Teil 29: Endlich Frühling!
Frühling in Connecticut. Der
Dauerregen ist zu Ende. Die Sonne scheint, und die Bäume blühen. Die Squirrels
hängen kopfüber in den Ästen und keckern. Offensichtlich ist ihr ganzes Blut
gerade anderswo, und sie sorgen so für Ausgleich. Die Vorgärten präsentieren
sich Krokus-Blau, Veilchen-Lila und Schneeglöckchen-Weiß. Seit neuestem auch
Löwenzahn-Gelb. Die Bienen eilen mit vollen Höschen zwischen die Blütensträucher,
und die Bienchen sind die einzigen, die sich über volle Hosen freuen dürfen.
Auf dem lichtblauen Himmel drehen die Bussarde majestätisch ihre Kreise,
bewahren einen kühlen Kopf und den Überblick über das Sprießen, Summen und
Brummen in den Parks und Grünanlagen.
Ich bin derweil noch immer damit
beschäftigt zu lernen, europäische Namen und Begriffe so falsch auszusprechen,
dass mich meine US-amerikanischen Gesprächspartner richtig verstehen. Wo das
Problem liegt? Für mich zum Beispiel darin, auf einem Plakat für eine
Konzertreihe in Wolsey Hall den Zusammenhang zwischen dem Veranstaltungstitel
„Back to Back“ und Johann Sebastian Bach herzustellen. Der Wortwitz erschließt
sich, wenn man „Bach“ landesüblich und nicht Deutsch ausspricht. Wobei
„landesüblich“ natürlich wie überall anders auf der Welt auch gleichbedeutend
mit „richtig“ verstanden wird. Und jetzt stelle man sich das Ganze mit
Französischen, Lateinischen oder Altgriechischen Begriffen vor, unter anderen
mit dem Morbus Raynaud in meinen Fingern und Zehen. Der Name klingt eigentlich
wie Renault. Die hiesige Version kommt da allerdings nicht ansatzweise hin,
weder zum französischen Namen der Krankheit noch zu dem der Automarke. Das
Ansingen von alten Gus Backus-Schlagern, z.B. von aus Kindheitserinnerungen
mühsam verdrängten Perlen der Schlagermusik wie „Brauner Bär und weiße Taube“,
kann erschreckender Weise wirklich helfen, den passenden Zungenschlag zu
treffen. Und für alle, die Gus Backus nicht mehr kennen, Sarah Jane Scotts beliebte
Weisen erledigen den Job genauso gut.
Gelernt haben Juliane und ich inzwischen
auch, dass es ein furchtbares Missverständnis geworden wäre, wenn wir abends den
Notruf 911 gerufen hätten, als eine unserer jugendlichen Nachbarinnen bei zirka
drei bis sechs Grad Außentemperatur nur im Bademantel und barfuß hinaus auf die
Straße gestürzt war. Sie war nämlich weder auf der Flucht vor häuslicher
Gewalt, noch waren ihr ein Einbrecher oder sonst ein Unhold auf den Fersen. Sie
holte sich bloß ihre Pizza vom Pizzaboten im auf der Fahrbahn geparkten Auto.
Wir erinnern uns: barfuß. Bestimmt, um dann auf der Couch mit angezogenen Füßen
die Pizza direkt aus der Schachtel zu verputzen. Ein entsprechender Fußabdruck
einer unserer Vormieterinnen ziert unser weißes Sofa. Unter der Tagesdecke. Aber
was verzapfe ich da schon wieder für Vorurteile?
Yale Philharmonia, Wolsey Hall. |
Jede Menge Vorurteile wurden
dieser Tage widerlegt und bestätigt. Ein mehrfach bestätigtes positives
Vorurteil meinerseits ist die hohe Professionalität der Yale School of Music.
Die Musikerinnen und Sänger sind spitze. Jedes Konzert und jede Aufführung sind
ein Ohrenschmaus. Auf dieser Grundlage und von der professionellen Grafik und
Bildbearbeitung der Ankündigung beeinflusst, dachte ich dasselbe auch von den
Tanzgruppen der Yale Universität. Meine Therapeutin, eine ehemalige Ballerina
mit osteuropäischen Wurzeln, hat an dieser Stelle meiner Erzählung schon
gelacht. Sie sagte, ich hätte sie fragen sollen, bevor wir die Karten für die
Präsentation am Semesterende gekauft hatten. Herzlich gelacht hat auch meine
ebenso perfektionistische Gattin, als wir in der Pause die Vorstellung frühzeitig
verließen. Zusammen mit ein paar anderen Besuchern, die keine Freundinnen der
Darsteller oder Undergraduates (= Studenten vor dem ersten akademischen Grad)
waren.
Von Beginn an waren in etwa ebenso
viele Tänzerinnen und Darsteller auf der Bühne wie Publikum davor. Der Blick in
die Runde brachte mich soweit, mich augenblicklich uralt zu fühlen. Insbesondere
bei den sexy bzw. erotisch gedachten Darbietungen fühlte ich mich rasch wie der
in Wien sprichwörtliche „Kinderverzahrer“. Die offenherzigen Formen und
Bewegungen entsprachen dem Körperbewusstsein von Frühpubertierenden. Ich wusste
vor Scham gar nicht, wo ich hingucken sollte. Völlig andere Generation, hätte
ein lieber Freund von mir ausgerufen. Ich ignorierte beständig die Details und bestaunte
fasziniert das allgemeine Geschehen. Um bejubelt und beklatscht zu werden,
reichte das Betreten der Bühne. Ich habe seit ich vierzehn oder fünfzehn Jahre
alt war in Theaterstücken und Performances mitgespielt, und in diesem Probenzustand
hätte ich mich nicht ins Rampenlicht getraut. Eben weil ich eine Rampensau bin.
Und mich meine eigene Mutter bis zur Heiserkeit ausgebuht hätte. Hier im
Zuschauerraum klingelten mir schon nach jedem Black vor einem Szenenwechsel vor
Jubel und Beifall die Ohren. Die populärsten Akteurinnen wurden mit ihren Namen
bejubelt. Da tönte es laut: „Okay, Cara!“ und „Okay, Sara!“ Und meiner Frau
entglitt dazu mehrfach ein verzweifeltes: „Warum?“
Suchbild: Finde die institutionalisierten Geschlechterrollen! |
Ich weiß jetzt immerhin endgültig,
dass das Vorurteil, alle Afroamerikaner könnten tanzen, falsch ist. Schwule
Jungs dagegen können definitiv tanzen. Sie waren die einzigen, die mir glaubhaft
vermittelten, dass sie ihr Tun ernst meinten. Von allen anderen hatte ich den
Eindruck, sie zeigten mir Posen, die Tänzerinnen und Tänzer darstellten. Von
Körperspannung und Selbstverständlichkeit war noch nicht viel zu sehen. Und die
Rollen, die sie für sich gewählt hatten, verkörperten trotz altgriechischer Szenentitel
das Klischee einer Lebensrealität, die mit der von Yale-Studenten so vieles
gemeinsam hatte wie ein Fiat Panda mit einem Porsche Cayenne. Hip-Hop und Rap
bildeten den Großteil der Musikauswahl. Die Choreographien imitierten in
schlimmer Weise YouTube. Es stimmt, dass es noch Gesellschaften gibt, in denen
es außergewöhnlich erscheint, wenn eine Frau Single ist und ihre Rechnungen
selbst bezahlt, für die Mehrheit der westlichen Welt ist das meiner Meinung
nach normal und schlicht notwendig. Die Aufführung hinterließ auf meiner Zunge
gerade darum einen bitteren Beigeschmack, weil die meisten der Mädels und Jungs
auf und vor der Bühne bezahlten keine ihrer „Bills“ selbst. Das machten größtenteils
Mommy und Daddy daheim. Urlaubstrips inklusive. Und das sie überhaupt hier in
Yale studierten, das hing von der wirtschaftlichen Situation ihrer Familie und
einem Empfehlungswesen ab, das erblich ist. Oder von hart erarbeiteten
Stipendien. Erst diese günstige und privilegierte Ausgangssituation bietet innerhalb
des politischen und wirtschaftlichen Systems der USA überhaupt die Möglichkeit,
all die Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die hier geboten und errungen werden.
Wobei wiederum die meisten der Lehrenden ihre Abschlüsse an anderen Unis
gemacht haben. Absolventen verteilen sich auf die gutbezahlten und
prestigeträchtigen Jobs. Ein Teufelskreis. Und ich fürchte, die derart von gerade
diesen Jugendlichen dargestellte und als Role Model interpretierte
Gesellschaftsschicht hätte sich von ihrer Aufführung und Verkörperung ordentlich
beleidigt gefühlt. Check your privilege!
Wie dem auch sei. Wir haben
gelernt, diese Aufführungen sind von und für Undergraduates. Sie funktionieren
nicht nach dem Leistungs-, sondern nach dem Social Media- oder
Wunschkind-Prinzip: Du bist toll, und wir sind dazu da, damit du dich gut
fühlst. Fürs Teilnehmen gibt´s für jede und jeden eine Urkunde. Für alles
Applaus. Und wenn Du Mist baust, dann darf man das nicht überwerten. Und by the
way, du gehörst auch noch zur Elite. Und da wundert sich wirklich noch jemand,
dass es ein wachsendes Problem mit schrumpfender Frustrationstoleranz gibt?
Ich beobachte eine Elite, die wie
selbstverständlich alle ihre Vorteile genießt, aber neuerdings alle äußeren
Zeichen ablehnt, die jene unsichtbare Schwelle aufrichten, die gesellschaftliche
Schranken ermöglicht. Kleidung und Benehmen einerseits, die imposante Architektur
der Colleges andererseits. Dieser innere Widerspruch löst die von früheren
Generationen bewusst erhaltene Schwellenangst auf. Was auf den ersten Blick
positiv klingt, birgt meiner Meinung nach eine große Gefahr für das
Gleichgewicht dieses Systems, da die tatsächlichen gesellschaftlichen Grenzen
erhalten werden: Die Unis sind keine Sicherheitszonen für die Nachkommen mehr. Dieser
Tage wurde der erste bewaffnete Überfall innerhalb eines so genannten
Dormitorys gemeldet. Zwei Studenten wurden auf ihrem Zimmer in einem Yale
Residence College ausgeraubt. Elektronik und Bargeld gestohlen. Vom Täter keine
Spur. Wie die universitätsfremde Person dorthin gelangt war, trotz Security und
alle möglichen Sicherheitsschranken, das wird noch für viel Kopfzerbrechen
sorgen und wahrscheinlich ein paar Anwälte beschäftigen. Die Undergraduates
gelten rechtlich als minderjährig, die Uni übernimmt quasi die Elternschaft (in loco parentis). Jedenfalls beim
Zusehen dieser in jeder Hinsicht bemerkenswerten Tanzaufführung fühlte ich
deutlich die Richtigkeit der Theorie, dass ein Universitätsstudium die Kindheit
verlängert. Und das erscheint auch von allen Beteiligten gewünscht.
Ich konnte es nicht erwarten,
erwachsen zu werden. Als ich als Jugendlicher „Brave New World“ von Aldous
Huxley gelesen hatte, habe ich mir am Ende gewünscht, in die Strafkolonie am
Ende des Romans verbannt zu werden. Zu all den Querdenkern und Intellektuellen,
die nicht ins System passten und das auch gar nicht wollten. Die großen
US-amerikanischen Unis entsprechen dieser Vorstellung bis zu einem gewissen
Grad. Es sind Inseln der Seligen inmitten eines Ozeans aus Armut,
Ungleichbehandlung, Alltagsrassismus und wirtschaftlichem Druck. Hier gilt
keines der in Europa geläufigen Vorurteile über die USA. Klischees, die über
dem Atlantik auch gerne gehegt und genährt werden, um sich als Alte Welt
überlegen zu fühlen. Hier leben und von hier stammen die meisten der sechs von
zehn Amerikanern, die gegen Donald Trump´s Politik sind.
Unterm Strich muss ich mir nach
alldem zurecht den Vorwurf gefallen lassen, dass ich auch zu den Privilegierten
gehöre, über die ich mich weiter oben mokiert habe. Ja noch schlimmer, bin ich
doch noch nicht einmal selbst der Gelehrte, sondern bloß der Ehepartner.
Zu meinen angenehmsten
Privilegien gehört, dass ich mir großartige Vorträge hervorragender
Wissenschaftler anhören kann. Zuletzt von Cristóbal Rovira Kaltwasser über
Populismus. Über die Politik, die wie keine andere „das Volk“ und „die Elite“ zu
Widersachern erklärt und gegeneinander ausspielt. Da werden Millionäre zu Anwälten
des kleinen Mannes gemünzt, und Lügen als bares Geld genommen. Auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht: „Geh Du weg, dass ich hin kann!“ Die
Veranstaltung musste aus Platzgründen verlegt werden. Faszinierend, wie wenig
populär Vorträge über Populismus sind. Wir waren insgesamt nur sechs Männer und
zwei (!) Frauen. Es war gerade darum hoch interessant zu erfahren, dass
weltweit der Populismus viel häufiger gescheitert ist als er erfolgreich bleibt.
Von wegen auf dem Vormarsch! Da ist es doch für gewisse Politiker richtig angenehm,
dass Inhalte, Ergebnisse, Zahlen und Fakten der Geistes- und Sozialwissenschaften
der Öffentlichkeit als „weich“ und „exotisch“ dargestellt werden. Auch von populären
Vertretern der so genannten „echten Wissenschaft“. Von den elitären
Intellektuellen und Vertretern der „Orchideenfächer“ möchte niemand mehr, oder nur
noch sehr wenige, erklärt bekommen, wie das System funktioniert, das so viele
an der Nase herumführt. Also weg damit, den Elfenbeinturm einsparen und
Allgemeinnützliches mit dem Geld finanzieren!
Aber im Moment weht hier ein ganz
anderer, warmer Wind. Wir haben Frühling. Ich genieße, was geht. Der Dauerregen
ist vorbei. Der Himmel ist Cyan-Blau. Die Tage werden länger, und die Hosen endlich
kürzer. Ich freue mich schon sehr auf meine Cargo Shorts. Ich bin wieder mehr zu
Fuß unterwegs. Jedes Mal ein wenig länger und weiter. Vorbei an den Narzissen-Beeten
vor und zwischen den Wohncolleges. Unter dunkelrot blühenden Alleebäumen die
wuchtigen Departments und Bibliotheken entlang zu Harkness Tower mit seinem
Glockenspiel. Ein wenig Gothic Novel im Sonnenschein. Etwas Ausrasten im
Schatten der Magnolienblüten. Dann wieder zurück dem grellen Leuchten der
Forsythien auf dem Science Hill entgegen. Ein paar Stunden unterwegs, und ich habe
den Campus nicht verlassen.
Ich bin Gilligan, und Yale ist
meine Insel!
Fortsetzung folgt…