gepäckband erschien. Das stimmte meine müde Gattin ein wenig ungeschmeidig. Indes, das gute Stück hatte einen Flug vorher genommen und wartete schon längst vor dem Büro des Special Service auf uns. Das wusste wiederum der nette junge, natürlich hispanische Mann, der meinen Rollstuhl schob.
Nach diesem erfrischenden Zwischenspiel ging es rasch über den nächtlichen Highway nachhause. Nate war auch schon da, die Wolken hingen tief und es war heiß und feucht. Trotzdem: Seltsam, wie schnell man sich zuhause fühlt. Ich spürte ein sehr warmes und vertrautes Gefühl, als ich die Hügel, die Bäume und die Orte Neuenglands vor dem Seitenfenster vorbeiziehen sah. Schaute ganz anders als das flache Georgia aus. In der Küche dann die große Überraschung: Wir hatten bei unserer eiligen Abreise vergessen, die Milch zurück in den Kühlschrank zu stellen. Eine ganze Gallone war grün geworden. Die sich breitmachende Pilzkultur schien kurz davor zu stehen, eine Schrift zu entwickeln. Aber der Müdigkeit gedankt, es war uns völlig wurscht, und wir sind ins Bett gefallen.


Fortsetzung folgt…