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Freitag, 13. April 2018

Der Stammbaum der Queen - Ein Kommentar



(c) By Sodacan - Own work, CC BY-SA 3.0,
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Gerüchteweise war es der einzige Scherz, der dem deutschen Kaiser und Enkel Königin Victorias von Großbritannien und Irland (der „Großmutter Europas“) Wilhelm II., zeitlebens gelungen war: Er fragte angeblich, nachdem das britische Königshaus am Beginn des Ersten Weltkriegs seinen Namen gewechselt hatte: Und Shakespeares Stück „Die lustigen Weiber von Windsor“ heißt jetzt „Die lustigen Weiber von Sachsen-Coburg“?
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vor einhundert Jahren und dem Untergang der alten Weltordnung dieser Tage, dachte ich, dass solche, rein dynastischen Fragen im modernen Europa keinerlei Rolle mehr spielen würden. Aber heute entdeckte ich in meiner Lektüre für den Ort, an den auch Seine k. u. k. apostolische Majestät, der österreichische Kaiser, zu Fuß hinging, der Kronen Zeitung, diesen faszinierenden Artikel:
Königin Elisabeth II. wäre demnach eine Nachfahrin des Propheten Mohammed. Warum nicht? Die Indizienkette, wenn nach so vielen Jahrhunderten auch rostig und brüchig, präsentiert sich augenscheinlich nachvollziehbar. Die Frage bleibt aber bestehen: Was geht mich das heute an? Ist es in der aktuellen Situation relevant, mit wem die Queen verwandt ist? Letztlich bleibt das eine Glaubensfrage. Und genau das ist meiner Meinung nach der Knackpunkt. Für einige Menschen hat Genealogie heute noch eine große Bedeutung. Auch wenn die Mehrheit der europäischen Bevölkerungen bei dem Thema nur noch mit den Schultern zuckt. Die Abstammung der Königinnen und Könige von Großbritannien war und ist für diese Zeitgenossen nach wie vor ein Thema, das weit über die bunten Bilder und die Boulevardprosa der Regenbogenpresse hinausgeht, nämlich ein zutiefst religiöses:
Es gibt heute noch Menschen wie z.B. die Christian Assemblies International (CAI), die fest daran glauben, dass die jetzige Königin Elisabeth II. über die schottischen Stuarts und die Kurfürsten von Hannover eine direkte Nachfahrin des Königs David aus dem Alten Testament ist. Für sie sind die Briten das biblische Volk des Löwen und des Einhorns, das von den Stämmen Israels abstammt. Völlig aus der Luft gegriffen ist diese aus dem edlen Holz der Hainbuche anmutende Konstruktion keineswegs. Dieser fantasievolle Kunstgriff kreativer Herrschergenealogie ist kein Relikt des Mittelalters oder der frühen Neuzeit. Hier geben sich spekulative Fantasie und Aberglauben den Anschein fundierter Wissenschaftlichkeit. Dieser christlich-nationale Glaubensinhalt beruht auf den Schildhaltern Löwe und Einhorn des königlich-britischen Wappens sowie Numeri/ 4.Mose 24, 6-9 (KJV), wo beide Symboltiere erwähnt werden:
God brought him forth out of Egypt; he hath as it were the strength of an unicorn: he shall eat up the nations his enemies, and shall break their bones, and pierce them through with his arrows.
He couched, he lay down as a lion, and as a great lion: who shall stir him up? Blessed is he that blesseth thee, and cursed is he that curseth thee.”
[Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (KJV)]
In heutigen deutschsprachigen Bibelübersetzungen findet sich an dieser Stelle das Einhorn nicht mehr (wie noch bei Martin Luther), sondern stattdessen Wildstier oder Auerochse:
„Gott, der ihn aus Ägypten geführt hat, ist für ihn wie das Horn des Wildstiers. Er wird die Völker, seine Verfolger, auffressen und ihre Gebeine zermalmen und mit seinen Pfeilen zerschmettern.
Er hat sich hingestreckt, sich niedergelegt wie ein Löwe und wie ein junger Löwe – wer will ihn aufstören? Gesegnet sei, wer dich segnet, und verflucht, wer dich verflucht!“
[Numeri/ 4.Mose 24, 8-9 (Lutherbibel 1984)]
Löwe und Einhorn waren mächtige Symboltiere. Der Glaube an ihre Existenz und/oder an ihre Wirkungskraft hatte von der klassischen Antike bis ins Mittelalter überlebt. Der König der Tiere galt als das Symbol der Stärke und Macht, als Anrufung Jesu Christi in Form des „Löwen von Juda“. Ein Motiv, dass uns heute noch und nach wie vor populär in der Reggae-Musik begegnet, z.B.: Bob Marley: Iron Lion Zion. 1973/74, worin der Löwe von Juda den äthiopischen Kaiser Haile Selassie I. repräsentierte, den Messias des Rastafari-Glaubens. Der Löwe war auch Zeichen der Wachsamkeit (1 Petrus 5,8) und der Auferstehung. Er wurde zu einem der weitverbreitetsten Embleme königlicher und fürstlicher Familien und beliebtem Schildhalter in der Heraldik.
Das Einhorn war ein mystisches Tier, das Ursprung und Existenzberechtigung unter anderem aus der Naturalis historia (dt.: Naturgeschichte) Plinius des Älteren bezog. Seit dem zwölften Jahrhundert wurde das Einhorn zum Symbol der Epiphanie (dt.: Erscheinen bzw. Fleischwerdung des Herrn). In der höfischen Literatur der Minnesänger stand das ätherische Wesen für Reinheit, Keuschheit und galt zudem als „Fänger“ von Poeten, da das Einhorn nur im Schoss einer Jungfrau erlegt werden konnte. Dass sich heute an die magische Gestalt des Einhorns nicht bloß die Träume kleiner Mädchen und romantischer Nerds knüpfen, zeigt sich wohl am deutlichsten daran, dass der animierte Fantasyfilm „Das letzte Einhorn“ [OT: „The Last Unicorn“] von 1982 und sein Soundtrack nicht bloß in Fankreisen als Kult und Keimzelle des Anime gelten, und das Einhorn seit 2015 als Logo für nachhaltige und vegane Kondome dient.
In kaum einem anderen Kunstwerk ist diese Zweiheit, Löwe und Einhorn, schöner und eindrücklicher dargestellt worden als in der sechsteiligen Tapisserie, bekannt als La Dame à la licorne (dt.: Die Dame und das Einhorn), die seit 1882 im Musée de Cluny bzw. im Musée national du Moyen Âge in Paris ausgestellt ist. Heute ist dieses Kunstwerk einem Millionenpublikum aus Groß und Klein mehr oder weniger bewusst bekannt, da die Gemeinschaftsräume von Haus Gryffindor in den Harry Potter-Verfilmungen damit geschmückt waren. Die Set-Designer haben sich auch einiges dabei gedacht, waren in den Augen des fiktiven Hogwarts-Gründers Godric Gryffindor die Haupttugenden seiner Schüler doch Tapferkeit und Loyalität. Dementsprechend war Rot die dominierende Farbe.
An beiden Symboltieren, Löwe und Einhorn, lassen sich exemplarisch die beiden treibenden Kräfte des europäischen Hochmittelalters festhalten: Glaube und Sex. Auf dem Boden der Tatsachen angekommen, wundert es uns nicht, zu erfahren, dass auch im königlich-britischen Wappen die Schildhalter Löwe und Einhorn für nicht mehr und nicht weniger als England und Schottland stehen. Die beiden Tiere verkörpern die beiden Kernterritorien des Britischen Weltreichs, die englisch-schottische Personalunion von 1603. In ihrer heutigen Erscheinungsform stützen Löwe und Einhorn den Wappenschild Großbritanniens seit 1837, seit der Thronbesteigung von Königin Victoria.
Die Äste und Wurzeln desselben Stammbaums Königin Victorias und in Folge auch ihrer Ururenkelin Elisabeth II. wurden gleichzeitig in eine völlig andere Richtung gekrümmt und gebogen, weg vom Haus Juda, den Königen von Israel, hin zur Gothic Revival, der Gotischen Wiederbelebung, die dem Ideenreichtum der nationalistischen Young England–Bewegung entsprungen war. Ihrer Kreativität zufolge stammte Victoria direkt von den sächsischen Königen Englands ab. Das Junge England sehnte sich zurück in die Tage der sächsisch-englischen Königreiche vor der normannischen Eroberung im elften Jahrhundert. Der Gotischen Wiederbelebung zugrunde lag ein Mythos, die Legende eines mittelalterlichen goldenen Zeitalters Sächsischer Freiheit, in dem Volksversammlungen die Könige direkt gewählt hätten. Diese (stark verklärte) Sächsische Periode der englischen Geschichte bot den Ausgangspunkt für einen erzählerischen Entwicklungsboden für den Charakter des freien englischen Volkes, der es von den Sächsischen Königreichen zur Magna Charta (1215), der Glorious Revolution (1688) und schließlich zur Thronbesteigung der jungen Königin Victoria (1837) geführt hat, zur perfekten Verkörperung der royalen Repräsentanz des Volkes.
Heute stellen die Republiken innerhalb der EU gegenüber den elf parlamentarischen oder konstitutionellen Monarchien (und einer absoluten, dem Vatikanstaat) die Mehrheit. Die Regierungsform Demokratie ist überall die politische Realität. In den aufgeklärten und laizistischen Verfassungen spielen Glaubensfragen eine dem Staat untergeordnete Rolle.
Ich frage mich also, welchen Zweck der Autor mit seiner Forschung bezweckt. Ist es der Wunsch, mit großer Auflage viel Geld zu machen? Nein, das denke ich persönlich nicht, dafür sind sein Ansatz und seine Referenzen meiner Meinung nach zu ernsthaft. Kann man ihn als Spinner abtun, seine Theorie als Hirngespinst? Nein! Denn dazu nehmen ihn und diese Dinge zu viele ernst. Und nicht unbedingt versöhnliche und flexible Zeitgenossen nehmen diese Dinge sehr ernst (s.o.).
Warum das alles? Ist es Provokation? Nein, das denke ich nicht, dieser Mann versucht meiner Meinung nach wirklich einen Ölzweig zu reichen. Eine bedeutende Gemeinsamkeit zweier Kulturen aufzuzeigen.
Was er bei  seinem Versuch meiner Meinung nach aber übersieht ist, dass sich die europäische Mehrheitsgesellschaft nicht länger in diesen geistigen Räumen aufhält und diesen Inhalten seit mehr als hundert Jahren nicht mehr dieselbe Bedeutung beimisst, die er ganz offensichtlich und ehrlich für angemessen hält.
Tradition und Geschichtsschreibung dienen seit alters her einem Zweck: Zur Orientierung Einzelner und zur Verortung einer Gesellschaft in einer sich täglich neu erfindenden und ständig verändernden Gegenwart. So genannte Konservative wollen oft eine Vergangenheit erhalten, die es so niemals gegeben hat. Ihre politischen und ideologischen Widersacher schüren dagegen ebenso oft Ängste und Bilder, die so auch nicht existiert haben. Geschichte und Identität werden aus Fakten, Zielen und Ideen kontinuierlich neu konstruiert. In diesem System wirken auch Personen bzw. Gestalten, die es real niemals gegeben haben mag, an die ich nicht einmal selbst glauben muss, die jedoch historisch existiert haben, z.B.: Karl der Große oder der Teufel. Vergangenheit bzw. Vorzeit wird weder zu einem bestimmten Zeitpunkt unveränderlich geboren, noch hat sie sich an einem charakteristischen Ort zu einer einheitlichen und überallgültigen Form entwickelt. Vieles wird schlicht vergessen. Geschichtsschreibung ähnelt einem Fachwerkhaus: Die ausgewählten Fakten bilden das tragende Zimmermannswerk, die Ziele das verbindende Flechtwerk, und Inhalte und Ideen sind der alles einhüllende Lehm.
Wer sind die Baumeister? Für wen bauen sie das Haus? Können/Wollen wir darin wohnen?