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Donnerstag, 5. April 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 28)


Teil 28: From New Haven to L.A. – Narzisstenbeet und Wallfahrtsort


Bis zu diesem Blogbeitrag hat es eine Weile gedauert. Darum geriet er etwas länger.
Im Leben eines chronisch Kranken mit Behinderung geschieht nicht viel. Wobei, es passiert eine ganze Menge, jedoch nichts, worüber sich für Leserinnen und Leser fesselnd berichten ließe. Nach nunmehr einem Jahr in den USA ist der Alltag endlich wirklich zum Alltag geworden. Es macht sich ein Gewöhnungseffekt und daraus resultierend, Routine bemerkbar. Schritt für Schritt entwickeln wir uns zu einem Detail des Gesamtbilds. Kein Halsrecken und Aufhorchen mehr, wenn Juliane oder ich einen Raum betreten. Nur eines wird sich wie erwartet niemals ändern, sobald ich den Mund aufmache, tönt Wien heraus. Meinen Herkunftsakzent können weder Vollbart noch Basecap camouflieren. Gemeinsam mit der Muttersprache befinden sich auch andere, unveränderliche Bauteile im und auf dem Motherboard des Europäers. Schreibgeschützte Elemente im Betriebssystem gewissermaßen. Wenn es fünf Wochen in Anspruch nimmt, um sein neues Medikament nach der Verschreibung durch den Rheumatologen seines Vertrauens endlich in der Hand zu halten, dann führt das zwangsläufig zu einer Aktennotiz. Nämlich bei der Schnittstelle zwischen dem US-amerikanischen Gesundheitssystem und unserer deutschen Krankenversicherung. An diese Servicehotline wenden sich alle Internationalen, die in den USA Medikamente beziehen müssen. Die Hotline ist als Arbeitgeber sehr beliebt. Auch und vor allem bei unseren farbigen Mitmenschen. Dieses Detail wäre mir im Grunde völlig egal, spielte diese Facette nicht eine wesentliche Rolle in der Reaktion der Angestellten auf die Probleme innerhalb der interkulturellen Verständigung. Eine lange Geschichte kurz gemacht: Ein kranker Mensch will und braucht seine Medikamente. Dabei ist es ihr oder ihm herzlich egal, welche Nation ihr Siegel auf ihren oder seinen Pass gedrückt hat. Der durchschnittliche Hotline Mitarbeiter, kann er (oder sie) sich keinen Reim auf das Gehörte machen, lässt das Anliegen einfach unbearbeitet liegen. Rätsel knacken, das gehört nicht zum Job! Die Gesprächspartner versprechen zurückzurufen und legen auf. Der internationale Patient rechnet mit und wartet auf einen Anruf. Dummerchen! Das gegebene Versprechen hat hierzulande dieselbe Güteklasse wie in Italien die Auskunft eines Passanten, dass die gesuchte Touristenattraktion in der dritten Gasse links ist. Beides ist frei erfunden. Eine Floskel, um die völlige Ahnungslosigkeit zu verbergen, das Gesicht zu wahren und sich aus dem Spiel zu nehmen. Das gebiert Misstrauen. Umso größer die Überraschung, befindet sich das Gesuchte tatsächlich in der dritten Gasse links, oder falls eine Servicemitarbeiterin tatsächlich zurückruft. Immerhin, das Letzte geschieht dann doch immer wieder. Trotzdem, der Geduldsfaden eines kranken Menschen, oder wie in unserem Fall der der besorgten Ehepartnerin, ist mürbe und rissig. Besonders, wenn das Medikament lebenserhaltende Funktionen erfüllen sollte. Anders gesagt: Nicht in den USA sozialisierte Bürger haben nie gelernt, Ärger und Frustration fortwährend herunterzuschlucken. Und zwar so lange, bis eine oder einer mit versteinertem Lächeln in einen Waffenladen geht und Amok läuft. Nein, Europäer werden irgendwann ungemütlich, laut und fordernd. Dann erst kommt das Gegenüber irgendwann darauf, dass die internationalen Krankenversicherer am US-amerikanischen Codesystem nicht teilnehmen. Die Computersysteme sind inkompatibel, Fragesteller und Befragter verstehen sich nicht. Weshalb das US-amerikanische Programm bei jeder Anfrage an einen ausländischen Versicherer die Antwort bekommt, dass die Krankenversicherung die Kosten für die Verschreibung oder Behandlung nicht übernimmt. Und obwohl diese Meldung sachlich und inhaltlich nicht stimmt, ist sie das Signal für den durchschnittlichen US-amerikanischen Jobholder, alles liegen und stehen zu lassen. Und dieses Fallenlassen der Leinen, lässt den kranken Ausländer oder seine Angehörigen die Stücke ausfahren und feuern. Nach dieser folgerichtigen Entladung, konnte ich nach fünf Wochen das neu verschriebene Medikament einnehmen. Obwohl der Arzt meine Reaktion auf die Einnahme nach zwei Monaten überprüfen wollte. Egal. Ende gut, alles gut! Das denkt man. Aber nein, lese ich mir dann die Bewertungen des Arbeitgebers Servicestelle im Internet durch, erfahre ich in den entsprechenden Threads, dass Europäer alles „hasserfüllte Menschen“ sind. Unbelehrbare Rassisten. Allen voran die Schweden. Natürlich, Skandinavier sind ja überhaupt und überall als besonders altbacken und verschlossen verschrien. Liegt wahrscheinlich daran, dass sie alle blond und blauäugig sind… Wie dem auch sei. Die einfache Antwort auf ein komplexes Problem ist eben aus allen Richtungen und Blickwinkeln schnell gefunden.
Das hart erkämpfte Objekt meiner Begierde löste in der darauffolgenden Woche die tollsten Nebeneffekte bei mir aus. Die Details erspare ich gerne. Nur so viel: Ich habe in diesen wenigen Tagen zwanzig Pfund, rund neun Kilogramm (20 lbs = 9,07 kg), abgenommen. Meine im Vergleich zu früheren Kleidergrößen grotesk winzige 32-32 Jeans flattert am Bund. Doch das Resultat ist trotzdem gut. Das Medikament tut, was es soll. Es bewirkt eine medizinisch feststellbare Verbesserung.
Mit diesen wenigen Informationen versorgt, kann sich jede und jeder leicht vorstellen, wie ich in diesen Tagen auf mich selbst beschränkt gewesen bin. Die Existenz beginnt, sich auf den Zustand zu konzentrieren. Die Gedanken kreisen stets um das eigene Ich. Ich würde mich freuen, könnte ich für dieses fortgesetzte Um-sein-Selbst-Gravitieren das Bild eines Sonnensystems verwenden. Vielgestaltige Welten, die um ein strahlendes Zentrum rotieren. Aber leider fühlte ich mich mehr wie eine Stubenfliege mit einer Schlinge aus Bindfaden um den Hals. Am gespannten Zwirn brummte mein Verstand ständig um dieselben Fragen. Grübeln liefert niemals Antworten. Gefangen in der Endlosschleife. Die diversen Fehlfunktionen meines Stoffwechsels begrüßte ich als willkommene Abwechslung. Weil sie ein reales Problem darstellten, kein eingebildetes.
Und noch ein weiterer Schimmer am Horizont verkündete Hoffnung. Und das just zu Ostern. Ich begleitete Juliane nach Kalifornien. Genauer gesagt an die ACLA an der UCLA in LA,CA. Was sich hier liest wie ein Jandl-Gedicht bedeutet: Juliane organisierte und leitete ein Panel auf dem Jahrestreffen der American Comparative Literature Association an der University of California, Los Angeles in Los Angeles, California. Kalifornien! Das klang wie das Land der Verheißung. Wo es sich lebt wie im Schlaraffenland, immer warm, mit blauem Himmel und unter Palmen. Unnötig zu sagen, dass wenn wir dort hinflogen, alles anders kam. Wenn ich den Chinesen erwische, der mich verflucht hat, indem er mir ein interessantes Leben gewünscht hat!

Die Rocky Mountains.
Weltberühmt in Österreich, so fühlte sich wenigstens für ein paar wunderbare Jahre mein Leben für mich an. Die USA lehrten dem Wiener Demut. Sechseinhalb Stunden Flug in eine Himmelsrichtung und noch immer im selben Land! Genauer: Sechs Stunden und fünfzig Minuten nach Südwest. Von Hartford, Connecticut nach Los Angeles. Vom Winter Neuenglands an der Ostküste in den Frühsommer an der Westküste. Vom Atlantik an den Pazifik. Über die Rocky Mountains, die Wüste und den Grand Canyon hinweg. 2,902 Meilen (4,670.32 Kilometer) über Land. Und all das unter einer Flagge vereint. Da schrumpft der einstige Nabel der Welt in der eigenen Wahrnehmung zu einer Interpunktion im illustrierten Weltatlas. Und das war gut so. Die Welt ist bunt. Es gibt viel zu sehen und zu erleben. Ihre Facetten und Spielarten sind vielfältig. Es klingt wie ein Kalauer, aber es stimmt: Was zuhause wichtig war, wird hier ganz klein.
Der Grand Canyon.
Auf dem Flughafen Bradley in Hartford schob (natürlich) ein alter Afroamerikaner meinen Rollstuhl durch die Sicherheitsüberprüfungen und über die Gänge an das Abfluggate. Währenddessen sang er leise das Protestlied „We shall overcome“, und im Rückblick ärgert mich das. Bei allem Verständnis, vor fünfzig Jahren wurde Martin Luther King erschossen. Ich fühle mich als Österreicher, wo Joseph II. 1781 die Leibeigenschaft aufgehoben hat und wo 1815 die Sklaverei auf dem Wiener Kongress verurteilt wurde, nicht verantwortlich. Ganz abgesehen davon, dass es, um mich in meinem Rollstuhl zu überwinden, wenig Kraftanstrengung braucht. Juliane hat ihn zuletzt und ohne es zu beabsichtigen ziemlich beschämt. Sie hat sich herzlich bei ihm für seine Hilfe bedankt und ihm auch ein großzügiges Trinkgeld gegeben. Anekdoten wie diese hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge. Der ganz normale Alltagsrassismus macht das Leben in den USA manchmal nur schwer erträglich, jedenfalls für Juliane und mich.
Der Mann, der mich in Los Angeles in Empfang nahm hatte (natürlich) dieselbe Heritage wie sein Kollege in Connecticut, er war jedoch überaus freundlich. Kalifornien begrüßte mich vorbehaltslos mit einem Lächeln. Und der blaue Himmel und die wirklich bis an den zehnten Stock hinauf reichenden Palmen ließen das Wintergrau Neuenglands rasch verblassen.
Hübsch, aber leider...
Narzissmus und Selbstüberschätzung sind in Kalifornien quasi gleichbedeutend mit dem Menschsein an sich. So lehrte man uns an der Ostküste. Die allerorts behauptete überwältigende Schönheit der Menschen an der Pazifikküste hielt dagegen einer objektiven Überprüfung nicht stand. Unsere direkte Erfahrung mit der so genannten „Californication“ machten wir in Person unseres Airbnb-Vermieters.
Nachdem Juliane nur Gutes über diese Unterkunftsform gehört hatte, buchte sie uns erstmals ein Apartment über die Internetplattform. Es sollte unsre erste und letzte Buchung damit werden. James, so hieß der Vermieter in seinen Emails, sagte uns schriftlich zu, dass wir bereits um 11 in seine Wohnung könnten. Er selbst würde nicht da sein, der Schlüssel aber unter der Fußmatte. Soweit so gut. Das Haus lag in einer wunderbaren Gegend. Bei dem benachbarten prachtvollen Art Deco-Gebäude handelte es sich nicht wie erst angenommen um eine Kirche oder Synagoge, sondern um ein Kino. Das passte hervorragend ins Klischee. Ins Klischee passte leider auch, dass die Schlüssel zum Apartment nirgends zu finden waren. Nach rund sieben Stunden Flug hinter sich und einer Konferenzeröffnung vor sich, war das keine Freude. Unser James hatte uns zwei Telefonnummern gegeben. Die Büronummer war abgemeldet, die Mailbox der Handynummer voll. Die Ansage verriet, dass er im Moment wohl Nachhilfe im Surfen, Racen oder Golfen brauchte und darum nicht erreichbar war. All das erwies sich nicht als vertrauensfördernde Maßnahme. Zum Glück war Julianes Gastprofessor mit demselben Flug angekommen. Ihn riefen wir an, und er besorgte uns auf Anhieb ein Zimmer in seinem Hotel. Nicht bloß das letzte verfügbare Hotelzimmer, nein, das behindertengerechte Zimmer des Hotels. Wer kann es ihm verdenken, dass er für einen kurzen (und berechtigten) Moment Allmachtgefühle verspürte. Wann und wo wären sie angemessener als unter solchen Umständen in Kalifornien. Ich war beruhigt, denn ich hatte schon befürchtet, dass er sich langsam wie ein Pfleger einer Irrenanstalt mit uns als Patienten fühlen musste.
Auf dem Weg in unser „Most Western Best Western“ machten wir mit dem Autoverkehr in Los Angeles erste Bekanntschaft. Die Fahrt von einem Stadtviertel ins gegenüberliegende am anderen Ende der Stadt konnte aufgrund des immensen Verkehrsaufkommens und der Staus mehrere Stunden dauern. In anderen Bundesstaaten entsprachen diese Reisezeiten der Fahrt in eine Nachbarstadt. Unterwegs wurde mir auch klar, weshalb derart riesige Straßenkreuzer beliebt waren. Ein europäischer Kleinwagen konnte unter Umständen in den hiesigen Schlaglöchern verloren gehen. Die Highways und Straßen waren riesig, bis zu acht Fahrstreifen, ihr Zustand war weniger begeisternd. Die Begeisterung über die Palmen am Straßenrand, die Sonne und die netten Uber-Fahrer überblendeten diese Schattenseiten hervorragend. Auch die riesigen Fahnen, die an den Baukränen im Wind flatterten. Mit einem solchen Ungetüm könnte ich leicht unser ganzes Haus in New Haven verhüllen.
Während der Uber-Fahrt ins Hotel rief unser Vermieter an. Plötzlich hieß er Michael. Und nach wenigen gewechselten Worten brüllte er Juliane an. Check-In wäre immer erst ab 5 Uhr nachmittags. Trotzdem verlangte er jetzt, es war 12:30, eine Entscheidung, ob wir kämen oder nicht. Juliane lehnte unverzüglich ab. Bei jemanden, der uns ohne jeder Affektkontrolle anschreit, wollten wir nicht übernachten. Zum Glück hatten wir alle seine Emails aufgehoben. James oder Michael, er hatte uns in die Irre geführt, der Schlüssel lag nicht um 11Uhr für uns bereit. Außerdem hatte er uns nicht informiert, welche gesundheitsschädlichen Baustoffe in dem Apartmentgebäude verarbeitet waren wie es dem Bundesgesetz entsprach. Gewisse Baustoffe sind für Vermieter aushänge- und meldepflichtig. Den entsprechenden Aushang am Gebäude haben wir fotografiert und an Airbnb weitergeleitet. Nachdem er meine Frau angebrüllt hat, dass er eine strikte Kein Geld zurück-Politik hat, lernt er – James, Michael oder wie immer er wirklich heißt – jetzt meine strikte Don´t fuck with me-Politik kennen.
Aber egal. Das Hotel war ohnedies die bessere Wahl. Hier gab es sogar öffentliche Verkehrsmittel ins Stadtzentrum, eine Metrostation und einige Buslinien. Auch der Universitätscampus war ein Augenöffner. Olivenbäume, rote Koniferen und Palmen entlang der Fußwege und Fahrbahnen. Dicke, überreife Zitrusfrüchte an den Bäumen. Zwischen den wunderbaren Pflanzen historische und zeitgenössische Universitätsgebäude. Die Architektur ein faszinierender Stilmix. Sämtliche Epochen von der Antike bis zur Gegenwart unter dem gemeinsamen Nenner Jugendstil vereint. Und über allem wehten natürlich Stars and Stripes und der Bär der Republik von Kalifornien. An diesem Ort befanden sich Patriotismus und Infrastruktur auch in Harmonie.
Nancy und Blanchot... Auweia!
Offiziell hatte die Uni wegen Spring Break geschlossen. Das bedeutete auch, dass alle Aufzüge in den Gebäuden außer Betrieb waren. Da allerdings die Konferenz in verschiedenen Häusern und auf mehreren Stockwerken stattfand, waren überall Konferenzbetreuer*innen unterwegs. Diese aktivierten die Aufzüge mit ihren Schlüsseln für all die Leute wie mich, die keine Treppen steigen konnten. Da hatte sich jemand etwas gedacht und auf ein Problem reagiert.
Trump und Kim haben es lustig...
Unser Ausflug an den Strand von Santa Monica gestaltete sich ebenfalls speziell. Es war Ostersamstag und außer uns hatten auch tausende Andere dasselbe Ausflugsziel gewählt. Den ganzen Vormittag hatte die Sonne geschienen. Als wir am Pier in den Pazifik ankamen, wurde der Himmel grau. Dicke Wolken verhüllten die Sonne über Riesenrad, Vergnügungspark, Strand und Boulevard. Das war ja so klar, dass wenn ich an den Strand kam, an dem die unsägliche TV-Serie Baywatch gedreht worden war, die California-Girls keine Bikinis, sondern Wintermäntel trugen. Auf unserem Spaziergang entlang der Promenade schnatterten wir vor Kälte. Es war am frühen Nachmittag so dunkel geworden, dass die Straßenbeleuchtungen angingen. Den eigentümlichen Charme dieses Ortes tat das keinen Abbruch. Zwischen den Palmen, Agaven und anderen exotischen Pflanzen wuselten so genannte Ground-Squirrels herum. 
Kleine possierliche Pelztiere, die mich an Ziesel mit kurzen buschigen Schwänzen erinnerten. Leider lebten sie im und vom Dreck. Wie allerorts üblich warfen viele Leute ihren Abfall überall hin. Der zweite Blick auf die elegante Gartenlandschaft enthüllte die Pappbecher, Plastiksackerl und Papierbeutel. Auf die Essensreste der Wegwerfgesellschaft stürzten sich die kleinen Nager mit Begeisterung. Sie huschten herbei und wickelten mit schnellen Pfoten alles Essbare aus, um mit vollen Backen im Dickicht und den zahlreichen Erdlöchern in der steilen Uferböschung zu verschwinden. Diese unterirdischen Bauten begünstigten wohl auch die gefürchteten Mudslides/Erdrutsche, deren Narben entlang der Promenade gut sichtbar waren. Auf den Wiesen und unter den mächtigen Stämmen lebten auch einige Obdachlose unter denselben Bedingungen wie die Ground-Squirrels. Die zahllosen Spaziergänger nahmen von ihnen keinerlei Notiz. Das ist ein weiterer, schwieriger Aspekt des Lebens in den USA, mit dem Elend seiner Mitmenschen geht man um, indem man es ignoriert.

Für Ostersonntag hatten wir uns den Höhepunkt unseres Aufenthaltes aufgehoben: Die Warner Bros. Studio Tour. Wir fuhren also mit dem Uber über den wie gewöhnlich verstopften Highway hinüber nach Burbank, vorbei an gruseligen Brandnarben und ausgebrannten Wohnhäusern direkt neben der Autobahn. Da bekamen wir erst ein Gefühl dafür, wie nahe die Buschfeuer der Millionenstadt gekommen waren. Und den luxuriösen Anwesen, die wie mittelalterliche Burgen oder bronzezeitliche Fürstensitze auf den Hügeln ringsum thronten. Am Ziel unserer Fahrt wurde mir schnell eines klar: Ich bin in meinem Leben schon an einigen Wallfahrtsorten gewesen. Auch an den bedeutendsten. Nach Santiago de Compostela war ich sogar zu Fuß gepilgert. Ich traue mich also zu sagen, dass ich einen Kultplatz erkenne, an dem Heilige und Reliquien verehrt werden. Und Plätzen gehuldigt wird, an denen sich Ereignisse einer Heilserzählung oder eines Mythos ereignet haben (sollen). Das Warner Bros.-Gelände war so ein Ort. Und ich wollte und konnte mich seinem Zauber nicht entziehen. An die Stelle der traditionellen spirituellen Erfahrung durch Selbsterfahrung war der Spaß getreten. Eines hatten klassische und dieser sehr gegenwärtige Wallfahrtsort gemeinsam, den Parafernalien-Laden am Ende der Reise. Hier Merchandising und Shop genannt. Das Geldausgeben am Ende komplettierte hier wie dort den Rausch. Juliane und ich können jederzeit und überall gut auf Geldausgeben verzichten, aber mindestens ich schwebte auch ohne Shopping-Flash die meiste Zeit auf Wolke Sieben.
Nach einem kurzen Einführungsfilm in einem Kinosaal, fuhren wir in einem mehrreihigen Besucherwagen ins Gelände. Das ganze Firmengelände war auf das Drehen von Filmen ausgelegt. Die Gründer, die vier Warner-Brüder, die allerdings ganz anders hießen, verlangten, dass jedes Gebäude als Drehort verwertet werden konnte. Dadurch sieht die rückwärtige Fassade eines Verwaltungsgebäudes auch zum Beispiel wie ein Motel aus. Zimmertüren inklusive. Allen Kunden war alles erlaubt und offen. Unter einer Bedingung: You’ve got the Dime, we‘ve got the time! (Du hast das Geld, wir haben die Zeit!) Bei den Warner Brothers gibt es buchstäblich die legendären Potemkin’schen Dörfer zu entdecken. Jedes Haus ist bloße Fassade. Nach jeder Seite stellt es ein anderes Gebäude dar. Es erstrecken sich ganze Straßenzüge von New York in die eine Himmelsrichtung, in die andere ist es San Francisco. Und in der Mitte eine Kleinstadt des Mittleren Westens der USA, die liebevoll „Überall in Amerika“ genannt wird. Mit Kirche, Bank, High School und Universität. Und jedes davon nur wenige Meter tief. Anschein ohne Inhalt. Auch ohne Gehalt, die Wände und Mauern sind aus Fieberglas.

Es hat auch den Anschein, dass die Tour regelmäßig den Bedürfnissen der Zeit angepasst wird. Das heißt, die Ausstellungsstücke und Anekdoten stammen und umkreisen aktuelle Blockbuster und TV-Produktionen. So stand auch ein Besuch der Sound Stage der bundesweit (und wohl auch international) beliebten Talkshow „Ellen“ auf dem Programm. Das Studio hat mich weniger aufgrund seines rituellen Wertes begeistert, aber mit seiner schieren Größe beeindruckt. Ich habe ja schon Fernsehstudios mit Beleuchtung und Requisite gesehen, aber noch keines, das eine großflächige Industriehalle gefüllt hätte. Wobei auch die Klassiker nicht zu kurz kamen. Zu wissen, an dem Ort zu stehen, an dem die klassischen Gangsterfilme mit James Cagney gedreht wurden, oder Szenen meiner Lieblingsfilme, das löste Euphorie aus. Und ich bin der Meinung, es ist dieselbe, die der Glauben hervorruft, in den Fußstapfen einer oder eines Heiligen zu wandeln. Und wie gesagt, Teil der Studiotour sind auch jede Menge Reliquien. Keine Körperteile, aber jede Menge so genannter Berührungsreliquien. Ob es sich dabei um die Kutte des Heiligen Franziskus, oder den Anzug von Humphrey Bogart oder die Rüstung von Wonder Woman handelt, das ist Hemd wie Hose. Der Effekt und das zugrundeliegende Konzept ist meiner Erfahrung nach dasselbe. Es erfüllt dieselbe kulturelle Funktion. Meine diesbezüglichen Bedürfnisse wurden jedenfalls bestens gestillt. Ich durfte meinen Leinwandhelden, den Diven (nomen est omen) und ihren getragenen Kleidern und genutzten Gefährten huldigen sowie den von ihnen berührten Versatzstücken. Und es war herrlich, so frei Mensch sein zu dürfen.

Ein mit Augenzwinkern vorgetragenes Ziel der Tour war es, den Glauben der Besucher in Film und Fernsehen zu erschüttern. Nichts war in Wahrheit so, wie es dargestellt wurde. Im vorletzten Teil der Tour zeichnete eine Ausstellung den Weg einer Film- und/oder TV-Produktion bis zum fertigen Produkt nach. Es hat mich gefreut, die Entwicklung einer Geschichte von der ersten Idee bis zum fertigen Produkt realistisch dargestellt zu sehen. Von der ersten Skizze, über die viele Versionen bis zum tatsächlichen Szenenablauf. Es ist vielleicht desillusionierend, aber Geschichten schreibt nicht das Leben, Geschichten sind harte Arbeit. Das Handwerk muss erlernt werden, und das Werkzeug hat sich seit der Poetik des Aristoteles nicht verändert. Bei Warner Brothers werden die Manuskripthalden gezeigt, die vielen Storyboards und die vollen Mülleimer. Wenn ich als Autorin oder Autor spüre, dass sich etwas niederlässt und mir ins Ohr flüstert, dann bin ich kein inspirierter christlicher Heiliger mit der Taube des Heiligen Geistes auf der Schulter, sondern dann ist es Zeit, meine Tabletten zu schlucken und mit einem Therapeuten zu sprechen. Oder in meinem Fall mit dem Arzt über die Dosierung meiner Medikamente. Warner Brothers setzten jedenfalls nicht auf Bauernfängerei, sie erzählten keine sympathieheischenden Mythen über das Manuskript. Übrigens inzwischen ein eigenes Forschungsfeld der Literaturwissenschaft. Für mich war diese Offenheit ein Zeichen des Respekts des Unternehmens vor seinen Kreativen und vor allem vor dem Publikum. Und wie sich auch mit dieser Ausstellung beweisen lässt, ist die Wirklichkeit faszinierender als jede erfundene Legende. Und wieder etwas, dass Religion, Naturwissenschaft und dieser Ort gemeinsam haben.
Selbstverständlich bin ich bei den Warner Brothers auch auf der Suche nach der Warner Schwester gewesen. Und er steht wirklich und wahrhaftig da, überragt majestätisch die Sound Stages und Potemkin´schen Straßenzüge, der Wasserturm. In Wahrheit bedroht er auf Wunsch der echten Brüder mit den aufgemalten Firmenlogos die Konkurrenz im Osten und im Westen: Universal und Disney. In der Cartoon-Serie Animaniacs war er der Wohnort der Warner-Schwester Dot und ihrer beiden Brüder gewesen. Eine Sendung, die eingestellt wurde, weil sie angeblich nicht kindgerecht genug war und zu viele so genannte Innuendos enthielt. Hallooo Schwester!
Kalifornien. Ein Ort an dem Traum und Wirklichkeit einander begegnen. Wo die Gefahr besteht, den Schein über das Sein zu stellen. Aber auch die Chance, der Traumfabrik hinter die Kulissen zu schauen und das Erschaffen und Gestalten mit wachen Augen zu erkennen. Los Angeles war am Ende doch noch viel mehr für mich geworden als die Vorstellung von Sonnenschein und Palmen.
Später am Abend ging es wieder heim nach New Haven. Und die Ostküste und Connecticut empfingen uns nach sechs Stunden Flug und mit höllisch schmerzendem Gesäß standesgemäß und stilecht zu dieser Jahreszeit mit einem Schneesturm. Und da tauchte er natürlich gleich wieder vor meinem geistigen Auge auf, der verklärte Sehnsuchtsort, der Himmel auf Erden: Das immer sonnige und stets warme Kalifornien.


Fortsetzung folgt…