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Mittwoch, 25. April 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 29)


Teil 29: Endlich Frühling!


Frühling in Connecticut. Der Dauerregen ist zu Ende. Die Sonne scheint, und die Bäume blühen. Die Squirrels hängen kopfüber in den Ästen und keckern. Offensichtlich ist ihr ganzes Blut gerade anderswo, und sie sorgen so für Ausgleich. Die Vorgärten präsentieren sich Krokus-Blau, Veilchen-Lila und Schneeglöckchen-Weiß. Seit neuestem auch Löwenzahn-Gelb. Die Bienen eilen mit vollen Höschen zwischen die Blütensträucher, und die Bienchen sind die einzigen, die sich über volle Hosen freuen dürfen. Auf dem lichtblauen Himmel drehen die Bussarde majestätisch ihre Kreise, bewahren einen kühlen Kopf und den Überblick über das Sprießen, Summen und Brummen in den Parks und Grünanlagen.
Ich bin derweil noch immer damit beschäftigt zu lernen, europäische Namen und Begriffe so falsch auszusprechen, dass mich meine US-amerikanischen Gesprächspartner richtig verstehen. Wo das Problem liegt? Für mich zum Beispiel darin, auf einem Plakat für eine Konzertreihe in Wolsey Hall den Zusammenhang zwischen dem Veranstaltungstitel „Back to Back“ und Johann Sebastian Bach herzustellen. Der Wortwitz erschließt sich, wenn man „Bach“ landesüblich und nicht Deutsch ausspricht. Wobei „landesüblich“ natürlich wie überall anders auf der Welt auch gleichbedeutend mit „richtig“ verstanden wird. Und jetzt stelle man sich das Ganze mit Französischen, Lateinischen oder Altgriechischen Begriffen vor, unter anderen mit dem Morbus Raynaud in meinen Fingern und Zehen. Der Name klingt eigentlich wie Renault. Die hiesige Version kommt da allerdings nicht ansatzweise hin, weder zum französischen Namen der Krankheit noch zu dem der Automarke. Das Ansingen von alten Gus Backus-Schlagern, z.B. von aus Kindheitserinnerungen mühsam verdrängten Perlen der Schlagermusik wie „Brauner Bär und weiße Taube“, kann erschreckender Weise wirklich helfen, den passenden Zungenschlag zu treffen. Und für alle, die Gus Backus nicht mehr kennen, Sarah Jane Scotts beliebte Weisen erledigen den Job genauso gut.
Gelernt haben Juliane und ich inzwischen auch, dass es ein furchtbares Missverständnis geworden wäre, wenn wir abends den Notruf 911 gerufen hätten, als eine unserer jugendlichen Nachbarinnen bei zirka drei bis sechs Grad Außentemperatur nur im Bademantel und barfuß hinaus auf die Straße gestürzt war. Sie war nämlich weder auf der Flucht vor häuslicher Gewalt, noch waren ihr ein Einbrecher oder sonst ein Unhold auf den Fersen. Sie holte sich bloß ihre Pizza vom Pizzaboten im auf der Fahrbahn geparkten Auto. Wir erinnern uns: barfuß. Bestimmt, um dann auf der Couch mit angezogenen Füßen die Pizza direkt aus der Schachtel zu verputzen. Ein entsprechender Fußabdruck einer unserer Vormieterinnen ziert unser weißes Sofa. Unter der Tagesdecke. Aber was verzapfe ich da schon wieder für Vorurteile?
Yale Philharmonia, Wolsey Hall.
Jede Menge Vorurteile wurden dieser Tage widerlegt und bestätigt. Ein mehrfach bestätigtes positives Vorurteil meinerseits ist die hohe Professionalität der Yale School of Music. Die Musikerinnen und Sänger sind spitze. Jedes Konzert und jede Aufführung sind ein Ohrenschmaus. Auf dieser Grundlage und von der professionellen Grafik und Bildbearbeitung der Ankündigung beeinflusst, dachte ich dasselbe auch von den Tanzgruppen der Yale Universität. Meine Therapeutin, eine ehemalige Ballerina mit osteuropäischen Wurzeln, hat an dieser Stelle meiner Erzählung schon gelacht. Sie sagte, ich hätte sie fragen sollen, bevor wir die Karten für die Präsentation am Semesterende gekauft hatten. Herzlich gelacht hat auch meine ebenso perfektionistische Gattin, als wir in der Pause die Vorstellung frühzeitig verließen. Zusammen mit ein paar anderen Besuchern, die keine Freundinnen der Darsteller oder Undergraduates (= Studenten vor dem ersten akademischen Grad) waren.
Von Beginn an waren in etwa ebenso viele Tänzerinnen und Darsteller auf der Bühne wie Publikum davor. Der Blick in die Runde brachte mich soweit, mich augenblicklich uralt zu fühlen. Insbesondere bei den sexy bzw. erotisch gedachten Darbietungen fühlte ich mich rasch wie der in Wien sprichwörtliche „Kinderverzahrer“. Die offenherzigen Formen und Bewegungen entsprachen dem Körperbewusstsein von Frühpubertierenden. Ich wusste vor Scham gar nicht, wo ich hingucken sollte. Völlig andere Generation, hätte ein lieber Freund von mir ausgerufen. Ich ignorierte beständig die Details und bestaunte fasziniert das allgemeine Geschehen. Um bejubelt und beklatscht zu werden, reichte das Betreten der Bühne. Ich habe seit ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war in Theaterstücken und Performances mitgespielt, und in diesem Probenzustand hätte ich mich nicht ins Rampenlicht getraut. Eben weil ich eine Rampensau bin. Und mich meine eigene Mutter bis zur Heiserkeit ausgebuht hätte. Hier im Zuschauerraum klingelten mir schon nach jedem Black vor einem Szenenwechsel vor Jubel und Beifall die Ohren. Die populärsten Akteurinnen wurden mit ihren Namen bejubelt. Da tönte es laut: „Okay, Cara!“ und „Okay, Sara!“ Und meiner Frau entglitt dazu mehrfach ein verzweifeltes: „Warum?“
Suchbild: Finde die institutionalisierten Geschlechterrollen!
Ich weiß jetzt immerhin endgültig, dass das Vorurteil, alle Afroamerikaner könnten tanzen, falsch ist. Schwule Jungs dagegen können definitiv tanzen. Sie waren die einzigen, die mir glaubhaft vermittelten, dass sie ihr Tun ernst meinten. Von allen anderen hatte ich den Eindruck, sie zeigten mir Posen, die Tänzerinnen und Tänzer darstellten. Von Körperspannung und Selbstverständlichkeit war noch nicht viel zu sehen. Und die Rollen, die sie für sich gewählt hatten, verkörperten trotz altgriechischer Szenentitel das Klischee einer Lebensrealität, die mit der von Yale-Studenten so vieles gemeinsam hatte wie ein Fiat Panda mit einem Porsche Cayenne. Hip-Hop und Rap bildeten den Großteil der Musikauswahl. Die Choreographien imitierten in schlimmer Weise YouTube. Es stimmt, dass es noch Gesellschaften gibt, in denen es außergewöhnlich erscheint, wenn eine Frau Single ist und ihre Rechnungen selbst bezahlt, für die Mehrheit der westlichen Welt ist das meiner Meinung nach normal und schlicht notwendig. Die Aufführung hinterließ auf meiner Zunge gerade darum einen bitteren Beigeschmack, weil die meisten der Mädels und Jungs auf und vor der Bühne bezahlten keine ihrer „Bills“ selbst. Das machten größtenteils Mommy und Daddy daheim. Urlaubstrips inklusive. Und das sie überhaupt hier in Yale studierten, das hing von der wirtschaftlichen Situation ihrer Familie und einem Empfehlungswesen ab, das erblich ist. Oder von hart erarbeiteten Stipendien. Erst diese günstige und privilegierte Ausgangssituation bietet innerhalb des politischen und wirtschaftlichen Systems der USA überhaupt die Möglichkeit, all die Fähigkeiten und Kenntnisse zu erwerben, die hier geboten und errungen werden. Wobei wiederum die meisten der Lehrenden ihre Abschlüsse an anderen Unis gemacht haben. Absolventen verteilen sich auf die gutbezahlten und prestigeträchtigen Jobs. Ein Teufelskreis. Und ich fürchte, die derart von gerade diesen Jugendlichen dargestellte und als Role Model interpretierte Gesellschaftsschicht hätte sich von ihrer Aufführung und Verkörperung ordentlich beleidigt gefühlt. Check your privilege!
Wie dem auch sei. Wir haben gelernt, diese Aufführungen sind von und für Undergraduates. Sie funktionieren nicht nach dem Leistungs-, sondern nach dem Social Media- oder Wunschkind-Prinzip: Du bist toll, und wir sind dazu da, damit du dich gut fühlst. Fürs Teilnehmen gibt´s für jede und jeden eine Urkunde. Für alles Applaus. Und wenn Du Mist baust, dann darf man das nicht überwerten. Und by the way, du gehörst auch noch zur Elite. Und da wundert sich wirklich noch jemand, dass es ein wachsendes Problem mit schrumpfender Frustrationstoleranz gibt?
Ich beobachte eine Elite, die wie selbstverständlich alle ihre Vorteile genießt, aber neuerdings alle äußeren Zeichen ablehnt, die jene unsichtbare Schwelle aufrichten, die gesellschaftliche Schranken ermöglicht. Kleidung und Benehmen einerseits, die imposante Architektur der Colleges andererseits. Dieser innere Widerspruch löst die von früheren Generationen bewusst erhaltene Schwellenangst auf. Was auf den ersten Blick positiv klingt, birgt meiner Meinung nach eine große Gefahr für das Gleichgewicht dieses Systems, da die tatsächlichen gesellschaftlichen Grenzen erhalten werden: Die Unis sind keine Sicherheitszonen für die Nachkommen mehr. Dieser Tage wurde der erste bewaffnete Überfall innerhalb eines so genannten Dormitorys gemeldet. Zwei Studenten wurden auf ihrem Zimmer in einem Yale Residence College ausgeraubt. Elektronik und Bargeld gestohlen. Vom Täter keine Spur. Wie die universitätsfremde Person dorthin gelangt war, trotz Security und alle möglichen Sicherheitsschranken, das wird noch für viel Kopfzerbrechen sorgen und wahrscheinlich ein paar Anwälte beschäftigen. Die Undergraduates gelten rechtlich als minderjährig, die Uni übernimmt quasi die Elternschaft (in loco parentis). Jedenfalls beim Zusehen dieser in jeder Hinsicht bemerkenswerten Tanzaufführung fühlte ich deutlich die Richtigkeit der Theorie, dass ein Universitätsstudium die Kindheit verlängert. Und das erscheint auch von allen Beteiligten gewünscht.
Ich konnte es nicht erwarten, erwachsen zu werden. Als ich als Jugendlicher „Brave New World“ von Aldous Huxley gelesen hatte, habe ich mir am Ende gewünscht, in die Strafkolonie am Ende des Romans verbannt zu werden. Zu all den Querdenkern und Intellektuellen, die nicht ins System passten und das auch gar nicht wollten. Die großen US-amerikanischen Unis entsprechen dieser Vorstellung bis zu einem gewissen Grad. Es sind Inseln der Seligen inmitten eines Ozeans aus Armut, Ungleichbehandlung, Alltagsrassismus und wirtschaftlichem Druck. Hier gilt keines der in Europa geläufigen Vorurteile über die USA. Klischees, die über dem Atlantik auch gerne gehegt und genährt werden, um sich als Alte Welt überlegen zu fühlen. Hier leben und von hier stammen die meisten der sechs von zehn Amerikanern, die gegen Donald Trump´s Politik sind.
Unterm Strich muss ich mir nach alldem zurecht den Vorwurf gefallen lassen, dass ich auch zu den Privilegierten gehöre, über die ich mich weiter oben mokiert habe. Ja noch schlimmer, bin ich doch noch nicht einmal selbst der Gelehrte, sondern bloß der Ehepartner.
Zu meinen angenehmsten Privilegien gehört, dass ich mir großartige Vorträge hervorragender Wissenschaftler anhören kann. Zuletzt von Cristóbal Rovira Kaltwasser über Populismus. Über die Politik, die wie keine andere „das Volk“ und „die Elite“ zu Widersachern erklärt und gegeneinander ausspielt. Da werden Millionäre zu Anwälten des kleinen Mannes gemünzt, und Lügen als bares Geld genommen. Auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht: „Geh Du weg, dass ich hin kann!“ Die Veranstaltung musste aus Platzgründen verlegt werden. Faszinierend, wie wenig populär Vorträge über Populismus sind. Wir waren insgesamt nur sechs Männer und zwei (!) Frauen. Es war gerade darum hoch interessant zu erfahren, dass weltweit der Populismus viel häufiger gescheitert ist als er erfolgreich bleibt. Von wegen auf dem Vormarsch! Da ist es doch für gewisse Politiker richtig angenehm, dass Inhalte, Ergebnisse, Zahlen und Fakten der Geistes- und Sozialwissenschaften der Öffentlichkeit als „weich“ und „exotisch“ dargestellt werden. Auch von populären Vertretern der so genannten „echten Wissenschaft“. Von den elitären Intellektuellen und Vertretern der „Orchideenfächer“ möchte niemand mehr, oder nur noch sehr wenige, erklärt bekommen, wie das System funktioniert, das so viele an der Nase herumführt. Also weg damit, den Elfenbeinturm einsparen und Allgemeinnützliches mit dem Geld finanzieren!
Aber im Moment weht hier ein ganz anderer, warmer Wind. Wir haben Frühling. Ich genieße, was geht. Der Dauerregen ist vorbei. Der Himmel ist Cyan-Blau. Die Tage werden länger, und die Hosen endlich kürzer. Ich freue mich schon sehr auf meine Cargo Shorts. Ich bin wieder mehr zu Fuß unterwegs. Jedes Mal ein wenig länger und weiter. Vorbei an den Narzissen-Beeten vor und zwischen den Wohncolleges. Unter dunkelrot blühenden Alleebäumen die wuchtigen Departments und Bibliotheken entlang zu Harkness Tower mit seinem Glockenspiel. Ein wenig Gothic Novel im Sonnenschein. Etwas Ausrasten im Schatten der Magnolienblüten. Dann wieder zurück dem grellen Leuchten der Forsythien auf dem Science Hill entgegen. Ein paar Stunden unterwegs, und ich habe den Campus nicht verlassen.
Ich bin Gilligan, und Yale ist meine Insel!

Fortsetzung folgt…




Samstag, 21. April 2018

Paulus und noch mehr Haareraufen - Kommentar zur Verhüllung des weiblichen Haupthaars

By Bartolomeo Montagna -
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Lassen wir es einmal dahingestellt, ob es sich bei der Forderung nach einem Verbot des islamischen Kopftuchs in Kindergärten und Volksschulen seitens der Politik um einen Smogscreen handelt, um von weit drängenderen politischen Problemen abzulenken. Hinterfragen wir auch nicht die Möglichkeiten der Gesetzgebung in einem aufgeklärten Verfassungsstaat. Versuchen wir stattdessen mit den schriftlichen Quellen, die jeder und jedem leicht zur Verfügung stehen, zu ergründen, wo die ganze Debatte innerhalb der so genannten westlichen Gesellschaft um das Verhüllen der weiblichen Kopfhaare seinen Ursprung nahm.
Ich weiß, diese Aufgabenstellung gestaltet sich dieser Tage nicht leicht. Vieles, das auf Grundlage ordentlicher Feldforschung und fundierter Literaturstudien geschrieben, gelesen und gelehrt wurde, kann heute in der angeheizten Diskussion in gutem Glauben und/oder frei nach Gutdünken einfach so vom Tisch gewischt werden. Nichtsdestotrotz werde ich es an dieser Stelle erneut, unaufgeregt und mit Fleiß versuchen, ich habe nämlich sehr viel Recherchematerial und Zeit:

Durch die Verbreitung des Christentums fand auch die Deutung des weiblichen Haupthaares als sekundäres Geschlechtsmerkmal und sexuelles Attribut Eingang in die europäische Alltagskultur. Unser „westliches“ Verständnis für diese Dinge scheint bis heute von den griechischen, römischen und monotheistisch orientalischen Ansätzen geprägt zu sein. Diese sprachen der Frau eine rein passive Rolle zu. In vielen heidnischen, vor allen keltischen und germanischen Gesellschaftsformen, sah das Geschlechterverhältnis anders aus. Viele erinnern sich bestimmt, dass es unter älteren Frauen auf dem Land stets üblich war, ein Kopftuch zu tragen, sobald sie das Haus verließen. Auch das Sprichwort, jemanden „unter die Haube zu bringen“, zu verheiraten, legte beredtes Zeugnis ab. Maria Theresia und Queen Victoria trugen seit dem Tod ihrer geliebten Ehemänner (1765 bzw. 1861) bis zu ihrem Tod eine Witwenhaube (1780 bzw. 1901). Wollte ein christlicher Künstler die Unbeflecktheit der Heiligen Jungfrau Maria zum Ausdruck bringen, stellte er sie mit offenem wallendem Haar dar. Nur unverheiratete und somit jungfräuliche Mädchen durften so zur Kirche gehen. So einfach und eindrücklich war das. Seinen Ursprung hatte diese Prägung im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther:

„Eine Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren.
Will sie sich nicht bedecken, so soll sie sich doch das Haar abschneiden lassen! Weil es aber für die Frau eine Schande ist, dass sie das Haar abgeschnitten hat oder geschoren ist, soll sie das Haupt bedecken.“
[1 Kor 11, 5-6; Lutherbibel 1984]

Der Text stammt aus dem Jahr 50 oder 51 n. Chr., die Autorenschaft von Paulus gilt unter Theologen als unbestritten. Insbesondere für Argumente in der Debatte um das islamische Kopftuch im öffentlichen Raum wird der Paulusbrief oft und gerne zurate gezogen. Das Sendschreiben regelte mehrere Fragestellungen, der Brief umfasst seit dem Mittelalter sechzehn Kapitel. Unter anderem auch das Geschlechterverhältnis. Ganz im Sinne seines Glaubens und des Verständnisses wie es im rund zweihundertfünfzig Jahre älteren Text von Jesus Sirach Ausdruck findet, beschrieb Paulus den Mann als das „Haupt der Frau“ [1 Kor 11,3; ebd.].


By workshop of Jörg Breu the Younger -
 http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0004/bsb00042105/images/,
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Das Buch Jesus Sirach (auch Ecclesiasticus oder Ben Sira et alii) stammt aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Es ist ein zumeist als apokryph beschriebener Text der Weisheitsbücher der jüdisch-christlichen Bibel. Martin Luther hat das Buch aus seiner Bibelübersetzung gestrichen aus Mangel an Beweisen für seine Authentizität. Diese sind inzwischen von der Archäologie erbracht worden, aber der Reformator hatte auch große Probleme mit dem Inhalt des Textes. In reformierten Bibelausgaben sucht man dieses Buch vergeblich, in ökumenischen und katholischen findet man es sehr wohl. Das Gesinnungstestament eines Gelehrten und Lehrers warnt vor den schlimmen Folgen einer missratenen Kindeserziehung für das gesellschaftliche Ansehen eines Mannes bzw. Vaters (Kapitel 22). Der Text gibt in der Folge erste, d.h.: im Rahmen der monotheistischen Buchreligionen bezeugte, klare Anweisungen für die unterschiedliche Erziehung von Jungen und Mädchen:

„Eine Tochter ist für den Vater ein Schatz, den er hütet, die Sorge um sie nimmt ihm den Schlaf:
in ihrer Jugend, dass sie nicht verschmäht wird,
nach der Heirat, dass sie nicht verstoßen wird,
als Mädchen, dass sie nicht verführt wird,
bei ihrem Gatten, dass sie nicht untreu wird,
im Haus ihres Vaters, dass sie nicht schwanger wird,
im Haus ihres Gatten, dass sie nicht kinderlos bleibt.
Mein Sohn, wache streng über deine Tochter, damit sie dich nicht in schlechten Ruf bringt,
kein Stadtgespräch und keinen Volksauflauf erregt,
dich nicht beschämt in der Versammlung am Stadttor.
Wo sie sich aufhält, sei kein Fenster, kein Ausblick auf die Wege ringsum.
Keinem Mann zeige sie ihre Schönheit und unter Frauen halte sie sich nicht auf.
Denn aus dem Kleid kommt die Motte, aus der einen Frau die Schlechtigkeit der andern. Besser ein unfreundlicher Mann als eine freundliche Frau und (besser) eine gewissenhafte Tochter als jede Art von Schmach.“
[Jesus Sirach 42, 9-14; Einheitsübersetzung]

Diese Worte beinhalten ganz gewiss einen gewissen Widererkennungseffekt z.B. mit einem Harem. Ihr Ursprung liegt im antiken Jerusalem (oder Alexandria). Der Verfasser, ein gebildeter Jude, gibt seinem Sohn Erziehungstipps, Richtlinien, die lange Zeit, in manchen Teilen der Gesellschaft bis heute, Gültigkeit haben. Wer jetzt denkt, den (Enkel-)Söhnen erginge es liebevoller, die oder der irrt gewaltig:

„Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit, damit er später Freude erleben kann.
(…)
Beug ihm den Kopf in Kindestagen; schlag ihn aufs Gesäß, solange er noch klein ist,
sonst wird er störrisch und widerspenstig gegen dich, und du hast Kummer mit ihm.“
[Jesus Sirach, 30, 1 und 12; ebd.]

War und ist die von Jesus Sirach vertretene Pädagogik aus heutiger Sicht archaisch, brutal und nach aufgeklärtem Verständnis gegen die Menschen- und Kinderrechte, so hielt der Text auch überaus praktische Verhaltensregeln für fast alle Lebenslagen bereit. Das reichte von Tischsitten bis zum Umgang mit Freunden, Vorgesetzten und sogar mit Kreditwesen. Insbesondere für ultra-konservative religiöse Gruppierungen hat Jesus Sirach im Krankheitsfall einen guten Rat. Und um hier nicht nur seine schwarze Pädagogik zu zitieren:

„Doch auch dem Arzt gewähre Zutritt! Er soll nicht fernbleiben; denn auch er ist notwendig.
Zu gegebener Zeit liegt in seiner Hand der Erfolg, denn auch er betet zu Gott,
er möge ihm die Untersuchung gelingen lassen und die Heilung zur Erhaltung des Lebens.“
[Jesus Sirach 38, 13-14; ebd.]

Niemand hätte nach Aufklärung und Kulturkampf in Europa damit gerechnet, dass Paulus im einundzwanzigsten Jahrhundert noch einmal gesellschaftspolitische Relevanz bekommt. Für die australische Erfinderin des Burkini, Ahada Zanetti, bedeutet die verhüllende Badekleidung aus einem Lycra-Teflon-Stoffmix vor allem eines, nämlich Teilnahme am öffentlichen Leben. Während in Mitteleuropa heftig über ein Verbot des Burkini in öffentlichen Badeanstalten und an Stränden diskutiert wird. Der Name Burkini ist eine Wortkreuzung aus "Burka" und "Bikini". Er beschreibt einen Zweiteiler zum Baden, dessen lange Hose und Oberteil Arme und Beine bedecken. Kopf und Hals bekleidet der angenähte "Hijood", seinerseits ein Wortspiel aus "Hidjab" (dt.: Kopftuch) und "Hood" (dt.: Haube). Das Gesicht bleibt frei.
"Der Körper einer Muslimin wird immer politisiert. Egal, ob er bedeckt ist oder nicht", sagt Ahada Zanetti, die auch die Sportbekleidung für Afghanistans Frauen-Fußballteam und Bahrains Olympia-Läuferinnen entworfen hat [Zitiert nach: derstandard.at, 22.August 2016]. Dass sie mit den Produkten ihrer Firma Ahiida muslimischen Frauen Selbstvertrauen und Komfort bieten möchte, argumentiert Ahada Zanetti so: „Sie wollen, dass wir uns in ihre westlichen Ideen einfügen. Ich bin eine fähige, unabhängige Frau. Das ist mein Körper, mein Tempel. Ich entscheide, wie ich ihn zeigen möchte." [ebd.] Und sie bezieht sich mit ihren Worten, bewusst oder unbewusst, auf den Apostel Paulus und seinen ersten Brief an die Korinther aus dem ersten Jahrhundert:

Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?
Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.
[1 Kor 6, 19-20; Lutherbibel 1984]

In der spätantiken männlich dominierten hellenistischen Gesellschaft rannte Paulus als römischer Bürger jüdischen bzw. später christlichen Glaubens mit seinen Wertvorstellungen offene Türen ein. Das Resultat war, dass mit der Machtergreifung des monotheistischen Christentums im römischen Weltreich das Weibliche zunächst komplett aus dem öffentlichen Raum und der Religion verbannt wurde. Die alten Götter wurden zu Dämonen gemacht, die uralten Muttergöttinnen verteufelt. Die Misogynie, die Frauenfeindlichkeit, feierte in Theologie und Politik fröhliche Urstände. Nur in der europäischen Volksfrömmigkeit konnte dieses rigide Konzept nicht gänzlich greifen. Die Marienverehrung machte dem Bestreben einen dicken Strich durch die Rechnung. Und vorchristliche Vorstellungen und Kultplätze blieben Überlieferungen, Inquisitionsakten und modernen archäologischen Befunden zufolge bis ins Hochmittelalter und in Britannien bis in die Neuzeit am Leben.


Mittwoch, 18. April 2018

MIASMA-Exemplare erhältlich

Von meinem 2007 erschienenen Debütroman und erstem Verschwörungsthriller über zwei Freunde, die einem historischen Geheimnis näher kommen als ihnen lieb ist, sind einige Exemplare aus der ersten, inzwischen vergriffenen Auflage direkt vom Verlag erhältlich. 
Um eines (oder gleich mehrere) zu erwerben, einfach ein Mail an die Verlegerin schicken:

elena.ostleitner@vierviertelverlag.at


"Miasma oder: Der Steinerne Gast" ist ein schönes und qualitativ hochwertig hergestelltes Buch (siehe Foto). Inhaltlich hat es meiner Meinung nach alle Stärken und Schwächen eines Erstlings. Ich denke, Buchliebhaber werden ihre Freude an der Ausgabe haben. Und Fans von Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Schubert sollten auf alle Fälle ein Exemplar haben oder als Geschenk bekommen. Wo doch beide Komponisten ein und dieselbe Person waren... ;-)
Viel Spaß beim Lesen und Alles Liebe!
19.11.2008: Elena Ostleitner, meinereiner, Richard Steurer. (v. l. n. r.)

Freitag, 13. April 2018

Der Stammbaum der Queen - Ein Kommentar



(c) By Sodacan - Own work, CC BY-SA 3.0,
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Gerüchteweise war es der einzige Scherz, der dem deutschen Kaiser und Enkel Königin Victorias von Großbritannien und Irland (der „Großmutter Europas“) Wilhelm II., zeitlebens gelungen war: Er fragte angeblich, nachdem das britische Königshaus am Beginn des Ersten Weltkriegs seinen Namen gewechselt hatte: Und Shakespeares Stück „Die lustigen Weiber von Windsor“ heißt jetzt „Die lustigen Weiber von Sachsen-Coburg“?
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vor einhundert Jahren und dem Untergang der alten Weltordnung dieser Tage, dachte ich, dass solche, rein dynastischen Fragen im modernen Europa keinerlei Rolle mehr spielen würden. Aber heute entdeckte ich in meiner Lektüre für den Ort, an den auch Seine k. u. k. apostolische Majestät, der österreichische Kaiser, zu Fuß hinging, der Kronen Zeitung, diesen faszinierenden Artikel:
Königin Elisabeth II. wäre demnach eine Nachfahrin des Propheten Mohammed. Warum nicht? Die Indizienkette, wenn nach so vielen Jahrhunderten auch rostig und brüchig, präsentiert sich augenscheinlich nachvollziehbar. Die Frage bleibt aber bestehen: Was geht mich das heute an? Ist es in der aktuellen Situation relevant, mit wem die Queen verwandt ist? Letztlich bleibt das eine Glaubensfrage. Und genau das ist meiner Meinung nach der Knackpunkt. Für einige Menschen hat Genealogie heute noch eine große Bedeutung. Auch wenn die Mehrheit der europäischen Bevölkerungen bei dem Thema nur noch mit den Schultern zuckt. Die Abstammung der Königinnen und Könige von Großbritannien war und ist für diese Zeitgenossen nach wie vor ein Thema, das weit über die bunten Bilder und die Boulevardprosa der Regenbogenpresse hinausgeht, nämlich ein zutiefst religiöses:
Es gibt heute noch Menschen wie z.B. die Christian Assemblies International (CAI), die fest daran glauben, dass die jetzige Königin Elisabeth II. über die schottischen Stuarts und die Kurfürsten von Hannover eine direkte Nachfahrin des Königs David aus dem Alten Testament ist. Für sie sind die Briten das biblische Volk des Löwen und des Einhorns, das von den Stämmen Israels abstammt. Völlig aus der Luft gegriffen ist diese aus dem edlen Holz der Hainbuche anmutende Konstruktion keineswegs. Dieser fantasievolle Kunstgriff kreativer Herrschergenealogie ist kein Relikt des Mittelalters oder der frühen Neuzeit. Hier geben sich spekulative Fantasie und Aberglauben den Anschein fundierter Wissenschaftlichkeit. Dieser christlich-nationale Glaubensinhalt beruht auf den Schildhaltern Löwe und Einhorn des königlich-britischen Wappens sowie Numeri/ 4.Mose 24, 6-9 (KJV), wo beide Symboltiere erwähnt werden:
God brought him forth out of Egypt; he hath as it were the strength of an unicorn: he shall eat up the nations his enemies, and shall break their bones, and pierce them through with his arrows.
He couched, he lay down as a lion, and as a great lion: who shall stir him up? Blessed is he that blesseth thee, and cursed is he that curseth thee.”
[Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (KJV)]
In heutigen deutschsprachigen Bibelübersetzungen findet sich an dieser Stelle das Einhorn nicht mehr (wie noch bei Martin Luther), sondern stattdessen Wildstier oder Auerochse:
„Gott, der ihn aus Ägypten geführt hat, ist für ihn wie das Horn des Wildstiers. Er wird die Völker, seine Verfolger, auffressen und ihre Gebeine zermalmen und mit seinen Pfeilen zerschmettern.
Er hat sich hingestreckt, sich niedergelegt wie ein Löwe und wie ein junger Löwe – wer will ihn aufstören? Gesegnet sei, wer dich segnet, und verflucht, wer dich verflucht!“
[Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (Lutherbibel 1984)]
Löwe und Einhorn waren mächtige Symboltiere. Der Glaube an ihre Existenz und/oder an ihre Wirkungskraft hatte von der klassischen Antike bis ins Mittelalter überlebt. Der König der Tiere galt als das Symbol der Stärke und Macht, als Anrufung Jesu Christi in Form des „Löwen von Juda“. Ein Motiv, dass uns heute noch und nach wie vor populär in der Reggae-Musik begegnet, z.B.: Bob Marley: Iron Lion Zion. 1973/74, worin der Löwe von Juda den äthiopischen Kaiser Haile Selassie I. repräsentierte, den Messias des Rastafari-Glaubens. Der Löwe war auch Zeichen der Wachsamkeit (1 Petrus 5,8) und der Auferstehung. Er wurde zu einem der weitverbreitetsten Embleme königlicher und fürstlicher Familien und beliebtem Schildhalter in der Heraldik.
Das Einhorn war ein mystisches Tier, das Ursprung und Existenzberechtigung unter anderem aus der Naturalis historia (dt.: Naturgeschichte) Plinius des Älteren bezog. Seit dem zwölften Jahrhundert wurde das Einhorn zum Symbol der Epiphanie (dt.: Erscheinen bzw. Fleischwerdung des Herrn). In der höfischen Literatur der Minnesänger stand das ätherische Wesen für Reinheit, Keuschheit und galt zudem als „Fänger“ von Poeten, da das Einhorn nur im Schoss einer Jungfrau erlegt werden konnte. Dass sich heute an die magische Gestalt des Einhorns nicht bloß die Träume kleiner Mädchen und romantischer Nerds knüpfen, zeigt sich wohl am deutlichsten daran, dass der animierte Fantasyfilm „Das letzte Einhorn“ [OT: „The Last Unicorn“] von 1982 und sein Soundtrack nicht bloß in Fankreisen als Kult und Keimzelle des Anime gelten, und das Einhorn seit 2015 als Logo für nachhaltige und vegane Kondome dient.
In kaum einem anderen Kunstwerk ist diese Zweiheit, Löwe und Einhorn, schöner und eindrücklicher dargestellt worden als in der sechsteiligen Tapisserie, bekannt als La Dame à la licorne (dt.: Die Dame und das Einhorn), die seit 1882 im Musée de Cluny bzw. im Musée national du Moyen Âge in Paris ausgestellt ist. Heute ist dieses Kunstwerk einem Millionenpublikum aus Groß und Klein mehr oder weniger bewusst bekannt, da die Gemeinschaftsräume von Haus Gryffindor in den Harry Potter-Verfilmungen damit geschmückt waren. Die Set-Designer haben sich auch einiges dabei gedacht, waren in den Augen des fiktiven Hogwarts-Gründers Godric Gryffindor die Haupttugenden seiner Schüler doch Tapferkeit und Loyalität. Dementsprechend war Rot die dominierende Farbe.
An beiden Symboltieren, Löwe und Einhorn, lassen sich exemplarisch die beiden treibenden Kräfte des europäischen Hochmittelalters festhalten: Glaube und Sex. Auf dem Boden der Tatsachen angekommen, wundert es uns nicht, zu erfahren, dass auch im königlich-britischen Wappen die Schildhalter Löwe und Einhorn für nicht mehr und nicht weniger als England und Schottland stehen. Die beiden Tiere verkörpern die beiden Kernterritorien des Britischen Weltreichs, die englisch-schottische Personalunion von 1603. In ihrer heutigen Erscheinungsform stützen Löwe und Einhorn den Wappenschild Großbritanniens seit 1837, seit der Thronbesteigung von Königin Victoria.
Die Äste und Wurzeln desselben Stammbaums Königin Victorias und in Folge auch ihrer Ururenkelin Elisabeth II. wurden gleichzeitig in eine völlig andere Richtung gekrümmt und gebogen, weg vom Haus Juda, den Königen von Israel, hin zur Gothic Revival, der Gotischen Wiederbelebung, die dem Ideenreichtum der nationalistischen Young England–Bewegung entsprungen war. Ihrer Kreativität zufolge stammte Victoria direkt von den sächsischen Königen Englands ab. Das Junge England sehnte sich zurück in die Tage der sächsisch-englischen Königreiche vor der normannischen Eroberung im elften Jahrhundert. Der Gotischen Wiederbelebung zugrunde lag ein Mythos, die Legende eines mittelalterlichen goldenen Zeitalters Sächsischer Freiheit, in dem Volksversammlungen die Könige direkt gewählt hätten. Diese (stark verklärte) Sächsische Periode der englischen Geschichte bot den Ausgangspunkt für einen erzählerischen Entwicklungsboden für den Charakter des freien englischen Volkes, der es von den Sächsischen Königreichen zur Magna Charta (1215), der Glorious Revolution (1688) und schließlich zur Thronbesteigung der jungen Königin Victoria (1837) geführt hat, zur perfekten Verkörperung der royalen Repräsentanz des Volkes.
Heute stellen die Republiken innerhalb der EU gegenüber den elf parlamentarischen oder konstitutionellen Monarchien (und einer absoluten, dem Vatikanstaat) die Mehrheit. Die Regierungsform Demokratie ist überall die politische Realität. In den aufgeklärten und laizistischen Verfassungen spielen Glaubensfragen eine dem Staat untergeordnete Rolle.
Ich frage mich also, welchen Zweck der Autor mit seiner Forschung bezweckt. Ist es der Wunsch, mit großer Auflage viel Geld zu machen? Nein, das denke ich persönlich nicht, dafür sind sein Ansatz und seine Referenzen meiner Meinung nach zu ernsthaft. Kann man ihn als Spinner abtun, seine Theorie als Hirngespinst? Nein! Denn dazu nehmen ihn und diese Dinge zu viele ernst. Und nicht unbedingt versöhnliche und flexible Zeitgenossen nehmen diese Dinge sehr ernst (s.o.).
Warum das alles? Ist es Provokation? Nein, das denke ich nicht, dieser Mann versucht meiner Meinung nach wirklich einen Ölzweig zu reichen. Eine bedeutende Gemeinsamkeit zweier Kulturen aufzuzeigen.
Was er bei  seinem Versuch meiner Meinung nach aber übersieht ist, dass sich die europäische Mehrheitsgesellschaft nicht länger in diesen geistigen Räumen aufhält und diesen Inhalten seit mehr als hundert Jahren nicht mehr dieselbe Bedeutung beimisst, die er ganz offensichtlich und ehrlich für angemessen hält.
Tradition und Geschichtsschreibung dienen seit alters her einem Zweck: Zur Orientierung Einzelner und zur Verortung einer Gesellschaft in einer sich täglich neu erfindenden und ständig verändernden Gegenwart. So genannte Konservative wollen oft eine Vergangenheit erhalten, die es so niemals gegeben hat. Ihre politischen und ideologischen Widersacher schüren dagegen ebenso oft Ängste und Bilder, die so auch nicht existiert haben. Geschichte und Identität werden aus Fakten, Zielen und Ideen kontinuierlich neu konstruiert. In diesem System wirken auch Personen bzw. Gestalten, die es real niemals gegeben haben mag, an die ich nicht einmal selbst glauben muss, die jedoch historisch existiert haben, z.B.: Karl der Große oder der Teufel. Vergangenheit bzw. Vorzeit wird weder zu einem bestimmten Zeitpunkt unveränderlich geboren, noch hat sie sich an einem charakteristischen Ort zu einer einheitlichen und überallgültigen Form entwickelt. Vieles wird schlicht vergessen. Geschichtsschreibung ähnelt einem Fachwerkhaus: Die ausgewählten Fakten bilden das tragende Zimmermannswerk, die Ziele das verbindende Flechtwerk, und Inhalte und Ideen sind der alles einhüllende Lehm.
Wer sind die Baumeister? Für wen bauen sie das Haus? Können/Wollen wir darin wohnen?

Donnerstag, 5. April 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 28)


Teil 28: From New Haven to L.A. – Narzisstenbeet und Wallfahrtsort


Bis zu diesem Blogbeitrag hat es eine Weile gedauert. Darum geriet er etwas länger.
Im Leben eines chronisch Kranken mit Behinderung geschieht nicht viel. Wobei, es passiert eine ganze Menge, jedoch nichts, worüber sich für Leserinnen und Leser fesselnd berichten ließe. Nach nunmehr einem Jahr in den USA ist der Alltag endlich wirklich zum Alltag geworden. Es macht sich ein Gewöhnungseffekt und daraus resultierend, Routine bemerkbar. Schritt für Schritt entwickeln wir uns zu einem Detail des Gesamtbilds. Kein Halsrecken und Aufhorchen mehr, wenn Juliane oder ich einen Raum betreten. Nur eines wird sich wie erwartet niemals ändern, sobald ich den Mund aufmache, tönt Wien heraus. Meinen Herkunftsakzent können weder Vollbart noch Basecap camouflieren. Gemeinsam mit der Muttersprache befinden sich auch andere, unveränderliche Bauteile im und auf dem Motherboard des Europäers. Schreibgeschützte Elemente im Betriebssystem gewissermaßen. Wenn es fünf Wochen in Anspruch nimmt, um sein neues Medikament nach der Verschreibung durch den Rheumatologen seines Vertrauens endlich in der Hand zu halten, dann führt das zwangsläufig zu einer Aktennotiz. Nämlich bei der Schnittstelle zwischen dem US-amerikanischen Gesundheitssystem und unserer deutschen Krankenversicherung. An diese Servicehotline wenden sich alle Internationalen, die in den USA Medikamente beziehen müssen. Die Hotline ist als Arbeitgeber sehr beliebt. Auch und vor allem bei unseren farbigen Mitmenschen. Dieses Detail wäre mir im Grunde völlig egal, spielte diese Facette nicht eine wesentliche Rolle in der Reaktion der Angestellten auf die Probleme innerhalb der interkulturellen Verständigung. Eine lange Geschichte kurz gemacht: Ein kranker Mensch will und braucht seine Medikamente. Dabei ist es ihr oder ihm herzlich egal, welche Nation ihr Siegel auf ihren oder seinen Pass gedrückt hat. Der durchschnittliche Hotline Mitarbeiter, kann er (oder sie) sich keinen Reim auf das Gehörte machen, lässt das Anliegen einfach unbearbeitet liegen. Rätsel knacken, das gehört nicht zum Job! Die Gesprächspartner versprechen zurückzurufen und legen auf. Der internationale Patient rechnet mit und wartet auf einen Anruf. Dummerchen! Das gegebene Versprechen hat hierzulande dieselbe Güteklasse wie in Italien die Auskunft eines Passanten, dass die gesuchte Touristenattraktion in der dritten Gasse links ist. Beides ist frei erfunden. Eine Floskel, um die völlige Ahnungslosigkeit zu verbergen, das Gesicht zu wahren und sich aus dem Spiel zu nehmen. Das gebiert Misstrauen. Umso größer die Überraschung, befindet sich das Gesuchte tatsächlich in der dritten Gasse links, oder falls eine Servicemitarbeiterin tatsächlich zurückruft. Immerhin, das Letzte geschieht dann doch immer wieder. Trotzdem, der Geduldsfaden eines kranken Menschen, oder wie in unserem Fall der der besorgten Ehepartnerin, ist mürbe und rissig. Besonders, wenn das Medikament lebenserhaltende Funktionen erfüllen sollte. Anders gesagt: Nicht in den USA sozialisierte Bürger haben nie gelernt, Ärger und Frustration fortwährend herunterzuschlucken. Und zwar so lange, bis eine oder einer mit versteinertem Lächeln in einen Waffenladen geht und Amok läuft. Nein, Europäer werden irgendwann ungemütlich, laut und fordernd. Dann erst kommt das Gegenüber irgendwann darauf, dass die internationalen Krankenversicherer am US-amerikanischen Codesystem nicht teilnehmen. Die Computersysteme sind inkompatibel, Fragesteller und Befragter verstehen sich nicht. Weshalb das US-amerikanische Programm bei jeder Anfrage an einen ausländischen Versicherer die Antwort bekommt, dass die Krankenversicherung die Kosten für die Verschreibung oder Behandlung nicht übernimmt. Und obwohl diese Meldung sachlich und inhaltlich nicht stimmt, ist sie das Signal für den durchschnittlichen US-amerikanischen Jobholder, alles liegen und stehen zu lassen. Und dieses Fallenlassen der Leinen, lässt den kranken Ausländer oder seine Angehörigen die Stücke ausfahren und feuern. Nach dieser folgerichtigen Entladung, konnte ich nach fünf Wochen das neu verschriebene Medikament einnehmen. Obwohl der Arzt meine Reaktion auf die Einnahme nach zwei Monaten überprüfen wollte. Egal. Ende gut, alles gut! Das denkt man. Aber nein, lese ich mir dann die Bewertungen des Arbeitgebers Servicestelle im Internet durch, erfahre ich in den entsprechenden Threads, dass Europäer alles „hasserfüllte Menschen“ sind. Unbelehrbare Rassisten. Allen voran die Schweden. Natürlich, Skandinavier sind ja überhaupt und überall als besonders altbacken und verschlossen verschrien. Liegt wahrscheinlich daran, dass sie alle blond und blauäugig sind… Wie dem auch sei. Die einfache Antwort auf ein komplexes Problem ist eben aus allen Richtungen und Blickwinkeln schnell gefunden.
Das hart erkämpfte Objekt meiner Begierde löste in der darauffolgenden Woche die tollsten Nebeneffekte bei mir aus. Die Details erspare ich gerne. Nur so viel: Ich habe in diesen wenigen Tagen zwanzig Pfund, rund neun Kilogramm (20 lbs = 9,07 kg), abgenommen. Meine im Vergleich zu früheren Kleidergrößen grotesk winzige 32-32 Jeans flattert am Bund. Doch das Resultat ist trotzdem gut. Das Medikament tut, was es soll. Es bewirkt eine medizinisch feststellbare Verbesserung.
Mit diesen wenigen Informationen versorgt, kann sich jede und jeder leicht vorstellen, wie ich in diesen Tagen auf mich selbst beschränkt gewesen bin. Die Existenz beginnt, sich auf den Zustand zu konzentrieren. Die Gedanken kreisen stets um das eigene Ich. Ich würde mich freuen, könnte ich für dieses fortgesetzte Um-sein-Selbst-Gravitieren das Bild eines Sonnensystems verwenden. Vielgestaltige Welten, die um ein strahlendes Zentrum rotieren. Aber leider fühlte ich mich mehr wie eine Stubenfliege mit einer Schlinge aus Bindfaden um den Hals. Am gespannten Zwirn brummte mein Verstand ständig um dieselben Fragen. Grübeln liefert niemals Antworten. Gefangen in der Endlosschleife. Die diversen Fehlfunktionen meines Stoffwechsels begrüßte ich als willkommene Abwechslung. Weil sie ein reales Problem darstellten, kein eingebildetes.
Und noch ein weiterer Schimmer am Horizont verkündete Hoffnung. Und das just zu Ostern. Ich begleitete Juliane nach Kalifornien. Genauer gesagt an die ACLA an der UCLA in LA,CA. Was sich hier liest wie ein Jandl-Gedicht bedeutet: Juliane organisierte und leitete ein Panel auf dem Jahrestreffen der American Comparative Literature Association an der University of California, Los Angeles in Los Angeles, California. Kalifornien! Das klang wie das Land der Verheißung. Wo es sich lebt wie im Schlaraffenland, immer warm, mit blauem Himmel und unter Palmen. Unnötig zu sagen, dass wenn wir dort hinflogen, alles anders kam. Wenn ich den Chinesen erwische, der mich verflucht hat, indem er mir ein interessantes Leben gewünscht hat!

Die Rocky Mountains.
Weltberühmt in Österreich, so fühlte sich wenigstens für ein paar wunderbare Jahre mein Leben für mich an. Die USA lehrten dem Wiener Demut. Sechseinhalb Stunden Flug in eine Himmelsrichtung und noch immer im selben Land! Genauer: Sechs Stunden und fünfzig Minuten nach Südwest. Von Hartford, Connecticut nach Los Angeles. Vom Winter Neuenglands an der Ostküste in den Frühsommer an der Westküste. Vom Atlantik an den Pazifik. Über die Rocky Mountains, die Wüste und den Grand Canyon hinweg. 2,902 Meilen (4,670.32 Kilometer) über Land. Und all das unter einer Flagge vereint. Da schrumpft der einstige Nabel der Welt in der eigenen Wahrnehmung zu einer Interpunktion im illustrierten Weltatlas. Und das war gut so. Die Welt ist bunt. Es gibt viel zu sehen und zu erleben. Ihre Facetten und Spielarten sind vielfältig. Es klingt wie ein Kalauer, aber es stimmt: Was zuhause wichtig war, wird hier ganz klein.
Der Grand Canyon.
Auf dem Flughafen Bradley in Hartford schob (natürlich) ein alter Afroamerikaner meinen Rollstuhl durch die Sicherheitsüberprüfungen und über die Gänge an das Abfluggate. Währenddessen sang er leise das Protestlied „We shall overcome“, und im Rückblick ärgert mich das. Bei allem Verständnis, vor fünfzig Jahren wurde Martin Luther King erschossen. Ich fühle mich als Österreicher, wo Joseph II. 1781 die Leibeigenschaft aufgehoben hat und wo 1815 die Sklaverei auf dem Wiener Kongress verurteilt wurde, nicht verantwortlich. Ganz abgesehen davon, dass es, um mich in meinem Rollstuhl zu überwinden, wenig Kraftanstrengung braucht. Juliane hat ihn zuletzt und ohne es zu beabsichtigen ziemlich beschämt. Sie hat sich herzlich bei ihm für seine Hilfe bedankt und ihm auch ein großzügiges Trinkgeld gegeben. Anekdoten wie diese hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge. Der ganz normale Alltagsrassismus macht das Leben in den USA manchmal nur schwer erträglich, jedenfalls für Juliane und mich.
Der Mann, der mich in Los Angeles in Empfang nahm hatte (natürlich) dieselbe Heritage wie sein Kollege in Connecticut, er war jedoch überaus freundlich. Kalifornien begrüßte mich vorbehaltslos mit einem Lächeln. Und der blaue Himmel und die wirklich bis an den zehnten Stock hinauf reichenden Palmen ließen das Wintergrau Neuenglands rasch verblassen.
Hübsch, aber leider...
Narzissmus und Selbstüberschätzung sind in Kalifornien quasi gleichbedeutend mit dem Menschsein an sich. So lehrte man uns an der Ostküste. Die allerorts behauptete überwältigende Schönheit der Menschen an der Pazifikküste hielt dagegen einer objektiven Überprüfung nicht stand. Unsere direkte Erfahrung mit der so genannten „Californication“ machten wir in Person unseres Airbnb-Vermieters.
Nachdem Juliane nur Gutes über diese Unterkunftsform gehört hatte, buchte sie uns erstmals ein Apartment über die Internetplattform. Es sollte unsre erste und letzte Buchung damit werden. James, so hieß der Vermieter in seinen Emails, sagte uns schriftlich zu, dass wir bereits um 11 in seine Wohnung könnten. Er selbst würde nicht da sein, der Schlüssel aber unter der Fußmatte. Soweit so gut. Das Haus lag in einer wunderbaren Gegend. Bei dem benachbarten prachtvollen Art Deco-Gebäude handelte es sich nicht wie erst angenommen um eine Kirche oder Synagoge, sondern um ein Kino. Das passte hervorragend ins Klischee. Ins Klischee passte leider auch, dass die Schlüssel zum Apartment nirgends zu finden waren. Nach rund sieben Stunden Flug hinter sich und einer Konferenzeröffnung vor sich, war das keine Freude. Unser James hatte uns zwei Telefonnummern gegeben. Die Büronummer war abgemeldet, die Mailbox der Handynummer voll. Die Ansage verriet, dass er im Moment wohl Nachhilfe im Surfen, Racen oder Golfen brauchte und darum nicht erreichbar war. All das erwies sich nicht als vertrauensfördernde Maßnahme. Zum Glück war Julianes Gastprofessor mit demselben Flug angekommen. Ihn riefen wir an, und er besorgte uns auf Anhieb ein Zimmer in seinem Hotel. Nicht bloß das letzte verfügbare Hotelzimmer, nein, das behindertengerechte Zimmer des Hotels. Wer kann es ihm verdenken, dass er für einen kurzen (und berechtigten) Moment Allmachtgefühle verspürte. Wann und wo wären sie angemessener als unter solchen Umständen in Kalifornien. Ich war beruhigt, denn ich hatte schon befürchtet, dass er sich langsam wie ein Pfleger einer Irrenanstalt mit uns als Patienten fühlen musste.
Auf dem Weg in unser „Most Western Best Western“ machten wir mit dem Autoverkehr in Los Angeles erste Bekanntschaft. Die Fahrt von einem Stadtviertel ins gegenüberliegende am anderen Ende der Stadt konnte aufgrund des immensen Verkehrsaufkommens und der Staus mehrere Stunden dauern. In anderen Bundesstaaten entsprachen diese Reisezeiten der Fahrt in eine Nachbarstadt. Unterwegs wurde mir auch klar, weshalb derart riesige Straßenkreuzer beliebt waren. Ein europäischer Kleinwagen konnte unter Umständen in den hiesigen Schlaglöchern verloren gehen. Die Highways und Straßen waren riesig, bis zu acht Fahrstreifen, ihr Zustand war weniger begeisternd. Die Begeisterung über die Palmen am Straßenrand, die Sonne und die netten Uber-Fahrer überblendeten diese Schattenseiten hervorragend. Auch die riesigen Fahnen, die an den Baukränen im Wind flatterten. Mit einem solchen Ungetüm könnte ich leicht unser ganzes Haus in New Haven verhüllen.
Während der Uber-Fahrt ins Hotel rief unser Vermieter an. Plötzlich hieß er Michael. Und nach wenigen gewechselten Worten brüllte er Juliane an. Check-In wäre immer erst ab 5 Uhr nachmittags. Trotzdem verlangte er jetzt, es war 12:30, eine Entscheidung, ob wir kämen oder nicht. Juliane lehnte unverzüglich ab. Bei jemanden, der uns ohne jeder Affektkontrolle anschreit, wollten wir nicht übernachten. Zum Glück hatten wir alle seine Emails aufgehoben. James oder Michael, er hatte uns in die Irre geführt, der Schlüssel lag nicht um 11Uhr für uns bereit. Außerdem hatte er uns nicht informiert, welche gesundheitsschädlichen Baustoffe in dem Apartmentgebäude verarbeitet waren wie es dem Bundesgesetz entsprach. Gewisse Baustoffe sind für Vermieter aushänge- und meldepflichtig. Den entsprechenden Aushang am Gebäude haben wir fotografiert und an Airbnb weitergeleitet. Nachdem er meine Frau angebrüllt hat, dass er eine strikte Kein Geld zurück-Politik hat, lernt er – James, Michael oder wie immer er wirklich heißt – jetzt meine strikte Don´t fuck with me-Politik kennen.
Aber egal. Das Hotel war ohnedies die bessere Wahl. Hier gab es sogar öffentliche Verkehrsmittel ins Stadtzentrum, eine Metrostation und einige Buslinien. Auch der Universitätscampus war ein Augenöffner. Olivenbäume, rote Koniferen und Palmen entlang der Fußwege und Fahrbahnen. Dicke, überreife Zitrusfrüchte an den Bäumen. Zwischen den wunderbaren Pflanzen historische und zeitgenössische Universitätsgebäude. Die Architektur ein faszinierender Stilmix. Sämtliche Epochen von der Antike bis zur Gegenwart unter dem gemeinsamen Nenner Jugendstil vereint. Und über allem wehten natürlich Stars and Stripes und der Bär der Republik von Kalifornien. An diesem Ort befanden sich Patriotismus und Infrastruktur auch in Harmonie.
Nancy und Blanchot... Auweia!
Offiziell hatte die Uni wegen Spring Break geschlossen. Das bedeutete auch, dass alle Aufzüge in den Gebäuden außer Betrieb waren. Da allerdings die Konferenz in verschiedenen Häusern und auf mehreren Stockwerken stattfand, waren überall Konferenzbetreuer*innen unterwegs. Diese aktivierten die Aufzüge mit ihren Schlüsseln für all die Leute wie mich, die keine Treppen steigen konnten. Da hatte sich jemand etwas gedacht und auf ein Problem reagiert.
Trump und Kim haben es lustig...
Unser Ausflug an den Strand von Santa Monica gestaltete sich ebenfalls speziell. Es war Ostersamstag und außer uns hatten auch tausende Andere dasselbe Ausflugsziel gewählt. Den ganzen Vormittag hatte die Sonne geschienen. Als wir am Pier in den Pazifik ankamen, wurde der Himmel grau. Dicke Wolken verhüllten die Sonne über Riesenrad, Vergnügungspark, Strand und Boulevard. Das war ja so klar, dass wenn ich an den Strand kam, an dem die unsägliche TV-Serie Baywatch gedreht worden war, die California-Girls keine Bikinis, sondern Wintermäntel trugen. Auf unserem Spaziergang entlang der Promenade schnatterten wir vor Kälte. Es war am frühen Nachmittag so dunkel geworden, dass die Straßenbeleuchtungen angingen. Den eigentümlichen Charme dieses Ortes tat das keinen Abbruch. Zwischen den Palmen, Agaven und anderen exotischen Pflanzen wuselten so genannte Ground-Squirrels herum. 
Kleine possierliche Pelztiere, die mich an Ziesel mit kurzen buschigen Schwänzen erinnerten. Leider lebten sie im und vom Dreck. Wie allerorts üblich warfen viele Leute ihren Abfall überall hin. Der zweite Blick auf die elegante Gartenlandschaft enthüllte die Pappbecher, Plastiksackerl und Papierbeutel. Auf die Essensreste der Wegwerfgesellschaft stürzten sich die kleinen Nager mit Begeisterung. Sie huschten herbei und wickelten mit schnellen Pfoten alles Essbare aus, um mit vollen Backen im Dickicht und den zahlreichen Erdlöchern in der steilen Uferböschung zu verschwinden. Diese unterirdischen Bauten begünstigten wohl auch die gefürchteten Mudslides/Erdrutsche, deren Narben entlang der Promenade gut sichtbar waren. Auf den Wiesen und unter den mächtigen Stämmen lebten auch einige Obdachlose unter denselben Bedingungen wie die Ground-Squirrels. Die zahllosen Spaziergänger nahmen von ihnen keinerlei Notiz. Das ist ein weiterer, schwieriger Aspekt des Lebens in den USA, mit dem Elend seiner Mitmenschen geht man um, indem man es ignoriert.

Für Ostersonntag hatten wir uns den Höhepunkt unseres Aufenthaltes aufgehoben: Die Warner Bros. Studio Tour. Wir fuhren also mit dem Uber über den wie gewöhnlich verstopften Highway hinüber nach Burbank, vorbei an gruseligen Brandnarben und ausgebrannten Wohnhäusern direkt neben der Autobahn. Da bekamen wir erst ein Gefühl dafür, wie nahe die Buschfeuer der Millionenstadt gekommen waren. Und den luxuriösen Anwesen, die wie mittelalterliche Burgen oder bronzezeitliche Fürstensitze auf den Hügeln ringsum thronten. Am Ziel unserer Fahrt wurde mir schnell eines klar: Ich bin in meinem Leben schon an einigen Wallfahrtsorten gewesen. Auch an den bedeutendsten. Nach Santiago de Compostela war ich sogar zu Fuß gepilgert. Ich traue mich also zu sagen, dass ich einen Kultplatz erkenne, an dem Heilige und Reliquien verehrt werden. Und Plätzen gehuldigt wird, an denen sich Ereignisse einer Heilserzählung oder eines Mythos ereignet haben (sollen). Das Warner Bros.-Gelände war so ein Ort. Und ich wollte und konnte mich seinem Zauber nicht entziehen. An die Stelle der traditionellen spirituellen Erfahrung durch Selbsterfahrung war der Spaß getreten. Eines hatten klassische und dieser sehr gegenwärtige Wallfahrtsort gemeinsam, den Parafernalien-Laden am Ende der Reise. Hier Merchandising und Shop genannt. Das Geldausgeben am Ende komplettierte hier wie dort den Rausch. Juliane und ich können jederzeit und überall gut auf Geldausgeben verzichten, aber mindestens ich schwebte auch ohne Shopping-Flash die meiste Zeit auf Wolke Sieben.
Nach einem kurzen Einführungsfilm in einem Kinosaal, fuhren wir in einem mehrreihigen Besucherwagen ins Gelände. Das ganze Firmengelände war auf das Drehen von Filmen ausgelegt. Die Gründer, die vier Warner-Brüder, die allerdings ganz anders hießen, verlangten, dass jedes Gebäude als Drehort verwertet werden konnte. Dadurch sieht die rückwärtige Fassade eines Verwaltungsgebäudes auch zum Beispiel wie ein Motel aus. Zimmertüren inklusive. Allen Kunden war alles erlaubt und offen. Unter einer Bedingung: You’ve got the Dime, we‘ve got the time! (Du hast das Geld, wir haben die Zeit!) Bei den Warner Brothers gibt es buchstäblich die legendären Potemkin’schen Dörfer zu entdecken. Jedes Haus ist bloße Fassade. Nach jeder Seite stellt es ein anderes Gebäude dar. Es erstrecken sich ganze Straßenzüge von New York in die eine Himmelsrichtung, in die andere ist es San Francisco. Und in der Mitte eine Kleinstadt des Mittleren Westens der USA, die liebevoll „Überall in Amerika“ genannt wird. Mit Kirche, Bank, High School und Universität. Und jedes davon nur wenige Meter tief. Anschein ohne Inhalt. Auch ohne Gehalt, die Wände und Mauern sind aus Fieberglas.

Es hat auch den Anschein, dass die Tour regelmäßig den Bedürfnissen der Zeit angepasst wird. Das heißt, die Ausstellungsstücke und Anekdoten stammen und umkreisen aktuelle Blockbuster und TV-Produktionen. So stand auch ein Besuch der Sound Stage der bundesweit (und wohl auch international) beliebten Talkshow „Ellen“ auf dem Programm. Das Studio hat mich weniger aufgrund seines rituellen Wertes begeistert, aber mit seiner schieren Größe beeindruckt. Ich habe ja schon Fernsehstudios mit Beleuchtung und Requisite gesehen, aber noch keines, das eine großflächige Industriehalle gefüllt hätte. Wobei auch die Klassiker nicht zu kurz kamen. Zu wissen, an dem Ort zu stehen, an dem die klassischen Gangsterfilme mit James Cagney gedreht wurden, oder Szenen meiner Lieblingsfilme, das löste Euphorie aus. Und ich bin der Meinung, es ist dieselbe, die der Glauben hervorruft, in den Fußstapfen einer oder eines Heiligen zu wandeln. Und wie gesagt, Teil der Studiotour sind auch jede Menge Reliquien. Keine Körperteile, aber jede Menge so genannter Berührungsreliquien. Ob es sich dabei um die Kutte des Heiligen Franziskus, oder den Anzug von Humphrey Bogart oder die Rüstung von Wonder Woman handelt, das ist Hemd wie Hose. Der Effekt und das zugrundeliegende Konzept ist meiner Erfahrung nach dasselbe. Es erfüllt dieselbe kulturelle Funktion. Meine diesbezüglichen Bedürfnisse wurden jedenfalls bestens gestillt. Ich durfte meinen Leinwandhelden, den Diven (nomen est omen) und ihren getragenen Kleidern und genutzten Gefährten huldigen sowie den von ihnen berührten Versatzstücken. Und es war herrlich, so frei Mensch sein zu dürfen.

Ein mit Augenzwinkern vorgetragenes Ziel der Tour war es, den Glauben der Besucher in Film und Fernsehen zu erschüttern. Nichts war in Wahrheit so, wie es dargestellt wurde. Im vorletzten Teil der Tour zeichnete eine Ausstellung den Weg einer Film- und/oder TV-Produktion bis zum fertigen Produkt nach. Es hat mich gefreut, die Entwicklung einer Geschichte von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt realistisch dargestellt zu sehen. Von der ersten Skizze, über die viele Versionen bis zum tatsächlichen Szenenablauf. Es ist vielleicht desillusionierend, aber Geschichten schreibt nicht das Leben, Geschichten sind harte Arbeit. Das Handwerk muss erlernt werden, und das Werkzeug hat sich seit der Poetik des Aristoteles nicht verändert. Bei Warner Brothers werden die Manuskripthalden gezeigt, die vielen Storyboards und die vollen Mülleimer. Wenn ich als Autorin oder Autor spüre, dass sich etwas niederlässt und mir ins Ohr flüstert, dann bin ich kein inspirierter christlicher Heiliger mit der Taube des Heiligen Geistes auf der Schulter, sondern dann ist es Zeit, meine Tabletten zu schlucken und mit einem Therapeuten zu sprechen. Oder in meinem Fall mit dem Arzt über die Dosierung meiner Medikamente. Warner Brothers setzten jedenfalls nicht auf Bauernfängerei, sie erzählten keine sympathieheischenden Mythen über das Manuskript. Übrigens inzwischen ein eigenes Forschungsfeld der Literaturwissenschaft. Für mich war diese Offenheit ein Zeichen des Respekts des Unternehmens vor seinen Kreativen und vor allem vor dem Publikum. Und wie sich auch mit dieser Ausstellung beweisen lässt, ist die Wirklichkeit faszinierender als jede erfundene Legende. Und wieder etwas, dass Religion, Naturwissenschaft und dieser Ort gemeinsam haben.
Selbstverständlich bin ich bei den Warner Brothers auch auf der Suche nach der Warner Schwester gewesen. Und er steht wirklich und wahrhaftig da, überragt majestätisch die Sound Stages und Potemkin´schen Straßenzüge, der Wasserturm. In Wahrheit bedroht er auf Wunsch der echten Brüder mit den aufgemalten Firmenlogos die Konkurrenz im Osten und im Westen: Universal und Disney. In der Cartoon-Serie Animaniacs war er der Wohnort der Warner-Schwester Dot und ihrer beiden Brüder gewesen. Eine Sendung, die eingestellt wurde, weil sie angeblich nicht kindgerecht genug war und zu viele so genannte Innuendos enthielt. Hallooo Schwester!
Kalifornien. Ein Ort an dem Traum und Wirklichkeit einander begegnen. Wo die Gefahr besteht, den Schein über das Sein zu stellen. Aber auch die Chance, der Traumfabrik hinter die Kulissen zu schauen und das Erschaffen und Gestalten mit wachen Augen zu erkennen. Los Angeles war am Ende doch noch viel mehr für mich geworden als die Vorstellung von Sonnenschein und Palmen.
Später am Abend ging es wieder heim nach New Haven. Und die Ostküste und Connecticut empfingen uns nach sechs Stunden Flug und mit höllisch schmerzendem Gesäß standesgemäß und stilecht zu dieser Jahreszeit mit einem Schneesturm. Und da tauchte er natürlich gleich wieder vor meinem geistigen Auge auf, der verklärte Sehnsuchtsort, der Himmel auf Erden: Das immer sonnige und stets warme Kalifornien.


Fortsetzung folgt…