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Gerüchteweise war es der einzige
Scherz, der dem deutschen Kaiser und Enkel Königin Victorias von Großbritannien
und Irland (der „Großmutter Europas“) Wilhelm II., zeitlebens gelungen war: Er
fragte angeblich, nachdem das britische Königshaus am Beginn des Ersten
Weltkriegs seinen Namen gewechselt hatte: Und
Shakespeares Stück „Die lustigen Weiber von Windsor“ heißt jetzt „Die lustigen
Weiber von Sachsen-Coburg“?
Nach dem Ende des Ersten
Weltkriegs vor einhundert Jahren und dem Untergang der alten Weltordnung dieser
Tage, dachte ich, dass solche, rein dynastischen Fragen im modernen Europa
keinerlei Rolle mehr spielen würden. Aber heute entdeckte ich in meiner Lektüre
für den Ort, an den auch Seine k. u. k. apostolische Majestät, der
österreichische Kaiser, zu Fuß hinging, der Kronen
Zeitung, diesen faszinierenden Artikel:
Königin Elisabeth II. wäre demnach
eine Nachfahrin des Propheten Mohammed. Warum nicht? Die Indizienkette, wenn nach
so vielen Jahrhunderten auch rostig und brüchig, präsentiert sich
augenscheinlich nachvollziehbar. Die Frage bleibt aber bestehen: Was geht mich
das heute an? Ist es in der aktuellen Situation relevant, mit wem die Queen
verwandt ist? Letztlich bleibt das eine Glaubensfrage. Und genau das ist meiner
Meinung nach der Knackpunkt. Für einige Menschen hat Genealogie heute noch eine
große Bedeutung. Auch wenn die Mehrheit der europäischen Bevölkerungen bei dem
Thema nur noch mit den Schultern zuckt. Die Abstammung der Königinnen und
Könige von Großbritannien war und ist für diese Zeitgenossen nach wie vor ein
Thema, das weit über die bunten Bilder und die Boulevardprosa der
Regenbogenpresse hinausgeht, nämlich ein zutiefst religiöses:
Es gibt heute noch Menschen wie
z.B. die Christian Assemblies
International (CAI), die fest daran glauben, dass die jetzige Königin
Elisabeth II. über die schottischen Stuarts und die Kurfürsten von Hannover
eine direkte Nachfahrin des Königs David aus dem Alten Testament ist. Für sie
sind die Briten das biblische Volk des
Löwen und des Einhorns, das von den Stämmen Israels abstammt. Völlig aus
der Luft gegriffen ist diese aus dem edlen Holz der Hainbuche anmutende
Konstruktion keineswegs. Dieser fantasievolle Kunstgriff kreativer
Herrschergenealogie ist kein Relikt des Mittelalters oder der frühen Neuzeit. Hier
geben sich spekulative Fantasie und Aberglauben den Anschein fundierter
Wissenschaftlichkeit. Dieser christlich-nationale Glaubensinhalt beruht auf den
Schildhaltern Löwe und Einhorn des königlich-britischen Wappens sowie Numeri/
4.Mose 24, 6-9 (KJV), wo beide Symboltiere erwähnt werden:
“God
brought him forth out of Egypt; he hath as it were the strength of an unicorn:
he shall eat up the nations his enemies, and shall break their bones, and
pierce them through with his arrows.
He couched, he lay down as a lion, and as a great lion: who shall stir him up? Blessed is he that blesseth thee, and cursed is he that curseth thee.” [Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (KJV)]
He couched, he lay down as a lion, and as a great lion: who shall stir him up? Blessed is he that blesseth thee, and cursed is he that curseth thee.” [Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (KJV)]
In heutigen deutschsprachigen
Bibelübersetzungen findet sich an dieser Stelle das Einhorn nicht mehr (wie
noch bei Martin Luther), sondern stattdessen Wildstier oder Auerochse:
„Gott, der ihn aus Ägypten geführt hat, ist für ihn wie das Horn des
Wildstiers. Er wird die Völker, seine Verfolger, auffressen und ihre Gebeine zermalmen
und mit seinen Pfeilen zerschmettern.
Er hat sich hingestreckt, sich niedergelegt wie ein Löwe und wie ein junger Löwe – wer will ihn aufstören? Gesegnet sei, wer dich segnet, und verflucht, wer dich verflucht!“ [Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (Lutherbibel 1984)]
Er hat sich hingestreckt, sich niedergelegt wie ein Löwe und wie ein junger Löwe – wer will ihn aufstören? Gesegnet sei, wer dich segnet, und verflucht, wer dich verflucht!“ [Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (Lutherbibel 1984)]
Löwe und Einhorn waren mächtige
Symboltiere. Der Glaube an ihre Existenz und/oder an ihre Wirkungskraft hatte
von der klassischen Antike bis ins Mittelalter überlebt. Der König der Tiere galt als das Symbol der
Stärke und Macht, als Anrufung Jesu Christi in Form des „Löwen von Juda“. Ein
Motiv, dass uns heute noch und nach wie vor populär in der Reggae-Musik
begegnet, z.B.: Bob Marley: Iron Lion
Zion. 1973/74, worin der Löwe von
Juda den äthiopischen Kaiser Haile Selassie I. repräsentierte, den Messias
des Rastafari-Glaubens. Der Löwe war auch Zeichen der Wachsamkeit (1 Petrus
5,8) und der Auferstehung. Er wurde zu einem der weitverbreitetsten Embleme
königlicher und fürstlicher Familien und beliebtem Schildhalter in der
Heraldik.
Das Einhorn war ein mystisches
Tier, das Ursprung und Existenzberechtigung unter anderem aus der Naturalis historia (dt.: Naturgeschichte) Plinius des Älteren
bezog. Seit dem zwölften Jahrhundert wurde das Einhorn zum Symbol der Epiphanie
(dt.: Erscheinen bzw. Fleischwerdung des Herrn). In der höfischen Literatur der
Minnesänger stand das ätherische Wesen für Reinheit, Keuschheit und galt zudem
als „Fänger“ von Poeten, da das Einhorn nur im Schoss einer Jungfrau erlegt werden
konnte. Dass sich heute an die magische Gestalt des Einhorns nicht bloß die
Träume kleiner Mädchen und romantischer Nerds knüpfen, zeigt sich wohl am
deutlichsten daran, dass der animierte Fantasyfilm „Das letzte Einhorn“ [OT: „The
Last Unicorn“] von 1982 und sein Soundtrack nicht bloß in Fankreisen als
Kult und Keimzelle des Anime gelten, und das Einhorn seit 2015 als Logo für
nachhaltige und vegane Kondome dient.
In kaum einem anderen Kunstwerk
ist diese Zweiheit, Löwe und Einhorn, schöner und eindrücklicher dargestellt
worden als in der sechsteiligen Tapisserie, bekannt als La Dame à la licorne (dt.: Die Dame und das Einhorn), die seit 1882
im Musée de Cluny bzw. im Musée national du Moyen Âge in Paris ausgestellt
ist. Heute ist dieses Kunstwerk einem Millionenpublikum aus Groß und Klein mehr
oder weniger bewusst bekannt, da die Gemeinschaftsräume von Haus Gryffindor in den Harry Potter-Verfilmungen damit
geschmückt waren. Die Set-Designer haben sich auch einiges dabei gedacht, waren
in den Augen des fiktiven Hogwarts-Gründers
Godric Gryffindor die Haupttugenden seiner Schüler doch Tapferkeit und
Loyalität. Dementsprechend war Rot die dominierende Farbe.
An beiden Symboltieren, Löwe und
Einhorn, lassen sich exemplarisch die beiden treibenden Kräfte des europäischen
Hochmittelalters festhalten: Glaube und Sex. Auf dem Boden der Tatsachen
angekommen, wundert es uns nicht, zu erfahren, dass auch im
königlich-britischen Wappen die Schildhalter Löwe und Einhorn für nicht mehr und
nicht weniger als England und Schottland stehen. Die beiden Tiere verkörpern
die beiden Kernterritorien des Britischen Weltreichs, die englisch-schottische
Personalunion von 1603. In ihrer heutigen Erscheinungsform stützen Löwe und
Einhorn den Wappenschild Großbritanniens seit 1837, seit der Thronbesteigung
von Königin Victoria.
Die Äste und Wurzeln desselben
Stammbaums Königin Victorias und in Folge auch ihrer Ururenkelin Elisabeth II. wurden
gleichzeitig in eine völlig andere Richtung gekrümmt und gebogen, weg vom Haus
Juda, den Königen von Israel, hin zur Gothic
Revival, der Gotischen
Wiederbelebung, die dem Ideenreichtum der nationalistischen Young England–Bewegung entsprungen war. Ihrer
Kreativität zufolge stammte Victoria direkt von den sächsischen Königen
Englands ab. Das Junge England sehnte
sich zurück in die Tage der sächsisch-englischen Königreiche vor der
normannischen Eroberung im elften Jahrhundert. Der Gotischen Wiederbelebung zugrunde lag ein Mythos, die Legende eines
mittelalterlichen goldenen Zeitalters Sächsischer
Freiheit, in dem Volksversammlungen die Könige direkt gewählt hätten. Diese
(stark verklärte) Sächsische Periode der englischen Geschichte bot den
Ausgangspunkt für einen erzählerischen Entwicklungsboden für den Charakter des
freien englischen Volkes, der es von den Sächsischen Königreichen zur Magna Charta (1215), der Glorious Revolution (1688) und
schließlich zur Thronbesteigung der jungen Königin Victoria (1837) geführt hat,
zur perfekten Verkörperung der royalen Repräsentanz des Volkes.
Heute stellen die Republiken innerhalb
der EU gegenüber den elf parlamentarischen oder konstitutionellen Monarchien (und
einer absoluten, dem Vatikanstaat) die Mehrheit. Die Regierungsform Demokratie
ist überall die politische Realität. In den aufgeklärten und laizistischen Verfassungen
spielen Glaubensfragen eine dem Staat untergeordnete Rolle.
Ich frage mich also, welchen
Zweck der Autor mit seiner Forschung bezweckt. Ist es der Wunsch, mit großer
Auflage viel Geld zu machen? Nein, das denke ich persönlich nicht, dafür sind
sein Ansatz und seine Referenzen meiner Meinung nach zu ernsthaft. Kann man ihn
als Spinner abtun, seine Theorie als Hirngespinst? Nein! Denn dazu nehmen ihn
und diese Dinge zu viele ernst. Und nicht unbedingt versöhnliche und flexible
Zeitgenossen nehmen diese Dinge sehr ernst (s.o.).
Warum das alles? Ist es
Provokation? Nein, das denke ich nicht, dieser Mann versucht meiner Meinung
nach wirklich einen Ölzweig zu reichen. Eine bedeutende Gemeinsamkeit zweier
Kulturen aufzuzeigen.
Was er bei seinem Versuch meiner Meinung nach aber
übersieht ist, dass sich die europäische Mehrheitsgesellschaft nicht länger in diesen
geistigen Räumen aufhält und diesen Inhalten seit mehr als hundert Jahren nicht
mehr dieselbe Bedeutung beimisst, die er ganz offensichtlich und ehrlich für
angemessen hält.
Tradition und
Geschichtsschreibung dienen seit alters her einem Zweck: Zur Orientierung Einzelner
und zur Verortung einer Gesellschaft in einer sich täglich neu erfindenden und ständig
verändernden Gegenwart. So genannte Konservative wollen oft eine Vergangenheit
erhalten, die es so niemals gegeben hat. Ihre politischen und ideologischen
Widersacher schüren dagegen ebenso oft Ängste und Bilder, die so auch nicht
existiert haben. Geschichte und Identität werden aus Fakten, Zielen und Ideen kontinuierlich
neu konstruiert. In diesem System wirken auch Personen bzw. Gestalten, die es real
niemals gegeben haben mag, an die ich nicht einmal selbst glauben muss, die
jedoch historisch existiert haben, z.B.:
Karl der Große oder der Teufel. Vergangenheit bzw. Vorzeit wird weder zu einem
bestimmten Zeitpunkt unveränderlich geboren, noch hat sie sich an einem
charakteristischen Ort zu einer einheitlichen und überallgültigen Form
entwickelt. Vieles wird schlicht vergessen. Geschichtsschreibung ähnelt einem
Fachwerkhaus: Die ausgewählten Fakten bilden das tragende Zimmermannswerk, die
Ziele das verbindende Flechtwerk, und Inhalte und Ideen sind der alles
einhüllende Lehm.
Wer sind die
Baumeister? Für wen bauen sie das Haus? Können/Wollen wir darin wohnen?