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Samstag, 21. April 2018

Paulus und noch mehr Haareraufen - Kommentar zur Verhüllung des weiblichen Haupthaars

By Bartolomeo Montagna -
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Lassen wir es einmal dahingestellt, ob es sich bei der Forderung nach einem Verbot des islamischen Kopftuchs in Kindergärten und Volksschulen seitens der Politik um einen Smogscreen handelt, um von weit drängenderen politischen Problemen abzulenken. Hinterfragen wir auch nicht die Möglichkeiten der Gesetzgebung in einem aufgeklärten Verfassungsstaat. Versuchen wir stattdessen mit den schriftlichen Quellen, die jeder und jedem leicht zur Verfügung stehen, zu ergründen, wo die ganze Debatte innerhalb der so genannten westlichen Gesellschaft um das Verhüllen der weiblichen Kopfhaare seinen Ursprung nahm.
Ich weiß, diese Aufgabenstellung gestaltet sich dieser Tage nicht leicht. Vieles, das auf Grundlage ordentlicher Feldforschung und fundierter Literaturstudien geschrieben, gelesen und gelehrt wurde, kann heute in der angeheizten Diskussion in gutem Glauben und/oder frei nach Gutdünken einfach so vom Tisch gewischt werden. Nichtsdestotrotz werde ich es an dieser Stelle erneut, unaufgeregt und mit Fleiß versuchen, ich habe nämlich sehr viel Recherchematerial und Zeit:

Durch die Verbreitung des Christentums fand auch die Deutung des weiblichen Haupthaares als sekundäres Geschlechtsmerkmal und sexuelles Attribut Eingang in die europäische Alltagskultur. Unser „westliches“ Verständnis für diese Dinge scheint bis heute von den griechischen, römischen und monotheistisch orientalischen Ansätzen geprägt zu sein. Diese sprachen der Frau eine rein passive Rolle zu. In vielen heidnischen, vor allen keltischen und germanischen Gesellschaftsformen, sah das Geschlechterverhältnis anders aus. Viele erinnern sich bestimmt, dass es unter älteren Frauen auf dem Land stets üblich war, ein Kopftuch zu tragen, sobald sie das Haus verließen. Auch das Sprichwort, jemanden „unter die Haube zu bringen“, zu verheiraten, legte beredtes Zeugnis ab. Maria Theresia und Queen Victoria trugen seit dem Tod ihrer geliebten Ehemänner (1765 bzw. 1861) bis zu ihrem Tod eine Witwenhaube (1780 bzw. 1901). Wollte ein christlicher Künstler die Unbeflecktheit der Heiligen Jungfrau Maria zum Ausdruck bringen, stellte er sie mit offenem wallendem Haar dar. Nur unverheiratete und somit jungfräuliche Mädchen durften so zur Kirche gehen. So einfach und eindrücklich war das. Seinen Ursprung hatte diese Prägung im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther:

„Eine Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren.
Will sie sich nicht bedecken, so soll sie sich doch das Haar abschneiden lassen! Weil es aber für die Frau eine Schande ist, dass sie das Haar abgeschnitten hat oder geschoren ist, soll sie das Haupt bedecken.“
[1 Kor 11, 5-6; Lutherbibel 1984]

Der Text stammt aus dem Jahr 50 oder 51 n. Chr., die Autorenschaft von Paulus gilt unter Theologen als unbestritten. Insbesondere für Argumente in der Debatte um das islamische Kopftuch im öffentlichen Raum wird der Paulusbrief oft und gerne zurate gezogen. Das Sendschreiben regelte mehrere Fragestellungen, der Brief umfasst seit dem Mittelalter sechzehn Kapitel. Unter anderem auch das Geschlechterverhältnis. Ganz im Sinne seines Glaubens und des Verständnisses wie es im rund zweihundertfünfzig Jahre älteren Text von Jesus Sirach Ausdruck findet, beschrieb Paulus den Mann als das „Haupt der Frau“ [1 Kor 11,3; ebd.].


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Das Buch Jesus Sirach (auch Ecclesiasticus oder Ben Sira et alii) stammt aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Es ist ein zumeist als apokryph beschriebener Text der Weisheitsbücher der jüdisch-christlichen Bibel. Martin Luther hat das Buch aus seiner Bibelübersetzung gestrichen aus Mangel an Beweisen für seine Authentizität. Diese sind inzwischen von der Archäologie erbracht worden, aber der Reformator hatte auch große Probleme mit dem Inhalt des Textes. In reformierten Bibelausgaben sucht man dieses Buch vergeblich, in ökumenischen und katholischen findet man es sehr wohl. Das Gesinnungstestament eines Gelehrten und Lehrers warnt vor den schlimmen Folgen einer missratenen Kindeserziehung für das gesellschaftliche Ansehen eines Mannes bzw. Vaters (Kapitel 22). Der Text gibt in der Folge erste, d.h.: im Rahmen der monotheistischen Buchreligionen bezeugte, klare Anweisungen für die unterschiedliche Erziehung von Jungen und Mädchen:

„Eine Tochter ist für den Vater ein Schatz, den er hütet, die Sorge um sie nimmt ihm den Schlaf:
in ihrer Jugend, dass sie nicht verschmäht wird,
nach der Heirat, dass sie nicht verstoßen wird,
als Mädchen, dass sie nicht verführt wird,
bei ihrem Gatten, dass sie nicht untreu wird,
im Haus ihres Vaters, dass sie nicht schwanger wird,
im Haus ihres Gatten, dass sie nicht kinderlos bleibt.
Mein Sohn, wache streng über deine Tochter, damit sie dich nicht in schlechten Ruf bringt,
kein Stadtgespräch und keinen Volksauflauf erregt,
dich nicht beschämt in der Versammlung am Stadttor.
Wo sie sich aufhält, sei kein Fenster, kein Ausblick auf die Wege ringsum.
Keinem Mann zeige sie ihre Schönheit und unter Frauen halte sie sich nicht auf.
Denn aus dem Kleid kommt die Motte, aus der einen Frau die Schlechtigkeit der andern. Besser ein unfreundlicher Mann als eine freundliche Frau und (besser) eine gewissenhafte Tochter als jede Art von Schmach.“
[Jesus Sirach 42, 9-14; Einheitsübersetzung]

Diese Worte beinhalten ganz gewiss einen gewissen Widererkennungseffekt z.B. mit einem Harem. Ihr Ursprung liegt im antiken Jerusalem (oder Alexandria). Der Verfasser, ein gebildeter Jude, gibt seinem Sohn Erziehungstipps, Richtlinien, die lange Zeit, in manchen Teilen der Gesellschaft bis heute, Gültigkeit haben. Wer jetzt denkt, den (Enkel-)Söhnen erginge es liebevoller, die oder der irrt gewaltig:

„Wer seinen Sohn liebt, hält den Stock für ihn bereit, damit er später Freude erleben kann.
(…)
Beug ihm den Kopf in Kindestagen; schlag ihn aufs Gesäß, solange er noch klein ist,
sonst wird er störrisch und widerspenstig gegen dich, und du hast Kummer mit ihm.“
[Jesus Sirach, 30, 1 und 12; ebd.]

War und ist die von Jesus Sirach vertretene Pädagogik aus heutiger Sicht archaisch, brutal und nach aufgeklärtem Verständnis gegen die Menschen- und Kinderrechte, so hielt der Text auch überaus praktische Verhaltensregeln für fast alle Lebenslagen bereit. Das reichte von Tischsitten bis zum Umgang mit Freunden, Vorgesetzten und sogar mit Kreditwesen. Insbesondere für ultra-konservative religiöse Gruppierungen hat Jesus Sirach im Krankheitsfall einen guten Rat. Und um hier nicht nur seine schwarze Pädagogik zu zitieren:

„Doch auch dem Arzt gewähre Zutritt! Er soll nicht fernbleiben; denn auch er ist notwendig.
Zu gegebener Zeit liegt in seiner Hand der Erfolg, denn auch er betet zu Gott,
er möge ihm die Untersuchung gelingen lassen und die Heilung zur Erhaltung des Lebens.“
[Jesus Sirach 38, 13-14; ebd.]

Niemand hätte nach Aufklärung und Kulturkampf in Europa damit gerechnet, dass Paulus im einundzwanzigsten Jahrhundert noch einmal gesellschaftspolitische Relevanz bekommt. Für die australische Erfinderin des Burkini, Ahada Zanetti, bedeutet die verhüllende Badekleidung aus einem Lycra-Teflon-Stoffmix vor allem eines, nämlich Teilnahme am öffentlichen Leben. Während in Mitteleuropa heftig über ein Verbot des Burkini in öffentlichen Badeanstalten und an Stränden diskutiert wird. Der Name Burkini ist eine Wortkreuzung aus "Burka" und "Bikini". Er beschreibt einen Zweiteiler zum Baden, dessen lange Hose und Oberteil Arme und Beine bedecken. Kopf und Hals bekleidet der angenähte "Hijood", seinerseits ein Wortspiel aus "Hidjab" (dt.: Kopftuch) und "Hood" (dt.: Haube). Das Gesicht bleibt frei.
"Der Körper einer Muslimin wird immer politisiert. Egal, ob er bedeckt ist oder nicht", sagt Ahada Zanetti, die auch die Sportbekleidung für Afghanistans Frauen-Fußballteam und Bahrains Olympia-Läuferinnen entworfen hat [Zitiert nach: derstandard.at, 22.August 2016]. Dass sie mit den Produkten ihrer Firma Ahiida muslimischen Frauen Selbstvertrauen und Komfort bieten möchte, argumentiert Ahada Zanetti so: „Sie wollen, dass wir uns in ihre westlichen Ideen einfügen. Ich bin eine fähige, unabhängige Frau. Das ist mein Körper, mein Tempel. Ich entscheide, wie ich ihn zeigen möchte." [ebd.] Und sie bezieht sich mit ihren Worten, bewusst oder unbewusst, auf den Apostel Paulus und seinen ersten Brief an die Korinther aus dem ersten Jahrhundert:

Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?
Denn ihr seid teuer erkauft; darum preist Gott mit eurem Leibe.
[1 Kor 6, 19-20; Lutherbibel 1984]

In der spätantiken männlich dominierten hellenistischen Gesellschaft rannte Paulus als römischer Bürger jüdischen bzw. später christlichen Glaubens mit seinen Wertvorstellungen offene Türen ein. Das Resultat war, dass mit der Machtergreifung des monotheistischen Christentums im römischen Weltreich das Weibliche zunächst komplett aus dem öffentlichen Raum und der Religion verbannt wurde. Die alten Götter wurden zu Dämonen gemacht, die uralten Muttergöttinnen verteufelt. Die Misogynie, die Frauenfeindlichkeit, feierte in Theologie und Politik fröhliche Urstände. Nur in der europäischen Volksfrömmigkeit konnte dieses rigide Konzept nicht gänzlich greifen. Die Marienverehrung machte dem Bestreben einen dicken Strich durch die Rechnung. Und vorchristliche Vorstellungen und Kultplätze blieben Überlieferungen, Inquisitionsakten und modernen archäologischen Befunden zufolge bis ins Hochmittelalter und in Britannien bis in die Neuzeit am Leben.