Bisher erschienen:
Donnerstag, 16. November 2017
Montag, 13. November 2017
Ein Ösi in Connecticut (Teil 19)
Teil 19: I am Austrian, I will not be Heil-ed!
Jetzt habe ich es auch endlich
gesehen, Rodgers & Hammerstein´s: The
Sound of Music! Das Musical, das für die Mehrheit der US-Amerikaner wie
nichts anderes für Österreich steht. Zusammen mit meiner Frau aus Dresden. Ich
musste 39 Jahre alt werden und nach New Haven gehen. Und wie so oft in den USA
entwickelte sich der Abend völlig anders als von uns Europäern erwartet.
Natürlich wusste ich, dass es
sowas wie The Sound of Music gibt.
Sowohl als Film als auch als Bühnenstück. Ich hatte auch von der von
Trapp-Familie und ihrer Flucht vor dem Anschluss gehört. Als ich 1995 anlässlich
der 50-Jahr Feier der UNO und UNESCO in New York gewesen bin, wurde ich oft
danach gefragt. „Ob Österreich immer noch so ist?“, wollten viele wissen. Nicht
nur von mir und nicht bloß damals. Ich habe viele getroffen, die von der
Fragerei nach Film und Musical schon ziemlich genervt waren. In New Jersey hat
mir eine Studentin aus Oberösterreich erzählt, längst aufgegeben zu haben und
stets zu antworten, dass sie im Sommer im Dirndl mit dem Haflinger zur Schule
geritten ist, und im Winter mit den Schiern hingefahren ist. Da ich oft und
gerne in Salzburg bin, kannte ich auch die geführten Touren für
englischsprachige Touristen. Täglich werden mehrere Busladungen begeisterter
Fans an die Spiel- und Drehorte von The
Sound of Music gekarrt. Und das war es dann auch. Ich dachte an ein
süßliches Klischee. Ein bisserl Jodeln und Hopsen im Dirndl und der Krachledernen
über saftige Weiden. Punkt und aus. Was geht mich das an?
Jede Menge Merchandising... |
Zweiundzwanzig Jahre später wohne
ich in New Haven in Connecticut und treffe Inger, eine Krankenschwester aus
Dänemark, die nicht nur unglaublich gerne Schifährt, sondern dafür auch regelmäßig
die Trapp Family Lodge in Vermont
besucht. In unserer Begegnung versteckten sich für mich also gleich mehrere
Überraschungen: Erstens erfuhr ich, dass es in unserer unmittelbaren Umgebung ein
Schigebiet gibt. Zweitens, dass es von Exil-Österreichern betrieben wird. Und
drittens, dass es hier zigtausende Fans des alpinen Skiweltcups gibt, die auch
alle brav zu den Rennen pilgern. Nicht ganz grundlos, u.a. Mikaela Shiffrin
besuchte die Burke Mountain Academy
in Vermont. Ich bin selbst Schi-Fan, aber wurde dafür in Österreich von den
üblichen Verdächtigen gerne belächelt. Weil das ja außer „uns“ niemanden
interessiert. Eine Meinung, die wohl ungeprüft (Stichwort: Einschalt- und
Übertragungsquoten) von gewissen Nachbarn übernommen wird, die sich in letzter
Zeit bis auf ein paar erfolgreiche Ausnahmen aus Bayern kaum oder nur schlecht
auf den Rennbretteln halten können. Jedenfalls bestimmt hierorts die Trapp Family das Bild von Österreich.
Auf den ersten Blick ist das für mich eine amüsante Schimäre aus
westösterreichischer und bayrischer Folklore. Die Brauerei stellt dafür ein „Wiener“
Bier her, das wirklich wie das Ottakringer
Original schmeckt. Klingt alles wie business
as usual. Stünde da nicht die Flagge der k. u. k. Kriegsmarine im Büro des
zu internationalen Filmruhm gelangten ehemaligen österreichischen
U-Bootkapitäns und Familienpatriarchen von Trapp. Und dieses Detail lieferte
den fixen Punkt, der unseren harmlosen Theaterabend aus den Angeln hob.
Es war Inger, die mich
informierte, dass dieses Wochenende im Shubert-Theater
New Haven eine Produktion von The
Sound of Music lief. Sie wusste ja, dass ich Österreicher bin. Und ich wäre
es nicht, wenn ich ihr gegenüber nicht schon einmal die Schlacht von Helgoland (Österreich
vs. Dänemark 1866) und mein berufliches und privates Interesse an der
österreichischen Marine erwähnt hätte. Weil ich zugegebenermaßen keinen
Schimmer von dem Stück (oder dem Film) hatte, meinte sie, ich müsste mir das unbedingt
ansehen. Die Gattin war von der Vorstellung, fröhliches Trällern im Alpenglühen
zu bestaunen, zunächst nicht wirklich begeistert. Aber Inger und ich erinnerten
sie daran, dass es beim Eheversprechen „in guten wie in schlechten Zeiten“
hieß. Juliane ließ sich hernach auch nicht lange bitten und checkte uns die
Karten. Und voller Erwartung eines fröhlich heiteren Stelldicheins mit der
leichten Muse bestiegen wir unseren Uber und fuhren vor dem Theater vor.
Das Shubert in New Haven sieht
für meine europäischen Begriffe weniger wie ein Theater als vielmehr wie ein
Kinocenter aus. Hohe Glastüren, mannshohe Plakate, Spannteppich und mehrere
Bars die Popcorn, Snacks und Getränke in Plastikbechern verkauften. All das
durfte selbstverständlich in den Zuschauerraum mitgenommen werden. Juliane und
ich tranken vor der Vorstellung jeweils einen Piccolo Sekt und ein
Bourbon-Cola. Aus dem Plastikbecher mit dünnem schwarzem Strohhalm versteht
sich. Der dünne Trinkhalm weist das Getränk als alkoholisch aus. Das war
allerdings der Teil, der mir als Europäer völlig wurscht blieb.
Ganz und gar nicht egal war uns
die Steigung der Zuschauerränge. Der Blick stürzte quasi auf die Bühne. Ganz zu
den Alpen passend überlegten Juliane und ich eine Seilschaft zu bilden. Unter
Zittern und Stöhnen kletterten wir zu unseren Sitzplätzen. Unser exotisches
Idiom weckte das Interesse einer Billeteurin, die uns erzählte, wie sehr sie The Sound of Music liebte. „Edelweiss“
wäre das Lieblingslied ihres Vaters gewesen, und sie müsse dabei jedes Mal
weinen. Das erschien mir ein wenig prosaisch. Noch.
Der erste Akt erfüllte all unsere
Erwartungen. Jodeldüüh, Herzeleid und Heißa hopsasa. Wir fragten uns, ob das
wirklich ein Stück über den Anschluss 1938 war. Die Darstellung der ehrwürdigen
Mütter aus dem Kloster Nonnberg brachte mich zum Schmunzeln, weil meine Tante
bei ihnen im Internat gewesen ist. Der bemitleidenswerten und rebellischen
Seele war hinter den Klostermauern selten zum Singen zumute. Zum Glück war das
Klofenster nicht vergittert. Aber egal, die sieben Kinder spielten allerliebst.
Die Sänger waren hochprofessionell. Und das Publikum war außer Rand und Band. Eine
Stimmung wie im Fußballstadium. Popcorn und Begeisterung vor und nach jeder
Nummer.
Dann kam die Pause. Der nette
Barkeeper erinnerte sich an mich. Aus irgendeinem Grund war er der Meinung,
dass ich vor dem zweiten Akt einen dreifachen Bourbon in meinem Cola brauchte. Dafür
berechnete er auch bloß einen Dollar mehr. God
bless him! Der Rest der Pause verlief wie immer und überall. In der
Herrentoilette hallende Leere, vor der Damenvariante eine endlose Schlange.
Mein Angebot, schnell ins feindliche Lager zu wechseln, lehnte Juliane aber
wohlweißlich ab. Es gibt Dinge, da verstehen US-Amerikaner bei aller zur schaugestellten
Lockerheit einfach keinen Spaß.
Im zweiten Teil des Musicals
blieb uns das Lachen im Hals stecken. Die Stimmung verdüsterte sich zusehends. Ich
war verblüfft, im Hochzeitsanzug des Kapitäns von Trapp die authentische
Uniform eines k. u. k. Korvettenkapitäns zu erkennen. Dann geschah auf der
Bühne das Unausweichliche, die Nazis übernahmen die Kontrolle. Auch hier alle
Uniformen korrekt. Als sie die Trapp-Familie bei den Kaltzberger Festspielen auf die Bühne zwingen, verhüllten fünf
riesige Blutfahnen die Bühne. Vor den Hakenkreuz-Fahnen sang Vater Trapp dann „Edelweiss“.
Wenn ein Wiener bei „Edelweiss“ zu weinen anfängt, dann bedeutet das zwei
Dinge: Erstens, dass die Inszenierung wirklich gut ist. Und zweitens, dass es
um Österreich im Moment nicht gut steht. Juliane war völlig fertig, Sie fühlte
sich von den riesigen Fahnen auf der Bühne bedroht. Sie hatte die Dinger noch
nie live und in der Größe erlebt, in Deutschland sind sie verboten.
Viele US-Amerikaner halten „Edelweiss“
bis heute für ein traditionelles österreichisches Lied oder sogar für die
Nationalhymne, es wurde aber für The
Sound of Music komponiert. Das Symbol ist jedoch authentisch. Das Edelweiß
war das Symbol nicht nur der Gebirgsjäger, sondern auch der so genannten „Vaterländischen“.
Christlich Sozialer und nicht selten katholisch-monarchistischer Widerstand.
Dass beim Einzug in den Nationalrat an bestimmten Revers die blaue Kornblume
durch das Edelweiß ersetzt wurde, ist kein Zufall, sondern Inszenierung. Eine
deren Bedeutung mir erst durch die Inszenierung von The Sound of Music in den USA bewusst gemacht wurde. „Edelweiss“
ist das Abschiedslied an das Österreich, das die Trapp-Familie kannte und
liebte. Und dass ich das Stück oder den Film so überhaupt nicht kannte, das
hinterließ einen fahlen Beigeschmack auf meiner Zunge. Die gleichen Menschen
sind erschüttert, dass wieder Deutschnationale im Nationalrat sitzen, deren Bildungspolitik
erneut dazu geführt hat.
Mein Lieblingssatz aus dem Stück
lautet jedenfalls für jetzt und allezeit: „I am Austrian, I will not be
Heil-ed!“
Fortsetzung folgt...
Da wird das Bühnen-Salzburg eingepackt und in die nächste Stadt gebracht... |
Samstag, 4. November 2017
Aus aktuellem Anlass...
Möchte ich mich entschuldigen.
Bei allen Wählerinnen und Wählern, die ich nach bestem Wissen und Gewissen
überzeugt habe, Peter Pilz in der Nationalratswahl ihre Stimme zu geben. Weil
er sein Mandat nicht antritt. Für viele muss sich das jetzt anfühlen, als wären
sie um ihre Stimme betrogen worden. Dafür möchte ich mich entschuldigen!
Meine Meinung in aller Kürze:
Wenn die angejahrten Vorwürfe der bisher nicht in der Öffentlichkeit
aufgetretenen Mitarbeiterin vor einem entsprechenden Gremium verhandelt wurden,
es eine Einigung und Verurteilung gegeben hat, dann braucht es heute niemanden,
der moralinsauer mit dem Finger darauf zeigt und urteilt. Die dafür zuständige
Instanz hat nämlich bereits geurteilt und einen Schlussstrich gezogen. So funktioniert
unser Rechtssystem. Für alle.
Und einmal mehr als Kassandra: Wer
auch immer diese Kampagne angeleiert hat, sie oder er wird daraus keinen Nutzen
ziehen. Die Wählerinnen und Wähler von Peter Pilz werden nicht reumütig zu Rot
oder Grün zurückkehren. Die Selbstvernichtung der politischen Linken ist um eine
Facette reicher.
Ich bin persönlich sehr enttäuscht. Trotzdem
glaube ich, dass es wichtig ist, sich weiter politisch zu engagieren.
Donnerstag, 2. November 2017
Ein Ösi in Connecticut (Teil 18)
Teil 18: Happy Halloween! Angst und Schrecken in finsterer Nacht.
Heute ist Allerseelen und unser
erstes Halloween in den USA ist auch schon wieder vorbei. Auch der
fünfhundertste Jahrestag der Reformation. Auf beides habe ich mich lange
gefreut, auf „Luther 2017“ mehrere Jahre. Auf Halloween in den USA sogar noch
länger, seit ich die „Treehouse of Horror“-Specials
der Simpsons (1-28) verfolgt habe.
Letztere, nämlich die Macher der Simpsons,
versprachen mir, dass nachdem die kleinen Quälgeister mit ihren erbeuteten
Süßigkeiten ins Bett gebracht sein würden, die großen Dämonen von der Leine
gelassen, und das Halloween für Erwachsene beginnen würde. Lügner, schamlose!
In einer Universitätsstadt hatte
ich mir von Halloween einiges erwartet. Besonders bei um die 20 Grad Celsius Außentemperatur
und Indian Summer. Ideale Bedingungen zum Verkleiden und Ausgehen. Doch nichts,
rein gar nichts war los. Bis auf ein paar erwartungsfrohe alte Säcke wie mich
und ein paar junggebliebene Hexen. Ich bin mit einem Sack Schokolade neben der
Tür gesessen, um auf „trick or treat“ zu warten. Aber das Gruseligste dieses
Abends war das Lauschen auf das Schweigen der Türklingel, das Rauschen der
Bäume und die Stille der Nacht vor den Fenstern. Okay, zwei oder drei
Nachbarskinder krähten fröhlich aus dem offenen Fenster, und irgendwelche
Besoffenen aus einem angrenzenden Viertel bekamen sich in die Haare. Das waren
aber die ganz alltäglichen Typen, und sie waren auch nicht verkleidet. Die schauen
zwar wie Zombies aus, sind aber keine. Wie an jedem anderen Wochentag waren
spätestens um Mitternacht ringsum alle Lichter aus und alle im Bett. Bis zirka
Drei Uhr morgens, dann nämlich stehen die oberen Nachbarn zum traditionellen
Holzschuhtanz auf, den sie Nacht für Nacht für ihre unteren Mitbewohner
aufführen. Ist man den einen die Klampfe würgenden Studenten los, zieht kurz
darauf der nächste ein. Wir sind hier so unglaublich locker, individuell und
gar nicht spießig. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass zumindest in New
Haven am Abend von Halloween genau die Friedhofstille Einzug gehalten hat, die sich
manche Traditionalisten nach Mitteleuropa zurück wünschen, wo inzwischen Partys
mit sexy Hexen und schaurigen Untoten gefeiert werden. Für die Teilnahme müsste
ich mich nicht einmal schminken, nicht nur bin ich krankheitsbedingt scheckig,
ich bin auch grün vor Neid. Wirklich alles in der Welt scheint einem Kreislauf,
einem Auf-und-Ab und Hin-und-Her unterworfen.
Halloween ist die irische
Variante des keltischen samuin oder
Samhain-Fests. Die keltische Kultur nahm in Hallstatt im Salzkammergut ihren
Anfang, mit den Hallstatt-Kelten. Von dort verbreiteten sich Sprache, Brauchtum
und Glauben bis auf die britischen und irischen Inseln. Und von dort weiter in
die USA. Trotzdem habe ich mir neulich eine Dokumentation über die Hallstatt-Kelten (!) angesehen, in dem
kein einziges Wort über den Ort Hallstatt zu hören und kein einziges Bild von
Hallstatt zu sehen war. Nichts, keine Situla von Kuffern, kein Kultwagen von
Strettweg, keine Schnabelkanne vom Dürrnberg. Auch kein Bogenschütze von
Amesbury (Stonehenge). Die interviewten französischen und deutschen Archäologen
haben sich vielmehr gewundert, mit welchem kostbaren Gut diese Vorfahren wohl
gehandelt haben mochten, um derart wertvolle Luxusgüter z.B. von den Griechen zu
erwerben. – *Räusper* - Hall bedeutet
Salz! In Hallstatt im SALZkammergut ist die der Kultur namensgebende Saline. Ob
dieses Auslassen – ich glaube nicht, dass es Unwissen ist – mit der heutigen modernen
und weltoffenen Gesellschaft in Österreich zu tun hat? Wie dem auch sei! An Halloween/Samhain
waren die Tore der Unter- bzw. Anderswelt geöffnet, alle Toten, Geister und
Dämonen hatten zwei Nächte Ausgang. Wenn ich bedenke, dass die
präkolumbianischen Azteken in exakt denselben Nächten (und von Europa
unbeeinflusst) ihr Fest mit genau demselben Inhalt begangen haben, heute heißt
es: Dia de Muertos – dann bekomme ich Gänsehaut.
Während in Europa dank Imperium
Romanum, germanischen Wirtschaftsflüchtlingen (aka Völkerwanderung) und
katholischer Kirche das lebensbejahende Totenfest in ein stilles,
grabsteinschrubbendes und Kerzen anzündendes Allerheiligen verwandelt wurde,
steppten in den USA die Hexen und in Mexiko die Skelette. Durch den
alleinseligmachenden Einfluss der First Church of Income und der Anbetung des
allmächtigen Dollars dreht sich das jetzt alles wieder um. Das heißt, während
meine Nichte und mein Neffe in Österreich eine Halloweenparty feierten,
verabredeten sich die Yale-Studenten zum Lernen, Laufen und Früh-zu-Bett-Gehen.
Jobqualifikation und Selbstoptimierung. Die einzige offizielle Halloweenveranstaltung
der Uni fand zu Mittag statt. Wenigstens einer Stifterstatue an einem College
hat ein Tapferer einen Kürbis aufgesetzt. Es war zum Haare-Raufen.
Die Kinder, auf die ich gewartet
hatte, durften nicht mehr von Haus zu Haus gehen. Ihre Eltern, erzählte man
mir, verabredeten sich nach dem Kindergarten oder der Schule. Man traf sich in
einem Parkhaus, parkte Kofferraum an Kofferraum, und die verkleideten Kleinen
marschierten von einem Auto zum nächsten. Aus den offenen und dekorierten Laderäumen
bekamen sie ihre Tüten und Säcke mit Naschereien gefüllt. Die Geister und
Gespenster blieben unter ihresgleichen. Was zunächst nach Arroganz klingt und
so manche Klassenkämpfer aufschreckt (mein innerer hat auch gleich aufgejault),
hat leider nachvollziehbare soziale Gründe. In letzter Zeit wurden vermehrt
Nadeln, Rasierklingen und sogar Gifte in den Süßigkeiten entdeckt. Ungleichheit,
Neid und Ungerechtigkeit im Zeichen der Freiheit und der Leistungsgesellschaft
tragen Früchte. Was für so viele Generationen von US-Amerikanern für selbstverständlich
galt und die Gemeinschaft gestärkt hat, ist inzwischen zu gefährlich.
Und dann ist der Horror unserer
Tage Wirklichkeit geworden, hat alle Feierstimmung gedämpft. Wie beabsichtigt,
nehme ich an. In Manhattan hat ein Anschlag stattgefunden. Acht Menschen, die
genau wie Juliane und ich den herrlichen Herbsttag bei einem Spaziergang
genossen haben, wurden ermordet. Und ich kann dazu nur schreiben, dass ich inzwischen
erschöpft bin. Vielleicht hätte ich ein anderes Buch als Feierabendlektüre
wählen sollen als Michel Houellebeqs „Unterwerfung.“ Ganz bestimmt hätte ich
nicht die Kommentare auf Facebook lesen sollen, die schalen Witzchen und unpassenden
Vergleiche. Und vor allem hätte ich nicht den Nachrichten über die Hintergründe
des Attentats und der Reaktion Präsident Trumps zuhören sollen. Der Kongress
soll demnächst über die Abschaffung der Greencard-Lotterie, der „diversity
lottery“, abstimmen. Ich möchte hysterisch auflachen wie ein Besessener:
Vielfältiger, bunter und bereichert sollte unsere westliche Kultur werden. Was
wir bekommen haben sind Angst auf die Straße zu gehen, Grenzkontrollen im Schengen-Raum
und Einwanderungsstopps in die Neue Welt. Fromm und keusch bleiben wir zuhause,
schlucken unsere Werte hinunter, ballen die Fäuste in der Tasche und verhüllen
unsere Sexualität. Aus Entdeckern und Eroberern sind Leisetreter geworden.
Gruselig und schauderhaft sind
auch die Tagesdecken in US-amerikanischen Motels und Hotels. Niemals auf den
Gedanken kommen, sich mit einem dieser jauchigen Lappen zuzudecken! Haut- bzw,
Körperkontakt empfehle ich tunlichst zu vermeiden. Ein warnender Hinweis ist
für den geübten Beobachter schon die Tatsache, dass diese kunststoffhaltigen
und steifen Gewebe nur das untere Drittel oder Viertel des Bettes bedecken. Das
rührt daher, dass sich US-Amerikaner unter Tags in Schuhen aufs Bett legen.
Jedenfalls auf ein Hotelbett. Ein Schauermärchen, das mir mein seliger
Großvater noch über „die Russen“ in ihren dreckigen Stiefeln erzählt hat. Die
moderne Highheels- und Turnschuh-Variante ist unter anderem den reality shows des privaten US-Bildungsfernsehens
zu entnehmen.
Im neu renovierten Badezimmer eines
Motels hatte ich dann eine Begegnung der dritten Art mit einer fremden, aber
legendären Spezies. Ich öffnete die Tür und drehte das Licht auf. Da saß sie
mit aufgestellten Fühlern und schreckgeweiteten Facettenaugen: die
Küchenschabe. Dass die Kleine ebenso, wenn nicht noch mehr, von meinem Anblick
entsetzt gewesen ist wie ich von ihrem, war deutlich spürbar. Da stand ich nun,
in aller Allmacht über Leben und Tod in meinen Hausschuhen vor ihr.
Draufsteigen, oder nicht? Ich hatte weder Lust, dieses unschuldige Leben zu
nehmen, noch eine Unzahl von unter den Flügeln mitgebrachten Nachkommen und potentiellen
Rächern über den Fußboden zu verteilen. Die Kleine hatte mir nichts getan. Und
dass sie in den üblichen Verstecken und Ritzen wohl keinen Platz mehr gefunden
hatte, verhieß auch nichts Gutes. Schlafende Riesen soll man nicht wecken. Ich drehte
also das Licht wieder ab. Wie erwartet traf ich meine Küchenschabe kurz darauf
auf dem Flur. Das Laufen auf dem neu verlegten Laminat fiel ihr nicht leicht. Endlich
verschwand sie via Sesselleiste ins Nachbarzimmer. Ich hoffe für sie, dass in
den dunklen Ritzen und Spalten dort noch mehr Platz war. So etwas kommt eben
raus, wenn man seine Wände aus Holz und Papier baut.
Und für alle, die das europäische
Modell der öffentlich-rechtlichen Sender abschaffen möchten, noch ein
zweckdienlicher Hinweis: Bei dem Versuch, mir „Treehouse of Horror XXVIII“ auf FOX anzusehen, musste ich fünf
Werbeunterbrechungen mit jeweils vier bis maximal fünf Werbeclips über mich
ergehen lassen. Und die sind länger und penetranter als in Europa, trust me.
Bei all den angepriesenen Smartphones, Onlinebanking-Optionen und
Versicherungen blieb die größte Herausforderung, der halbstündigen Handlung zu
folgen.
Der ganz alltägliche Terror
offenbarte sich vor jedem Arztbesuch. Hier lauert ein Wust von Organisation auf
die Arglosen. Das Gesundheitssystem ist sauteuer, organisieren darf sich jede
und jeder alles selbst. Zuerst checkt man sich selbst einen Termin, danach
erfährt man, ob der Arzt mit der Krankenversicherung einen Vertrag hat. Davor liegen
jedoch die Rechnung auf dem Tisch, und die Patienten auf dem Spannteppich.
Kommt man dort, zu Füßen der Sprechstundenhilfe, langsam wieder zu sich und hat
den Anblick der Kostenstellen verdaut, kommt das Bezahlen. Fachkundiges
Personal hebt einen auf, dreht auf den Kopf und schüttelt die letzten Nickels, Dimes
und Quarters aus den Taschen. Dann strauchelt man heimwärts und versucht, die
Arzt- und/oder Behandlungskosten ersetzt zu bekommen. Viel Glück dabei!
Auf der Straße scheppern derweil liebevoll
mit Aufklebern zusammengehaltene Rostlauben vorbei, aus deren Fenstern es
dröhnt. Schallwellen rütteln an meinen Ohren, die wie Werkstattgeräusche und rhythmisches
Keuchen und Grunzen klingen. Wohl um die Motor- und Auspuffschäden zu
übertönen. Zunächst bin ich irritiert, dann erinnere ich mich, das soll Hip Hop
sein. Hier sind alle Autofahrer sehr sportlich, auf Asphalt fährt die Mehrheit
Slicks. Die gibt es beim Gebrauchtreifenhändler des Vertrauens zu erwerben. Der
Einsatz profilloser Reifen verleiht einer Taxifahrt in strömendem Regen erst den
letzten, erfrischenden Kick. Um sich das Elend der lizensierten Taxiunternehmen
zu ersparen, bestellt man sich am besten einen Lohnsklaven – *Sorry!* – Uber. Als
nächstes röhrt dann einer ohne Helm auf dem Motorrad vorbei. Er ist ja schon einundzwanzig
und kann tun, was er will. Klar, wer keine Krankenversicherung hat, der braucht
auch keinen Helm.
Last but not least habe ich meine
erste „flash flood warning“ auf das Handy bekommen. Bei dem Alarmgeräusch
mitten in der Nacht habe ich mir beinahe in die Hose gemacht. Zum Glück waren
nur andere, tiefer gelegene Stadtteile von der Springflut direkt betroffen. So
etwas wie „hard rain“ habe ich noch nicht erlebt. Tropisch anmutende
Verhältnisse in Neuengland. Sturm und Regenfall, der innerhalb von Minuten die
Kanalisation überfordert und Straßenzüge unter Wasser setzt. Die riesigen Bäume
trotzten dem Wind, ohne größere Schäden. Aber in einem Holzhaus ist man auch
bei Naturereignissen dieser Art nicht nur dabei, sondern mittendrin. Ich lag im
Bett, starrte an die Decke und hörte den Regen peitschen, die Äste knarzen und
den Sturmwind heulen. Das klang unheimlich und fremd, bis die oberen Nachbarn
ihre Holzschuhe anzogen, und ich wieder ein warmes und heimeliges Gefühl bekam.
Genug des Schreckens. Halloween ist vorbei.
Fortsetzung folgt...
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