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Montag, 28. Mai 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 32)


Teil 32: Das österreichische Landgasthaus



Austrian Country Cuisine, österreichische Landküche, das klang wie ein Versprechen, gleichzeitig aber auch wie eine Drohung. Das europäische Vorurteil über den US-amerikanischen Gaumen lautet: Verbranntes Fleisch, Fett und Zucker. Dazu Makkaroni mit Käse. Garniert mit Zucker. Zentnerweise serviert. Ebenso viele Vorurteile gibt es von US-amerikanischer Seite gegen das europäische Essen. Nur was Chinesen essen gilt als schlimmer. Manchmal stimmt´s von beiden Seiten, mehrheitlich jedoch gar nicht. Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über, genau darum reden und schreiben Österreicher gerne und häufig übers Essen. Das Abendessen im österreichischen Landgasthof im nahen und idyllischen Cheshire war als End- und Höhepunkt eines Seminars über österreichische Literatur gedacht. Das auf Papierweiß gedruckte Wort schmeckt und riecht aber nur nach Druckerschwärze, und grau bleibt darum jede Theorie. Daher lautete die Idee: Da hilft nur der Praxistest, die Probe aufs Exempel. Doch erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt, die Studentinnen und Teilnehmer zeigten nach dem Abholen ihrer Note fürs Lesen keinen Appetit aufs Erholen beim Essen. Sie hatten kein Interesse, ihren Horizont über den Burger-Tellerrand zu erweitern. Wie langweilig. Ich bin zwar manchmal ein Frosch, aber immer einer, der zum Sprung über den Brunnenrand bereit ist. Wir nahmen es wie es kam. Der Gruppenausflug wurde ein Abend unter acht Augen. Ein Abendessen, das unter anderem dadurch als bemerkenswert angesprochen wurde, weil es völlig ohne Jobtalk auskam. Wenn Charakter dadurch ausgedrückt wird, wie sich ein Mensch gegenüber jemanden verhält, der nichts für einen Tun kann, dann besteht die Natur der meisten Beziehungen an diesem Ort darin, keinen zu haben. Entsprechend freuten sich die um den „Stammtisch“ Versammelten über jede und jeden, den sie zurückgelassen hatten.

Schon die Autofahrt nach Cheshire war sehenswert. Nicht ohne Grund galt der Ort als Platz, an dem man leben möchte. Gepflegte Häuser und Gärten reihten sich im besten Neuengland-Klischee aneinander. Cheshire mit seiner weißen Holzkirche und den Backsteinhäusern im Kolonialstil ringsum wirkte wie eine Hollywoodkulisse, ganz wie jenes „Überall in Amerika“, das wir bei der Warner Brothers Studiotour erlebt hatten. Dabei hat Cheshire auch eine dunkle Seite, nämlich eine Strafvollzugsanstalt. Und die sogenannten Cheshire-Morde hatten die letzten Diskussionen über die Todesstrafe in Connecticut ausgelöst. Wir waren aber keine solchen Gruseltouristen. Mir stand der Sinn nach einem anderen Thriller. Der Gedanke, in den USA ein österreichisches Restaurant zu besuchen, weckte in mir den Reiz des Unbekannten und der Gefahr, Vertrautes und Bekanntes seltsam entstellt serviert und vorgesetzt zu bekommen. All das Mirakulöse und Monströse dann in den schillerndsten Farben zuhause erzählen und hier schildern zu können, auch das hatte seine Verlockung. Die Rechnung ging aber nicht auf. „The Watch Factory Restaurant“ wird von einem waschechten Tiroler aus Brixen im Tale geführt und bekocht. Schon beim Hereinkommen hatte ich das Gefühl, wirklich ein Gasthaus auf dem Land irgendwo in Österreich zu betreten. Holzvertäfelung, Fliesenboden, Herrgottswinkel, Stammtisch, weiße auf gemusterten und farbigen Tischdecken, alles da. Obwohl es genug Themen gegeben hätte und wir an den „Stammtisch“ gesetzt wurden, ersparten wir uns die politischen Diskussionen, das Essen sollte ja schmecken. Die Speisekarte las sich jedenfalls kaum anders als eine österreichische. Mit der Ausnahme, dass unter „Entree“ wie landesüblich die Hauptspeisen und nicht wie aus Europa gewohnt die Vorspeisen aufgelistet waren, und mit ein paar Zugeständnissen an US-amerikanische Geschmäcker. Diese Anpassungen fielen jedoch nicht viel skurriler aus, als wenn man sich von der österreichischen Grenze nordwärts bewegt. Das Jägerschnitzel wurde in der Panier (dt.: Panade) mit Schwammerl- (bzw. Champignon-) Sauce serviert. Und nicht „Natur“ wie es „richtig“ erscheint. Bei manchen meiner Landsleute löst das bekanntlich (und nachvollziehbar) Ekel aus, mir schmeckt das so eigentlich ganz gut. Sachertorte mit Himbeermarmelade, das geht dann aber zu weit und grenzt auch für mich an Barbarei. Das Wiener Schnitzel kam dafür korrekt vom Kalb. Da ich aber keine Kinder esse, wurde es für mich das „Schweinswienerne“, das heißt ein Schweinsschnitzel nach Wiener Art. Die zum Schnitzel erhältlichen Beilagen lasen sich zunächst schon ein wenig exotisch. Salat stand nicht zur Auswahl, weder Vogerl- noch Kartoffelsalat. Dafür Kartoffelpuffer und Erdäpfelpüree. Todesmutig hatte ich letzteres schon zuvor bei anderer Gelegenheit probiert, auch schon selbst gekocht, darum wählte ich diese Variante. Das Schnitzel nach Wiener Art wurde nicht frittiert, sondern korrekt und schmackhaft in der Pfanne gewendet. Ich glaube, sogar in Butterschmalz. Da gab es rein gar nichts zu mäkeln. Zuvor aß ich eine eingebrannte bzw. legierte Gemüsesuppe wie ich sie schon als kleines Kind im Gasthaus Daniel im Waldviertel gegessen hatte, vor mittlerweile unglaublichen vier Jahrzehnten. Zum krönenden Abschluss unseres österreichischen Abendessens kam Markus Patsch sogar aus der Küche und schüttelte uns die Hand. Er erzählte uns, dass der Koch in seinem Lokal in München so ein seltsames Deutsch sprach, weil er wie Juliane aus Sachsen kam. Die Welt ist ein Dorf.

Die Begegnung mit einem anderen, berühmten Sachsen und seiner besonderen Sprache blieb bei mir nicht ohne Folgen. Juliane hat mir aus einer der zahlreichen Bibliotheken der Universität ein paar Bücher mitgebracht. Die ausgemusterten Bibliotheksbände werden zur freien Entnahme an den Instituten ausgelegt. Da es sich dabei ganz fachspezifisch recht oft um fremd- also deutschsprachige Titel handelt, sind wir als Muttersprachler im klaren Startvorteil. Und das in jeder Hinsicht. Diesmal hat mir Juliane nämlich ein paar „Exoten“ mitgebracht. Es erscheint mir völlig logisch, warum diese Bücher aussortiert worden sind. Und weshalb einige Zaungäste zunächst große Augen machten, als sie Juliane heimtrug. Nach ihrer Erklärung meines bibliophilen Interesses wich dieses Erstaunen einer anderen Verwunderung. Die Bücher stammen aus den 1920igern und sind augenscheinlich von, na sagen wir mal, nationalem Inhalt. Augenscheinlich. „Das Heilige Reich der Deutschen“ von 1925 handelt tatsächlich und rein wörtlich (wenn auch etwas geschwurbelt formuliert) vom Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, seiner Geschichte und von nichts anderem. Layout und Satz verströmen einen giftigen Brodem der Deutschtümelei, der sich allerdings noch nicht im Geist und Gebrüll von Feldherrnhalle und Hofbräuhaus manifestiert hatte. Diesen Unterschied muss man allerdings schon einmal gesehen haben, um ihn zu erkennen. Er zeigt sich vor allem daran, dass die Texte in Latein und nicht Fraktur bzw. Kurrent gedruckt sind wie es bis 1941 üblich gewesen ist, weil sie für ein ausländisches, in diesem Fall englischsprachiges Publikum lesbar sein wollten. Ein anderer Titel ist ein Kommentar über die psychologischen Errungenschaften Friedrich Nietzsches von 1926. Rein optisch dasselbe Problem. Zudem umweht den Philosophen aus Sachsen in den USA immer noch der braune Mief der Fehlinterpretation und des Missverständnisses. Sowie der plumpen Fälschung des Willens zur Macht. Als Nietzsche-Fan hat es mir dieses Buch besonders angetan. Es stammt von Ludwig Klages, einem zu seiner Zeit populären Denker und Publizisten um den man damals einfach nicht herumkam. Wenn wundert es, dass Juliane dieser Name sofort ins Auge springt, verfasst sie im Moment das letzte Kapitel ihrer Habilitationsschrift über die „Klage“. Klages indes war in der Zwischenkriegszeit ungefähr das, was ein Richard David Precht für die Philosophie heute ist und ein Richard Dawkins für eh alles. Wie dem auch sei! Ich begann dieses Buch zu lesen. Aus Neugier und Begeisterung. Eine Frau hat vor etlichen Jahrzehnten ihr Lesezeichen darin vergessen, mit ihrem Namen und ihren Notizen darauf. Sie interessierte sich für Zeitungsartikel über Tee. Jeder Druckfehler ist unterstrichen und ein ganz besonders arger ist in professoralem Unmut und gestochener Kurrenthandschrift mit „glatter Satzfehler“ kommentiert. Seither leide ich unter etwas wie einem aufgewühlten und anachronistischen Prosadurchfall. Und auch bei mir wurde die Tragödie aus dem Geist der Musik geboren:

Wir können uns inzwischen wieder gefahrlos ohne Schwimmflügerl ins Freie wagen. Anders als die Leute im Süden, die sich auf Sturm und Überschwemmungen gefasst machen müssen. In New Haven sind die Abende lau, die Nächte heiß und dunstig. Die Balkonsaison ist eröffnet. Etliche unserer jugendlichen Nachbarn versammeln sich auf dem Vorbau des Nebenhauses zu Stuhlrunde mit Bier und Plauderei. Das ist zwar nett, aber laut. Frequenz und Tonlage der aufgrund der Entfernung unverständlichen Gespräche sind schwer auszuhalten. Und die Lektüre von Nietzsche hilft dabei nicht. Immer die Zeile verloren. Das liegt am eigentümlichen Klangbild des geselligen Zusammenseins. Meiner bisherigen Beobachtung nach klingen derartige Gesprächsrunden in allen Sprachen der westlichen Hemisphäre gleich. Unabhängig vom Inhalt, der aber wahrscheinlich auch überall derselbe ist. Für meine Ohren und den gequälten Geist dazwischen hört sich das dann so an: Ein gemurmeltes Adagio con moto hebt zu einem Andante an, das fast augenblicklich in ein Allegro con brio übergeht, welches seinerseits in ein Crescendo mündet, in eine Lachsalve. Das nun folgende Presto risoluto erstirbt schon im nächsten Takt zu einem Adagio. Ab hier dann weiter wie zuvor. Das Schema wiederholt sich. Bis zur totalen Ermattung oder wütenden Raserei des unbeteiligten Zuhörers. Und zwei Häuser weiter heult schon der Hund im Garten. Und man möge mir verzeihen, dass ich einem Miniatur-Nietzsche gleich nur Florettstöße des Hasses und Hammerschläge des Zorns für diese Sesselkreise und Nudelsalatrunden übrig habe, da ich in deren Alter wenn nicht gleich ausgeschlossen, so doch an den Rand oder die Eselsbank gesetzt worden bin. Weil ich schon früh als Orchesterinstrument verstimmt nie den richtigen Ton getroffen habe, in den notwendigen Gleichklang einzustimmen, um ein erfolgreiches oder auch nur von meinen Zuhörern respektiertes Stück abzuliefern. Sodass ein objektiv nur Misstöne quäkendes Instrument, solange es nur die richtige, das heißt: gefällige Tonart trifft, im Konzert besser gelitten ist als ich. Vor allem wenn ich in meiner jugendlichen Begeisterung bei meiner Rede die Zügel schleifen ließ, gingen mir allzu oft die Pferde durch. Der größte Dummkopf erscheint klug, hält er nur lange genug seinen Mund. Und umgekehrt.

In klaren Momenten weiß ich heute, dass jemand schon ein gehöriges Maß an verbitterter Feindseligkeit samt Minderwertigkeitsgefühl mitbringen muss, um einen derart enthusiastisch daher schwafelnden jungen Menschen seine Galle schmecken zu lassen. Gern bezeichnet man die oder den dann als Histio oder Narziss, dabei handelt es sich bloß um ein Fohlen auf der Weide. Ich denke, die Welt würde ein besserer Ort, sobald die Menschen mehr achteten, was jemand sagt und weniger darauf, wie oder in welcher Weise jemand etwas sagt. Eine Antwort lässt vielleicht einmal etwas länger auf sich warten, weil sich der Angesprochene die Mühe macht, vor dem Reden über seine Worte nachzudenken. Die Erwiderung erfolgt natürlich schneller, wenn sie vorbereitet und nach dem Allerweltsgaumen abgeschmeckt daherkommt. Hätten Populisten mehr aufmerksame Zuhörer, sie hätten automatisch weniger Publikum.

Dergleichen überkommt es mich, Nachtens schlaflos schwitzend, beim Versuch, in Ruhe Nietzsche zu lesen… O weh! Ich hoffe das gibt sich wieder.

Fortsetzung folgt…

Sonntag, 20. Mai 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 31)


Teil 31: Kommen und Gehen


In Yale steht das 317th Commencement vor der Tür. Die Graduierungsfeiern werden am Pfingstmontag stattfinden. Stadt und Universität füllen sich mit Eltern und Personen in schwarzen Talaren. Die Graduierung scheint eine der zwei Lebensgelegenheiten zu sein, an denen sich US-Amerikaner fein machen. Die eigene Beerdigung nicht eingerechnet. Bun (Haarknoten), Frotteesocken, Schlabberpulli und kurze Hosen sind Fönfrisur, Anzug und High heels gewichen. Während sich die Dormitorys leeren (die Wohncolleges), schwellen stolz die Elternbrüste. Die Undergraduates fahren heim, Auszuzeichnende und Gratulanten scharen sich, das Semester ist zu Ende.
Das Ende der Regenfälle zu verkünden war dagegen leider ein wenig verfrüht. Die Tage des Dauerregens wechseln sich rhythmisch mit den Frühlingsgewittern ab. Die Temperaturen pendeln von kühl nach heiß und wieder zurück, was nicht nur atmosphärische Entladungen zur Folge hat. Auch die Gelenke und das Genick sind verspannt. Quasi über Nacht waren alle Bäume, Sträucher und Hecken grün. Der Anblick dieser hoffnungsfrohen und lebensbejahenden Farbe lässt alles Wintergrau und -braun vergessen. Wie fortgewischt ist die Erinnerung an alles Trostlose und Leichenblasse. Es fühlt sich an, als wären Kälte und Dunkelheit niemals geschehen. Glücklich ist, wer vergisst.
Die Baumblüte ist nach wie vor beeindruckend. Die Farben verlaufen vom sprichwörtlichen Blütenweiß ins Pink bzw. Magenta, weiter ins Magentarot, und von da bis tief ins Blauviolett. In den Gärten der eleganten Häuser im Kolonialen und Viktorianischen Stil rings um das Büro meiner Therapeutin gedeihen mit den Neurosen auch die prächtigsten Pflanzen. Die umsichtigen Gärtner pflanzten sie in Etagen, so dass seit den Veilchen, Schneeglöckchen, Krokussen und Narzissen immer eine neue Gruppe Blühpflanzen zu bewundern und zu schnuppern ist. Schade, dass ich als Patient bzw. Besucher dieser Wohngegend mehr von dieser Pracht habe als ihre Besitzer. Die sind nämlich nie zuhause, oder nur selten. Und wenn, dann wohl nur abends. Die Menschen, die ich hier unter Tags treffe, sind Haushälterinnen, Paketzusteller, Therapeut*innen und ihre Patient*innen. Gelegentlich mischt sich auch mal eine Gattin mit kleinem Hund in unsere illustre Runde.
Wenn ich mit Juliane aus diesem Viertel zurück auf den Science Hill spaziere, ertappe ich mich gelegentlich dabei wie ich vor einem der Bäume stehenbleibe und minutenlang in die Blüten und auf die dazwischen herumsummenden Insekten schaue. Da kommt es schon mal vor, dass ein Student an mir vorbei eilt, kurz innehält und amüsiert schmunzelt. Es sind meistens junge Männer. Sie wirken erst belustigt, dann sofort wieder gehetzt. Sie laufen weiter. Etwas später treffe ich sie wieder, z.B. in der Warteschlange bei den Food Trucks an der Eisporthalle oder vor einem Hörsaal, den Blick starr auf das Smartphone in ihrer Hand geheftet. Das erinnert mich dann wiederum an jemanden, der mich mal ziemlich angefressen angepflaumt hat, dass er ganz sicher nicht ignorant wäre, wenn er in einem Baum „halt nur einen Baum“ sah. Derselbe Mensch erzählt inzwischen jeder und jedem, die es hören wollen oder auch nicht, dass er „mit den Augen eines staunenden Kindes“ durch die Welt streift. Gusto und Ohrfeigen sind halt verschieden.
Dieselben umsichtigen Gärtner, die die Gärten jener edlen Wohngegend bepflanzten, kümmerten sich mit der derselben saisonalen Umsicht auch um die Beete und Rabatten vor den Dormitorys. Die Tulpen, Märzenbecher und Narzissen sind pünktlich verblüht. Nachsprießen tut indes nichts. Die zahlenden Küken haben jahreszeitlich bedingt das Nest verlassen, und wie der Campus für uns andere Vögel aussieht ist egal. Für Anrainer und Angestellte braucht es keine Blumen. Uns bleiben ja noch die Bäume und die imposante Architektur.
Die gewaltigen gotischen Hallen, die neben sich alle Prachtbauten jedes mittelalterlichen Potentaten wie Bauernkaten aussehen lassen, haben sich dieser Tage bestens bewährt. Ich war jedenfalls froh, Juliane in den ehrwürdigen Hallen der Sterling Library zu wissen, während mein Handy und alle anderen Mobiltelefone der Stadt laut Alarm quäkten. Die Regierung verschickte eine Tornadowarnung. In wenigen Minuten wurde der sonnenhelle Nachmittag stockfinster. In Windeseile bedeckten dunkle tief hängende Wolkenbänke den Himmel. Der kurz darauf einsetzende Gewittersturm brachte unser Holzhaus ins Ächzen und Schwanken, und die Mülltonnen der Nachbarschaft zum Fliegen. Bäume stürzten auf Häuser, Autos und Stromleitungen. Ein paar weniger privilegierte Viertel waren zwei Tage lang ohne Strom. In der Bibliothek fühlte sich das alles wie ein lauer Wind an. Das Ausmaß der Verheerung wurde Juliane erst beim Verlassen der Wissenskathedrale sichtbar. Der Abendhimmel nach Thors nachmittäglichem Hammerschwingen zeigte sich wiederum in Farben, die ich noch nirgends zuvor gesehen hatte. Umrandet von starkem Anthrazit glühte ein Streifen aus Blau, Silbergrau und Magenta vor dem Horizont. Den Eindruck muss man sich zusammen mit dem Geruch von nassem Asphalt und aus Wiesen und Bäumen aufsteigendem Dunst vorstellen.
Und zwischen all dem Chaos lag eine elektrische Heckenschere in der Wiese gegenüber im Botanischen Garten. Sie liegt immer noch dort. Gelb, gut sichtbar und seit Tagen im anhaltenden Dauerregen. Ich nehme bösartig an, dass sie von Student*innen für ein Selfie oder ein Youtube-Video aus dem Werkzeugschrank geholt und danach einfach an Ort und Stelle liegenlassen und vergessen worden ist. Bemerkbare Arbeiten wurden nicht damit verrichtet. Der kahlköpfige Herr im Feinrippunterhemd wird sich freuen, der so unverkennbar osteuropäisch wirkt und sich tatsächlich um den Garten und seine Glashäuser kümmert. Die Heckenschere ist meiner Meinung nach inzwischen verschieden. Und dabei gilt hier das Klischee als Wahrheit, dass alle Dinge im Kommunismus kaputt gegangen sind, weil sie niemanden gehörten.
Wenn Juliane in einem Gespräch erwähnt, dass sie im Kommunismus aufgewachsen ist, nämlich in den letzten Zügen der DDR, bekommen zuhörende junge Frauen große Augen und ausgewachsene Mannsbilder erblassen. Ähnlich verblüffte Blicke zieht umgekehrt ihr entsetztes Gesicht auf sich, wenn sich das Seitenfenster eines geparkten Autos öffnet, und eine Hand den Müll einfach auf den Gehsteig wirft. Und genau dieses erstaunte Reagieren der Leute ringsum auf ihre erschreckte Reaktion (und nicht auf die Respektlosigkeit und Verschmutzung) ist meiner Meinung nach der Grund, warum es hierzulande niemand nirgends schön haben kann. Außer in Disneyland. Und der Restmüll den alles erklärenden Namen „Landfiller“ bekommen hat (dt.: Landschaftsfüller).
Auch die örtliche Eigenart barfuß nach draußen, auf die Straße oder zu den Mülltonnen zu gehen, ist eine Lebensrealität, mit deren Datenverarbeitung ich mir schwer tue. Nichtsdestotrotz ist es gängige Praxis, ob ich dieses Verhalten unserer Nachbar*innen verstehe oder nicht. Ich will mir gar nicht vorstellen, welchen Schmutz und wie viele garstige Keime ich mir so auf die Fußsohlen und in meinen innersten Wohnbereich hole. Und mich quälen auch wieder andere trübe Gedanken: Besorgt trete ich ans Fenster und betrachte die leeren Garagen in unserem Hinterhof. Nachdem ein Universitätsjahr vergangen ist, haben auch zwei unserer Mitbewohner sowohl Yale als auch unser Haus verlassen. Darunter auch der nette Junge aus Tennessee, dem wir unseren Stellplatz abgetreten haben. Sein Auto hat er natürlich mitgenommen. Und ich frage mich, wie lange es dauern wird, bis die unter den hiesigen Youngstern herrschende „Alles gehört jedem, darum zernutze ich alles“-Einstellung wieder schlagend wird, und irgendwelche Nachbarn ohne die Miete dafür zu bezahlen ihre Autos unter unserem Dach abstellen. Würden sich diese Kids auf ihrem Weg durch die Welt nicht gebärden wie die Heuschreckenschwärme und allerorts unbewohnbare Wüsteneien hinterlassen, hätte ich auch gar nichts dagegen. Ich bin leider nicht in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass eine Consuela oder ein Jose ständig hinter mir herräumt, oder dass, wenn ich etwas demoliere oder verliere, es von den Eltern sofort ersetzt wird. Und hier angelangt und meiner selbst wieder bewusst, frage ich mich, ob ich langsam zum grantigen alten Furz degeneriere. Aber tatsächlich schließt sich genau an dieser Stelle der Kreis zur verlassenen Heckenschere in der Wiese.

Fortsetzung folgt...



Freitag, 4. Mai 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 30)


Teil 30: Be careful what you wish…

Careful what you wish
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it
… ist nicht nur eine passende Textpassage aus einem Metallica-Song (King Nothing, 1996), sondern auch ein erwiesenes Sprichwort: Pass auf, was Du dir wünscht, Du könntest es bekommen (und bereuen). Nicht nur die Dschinn im Märchen verführen und täuschen ihre Opfer, sich um Kopf und Kragen zu wünschen. Allzu oft trügt der schöne Schein, und dann haben wir den Salat.
Vor wenigen Tagen war noch Winter in New Haven, ein paar Nächte später herrschte schon Hochsommer. Vorgestern noch regennasses und dämmriges Zwielicht, heute schon tropenfeucht und sonnendurchflutet. Am Beginn des vierten Monats dieses Jahres brachen die Brunnen der Tiefe auf und öffneten sich die Fenster des Himmels über Neu-England. Und ein Regen kam über Connecticut vierzehn Tage und vierzehn Nächte. Kaum war die Flut versickert, stieg die Sonne hoch auf den Zenit, sprossen die Blumen und die Bäume blühten. Und wir schwitzten im Schatten ihrer Äste wie unsere Vorfahren und alle anderen mächtigen Affen. Die heiße Brise trieb die trockenen weißen Blütenblätter über die Straßenkreuzungen wie noch vor kurzem die Schneewehen. Dabei hatten wir uns bloß angenehmes Übergangswetter gewünscht, so um die 20 Grad Celsius. Doch die Frühjahrsgarderobe meiner Zwanziger ist nur noch eine Erinnerung. In meinen Vierzigern wechsle ich direkt vom Wintermantel in die Bermuda. Und aus der langen Unterhose in die Zinkcreme. Wie in jeder Reisebeschreibung, die ich jemals von Europäern über die Neue Welt gelesen habe, sind die Winter hart, das Frühjahr feucht, die Sommer heiß und die Entzündungen wund. Zum Abend ziehen sich Stürme über dem Meer zusammen, deren Wolken geschwind die Sonne verfinstern. Die Böen peitschen einem den Regen ins Gesicht. Mitten in der eigenen Wohnung, direkt vor dem Badezimmer. Quer durchs benachbarte Zimmer, durch das offene Fenster und das Fliegengitter, an der zum Trocknen aufgehängten Wäsche vorbei. Und weil das alles schon einmal geschehen war, im April 1800 von der Wissenschaft ganz ähnliche Temperaturen gemessen worden waren, konnte dies alles nur natürlichen Ursprungs sein, meinen die üblichen Verdächtigen. Folgerichtiger Beweis für einen ganz normalen Prozess. Für den es in der Vergangenheit zwar nur einen beispielhaften und dokumentierten Einzelfall gab, der sich inzwischen aber jährlich wiederholte. Aber es wurde dieser Tage in allen Bereichen des Lebens eine bemerkenswerte Eigenschaft von bedauerlichen und lässlichen Einzelfällen, dass sie mehr und mehr dem Gesetz der Serie folgen wollten.
Ganz New Haven schien auf der Straße. Die Gehsteige zwischen den Colleges und Unigebäuden ähnelten Ameisenstraßen. Alle Welt war auf den Beinen. Die Sonne brachte uns an den Tag. Was schon bemerkenswert war, da sich das Leben in den USA normalerweise nicht unter freiem Himmel, sondern zwischen vier Wänden und mit Klimaanlage abspielte. Das Konzept Schanigarten hat sich hierzulande trotz Wärme und Blütenpracht nicht durchgesetzt. Einen Gastgarten nach europäischen Verständnis suchte ich bisher in ganz New Haven vergebens. Dabei würde ich mich gerne zu einer Tasse Kaffee oder einem Glas Bier hinsetzen. Wenn ich das erleben möchte, in gepflegter Umgebung im Freien sitzen, muss ich nach Disneyland. So lautete der Rat der meisten US-Amerikaner. Dort gibt es neben der von Mäusen, Prinzessinnen und Enten bevölkerten Welt aus Pappmaschee auch eine Zone für die Erwachsenen. Mit französischen Straßencafés und ohne Müll in den Beeten und Rabatten wie sonst überall. Walt Disneys Geschäftsmodell des familienfreundlichen Vergnügungsparks funktioniert auch noch im 21igsten Jahrhundert bestens.
Es erscheint völlig logisch, eher in einen anderen Bundesstaat und in ein Ressort zu fliegen, als daheim einen Besen in die Hand zu nehmen, den Gehsteig zu kehren und ein paar Tische und Sessel vor sein Lokal zu stellen. Aber richtig, bevor ich dort meine Gäste unbehelligt bewirten könnte, müssten grundlegendere Probleme angesprochen und gelöst werden. Dann schon lieber in einem künstlichen Paradies seine „Freiheit“ kaufen, als das allgegenwärtige Diesseits etwas gerechter zu gestalten. Die Zeit steht still, solange die Kreditkarte tickt. Der Glaube versetzt Berge! Nichts hinterfragen. Reflektion ist rückwärtsgerichtet. Und das einzige, das zählt, ist der technische und wirtschaftliche Fortschritt.
Thomas Paine (1737-1809), politischer Intellektueller und einer der Gründungsväter der USA, klassifizierte das seinerzeitige ancien régime, die traditionelle Erbmonarchie, als ein „entirely fictive system of government and society“ („komplett erdichtetes System von Regierung und Gesellschaft“) und „entirely the creature of imagination“ („zur Gänze die Kreatur der Einbildung.“) Mit anderen Worten, was und wen wir, die Untertanen, zu kennen und wahrzunehmen glauben, ist nichts anderes als Fantasie und Mummenschanz. Mithilfe einer in den Medien bewusst gewählten language of sentiment (Sprache der Rührseligkeit) werden Gefühle für und mit dem Königshaus geweckt. Besonders im Zusammenhang mit Schicksalsschlägen wie Unfällen oder Krankheit. Mit dieser besonderen Sprache wird die Bevölkerung ermuntert, sich ihre Beziehung zu dem Monarchen und seiner Familie als vertraut, gefühlsbezogen und persönlich vorzustellen. Auf diese Weise wird es zum Beispiel zur Gewohnheit, Angehörige der Herrscherfamilie nur mit dem Vornamen zu benennen als handele es sich bei ihnen um enge Freunde oder Bekannte. So sehr sind sie (bzw. unsere Vorstellung von ihnen) schon Anteil unseres täglichen Lebens. Mit dem vocabulary of loyalism (Wortschatz der Treue) wurde und wird das Volk an die königliche Familie und die Institutionen der Monarchie gebunden.
Und das System hat sich vielfältig bewährt. Hand aufs Herz, wie oft adressiere ich in Gedanken den einen besonderen Sportler, oder die eine tolle Musikerin nur mit ihrem Vornamen?
In den 1830ern und 1840ern gelang der jungen britischen Königin Victoria mithilfe ihrer Allgegenwart in der Reportage und als Bild der Meisterkniff. Sie fügte den klassischen Motiven des Königtums erstmals eine bis heute funktionierende Dimension hinzu: Victoria und ihr Ehemann Albert entwickelten das Gottesgnadentum weiter zum Medienevent. Nirgends, außer bei einer (von der scheinbaren Dummheit des einfachen Mannes frustrierten) politischen Minderheit, herrschte das Empfinden eines ancien régime. Im Gegenteil: Die öffentlich repräsentierte und repräsentable jungfräuliche Königin verkörperte die Hoffnung auf die Zukunft. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Wie volksnah und sympathisch werden Parteiobmänner, Spitzenkandidatinnen, angebliche Wunderwuzzis und sonstige Führer politischer Bewegungen von modernen Medien an den Mann und an die Frau gebracht? Das Resultat: Der Grad der Glaubwürdigkeit verhält sich zum Sympathiewert ausgeglichen. Oder anders gesagt: Den ich mag, dem glaube ich. Populismus ist nur ein anderes Wort dafür.
Seit Victoria, Albert und ihrer Medien-Revolution war der Staatskörper auf moderne Weise virtuell geworden. Und damit zunehmend zerbrechlicher und flüchtiger. Es reichten fortan keine prachtvollen Zeremonien, Staatsporträts und Grabfiguren mehr, um das Übermenschliche des Herrschers und all dessen, was er durch Gott und sein Recht repräsentierte, sichtbar zu machen. Illusion und Vorstellung mussten lebendig gehalten werden. Das Idol musste gefüttert werden. Nicht mehr buchstäblich wie in heidnischen Götter- und Ahnenkulten, aber im übertragenen Sinn. Ruf und Echo der Monarchie wurden nicht länger von den Hymnen und Chorälen in den Kathedralen angestimmt, sondern durch das Zwitschern und Rauschen im Blätterwald. Egal, was die Leute über dich redeten, Hauptsache, sie taten es. Idealerweise verbreiteten Journalisten und Illustratoren fortlaufend Positives. Die königliche Familie war zwar noch weit davon entfernt, über eine selbstgeschneiderte Berichterstattung zu verfügen, aber sie bemühte sich von Anfang an um eine angemessene.
Das Amt des US-Präsidenten verfügt über eine verfassungsrechtliche Machtfülle wie ein europäischer Fürst im achtzehnten Jahrhundert. Die bis dato vorhandene Ähnlichkeit der Wahrnehmung und Repräsentanz des gewählten Staatsoberhauptes mit gekrönten aus Geschichte und Gegenwart ist augenfällig. Wie ausgeprägt diese Parallelen sind, belegt ein Beispiel aus dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016:
Der Hobbyfotograf Zdenek Gazda hat am 11. September 2016 nach einer Gedenkfeier am Ground Zero gefilmt, wie die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton aufgrund eines Schwächeanfalls die Balance und scheinbar das Bewusstsein verloren hat. Sie musste gestützt und von ihren Personenschützern in einen schwarzen Wagen gehoben werden. Das Video von Hillary Clintons Schwächeanfall in New York verbreitete sich innerhalb von Stunden via Internet rund um die Welt. Zum Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs im Zentrum Manhattans war keine einzige Fernsehkamera in ihrer Nähe. Nur Zdenek Gazda hat reflexartig mit der Kamera draufgehalten, das Video gepostet und damit ungewollt (wie er gegenüber Veit Medick behauptete) Hillary Clintons Wahlkampagne ins Wanken und den US-Präsidentschaftswahlkampf gefährlich durcheinander gebracht. Danach versteckte er sich und gab (dennoch) Interviews, wie sehr ihn das alles fertiggemacht hat. Wieder einmal zeigte sich: Wer vorher über die Konsequenzen seines Tun und Lassens nachdenkt, ist klar im Vorteil.
Spontaneität und Authentizität sind überbewertet. Körperliche Gesundheit und Stärke sind in den USA der Gegenwart nach wie vor Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur. Das erscheint zunächst vielleicht archaisch und unzeitgemäß, aber für die Mehrheit der US-Amerikaner gilt ihr Staatsoberhaupt noch immer als der mächtigste Politposten der Welt. Der US-Präsident hat nicht nur verfassungsmäßige Rechte wie ein europäischer Fürst des achtzehnten Jahrhunderts, für ihn oder sie gelten auch nach wie vor dieselben Anforderungen. Und da gehört ein perfekter state body dazu.
Mit Ronald Reagan wurde 1981 bis 1989 erstmals ein Hollywood-Schauspieler zum 40. Präsident der Vereinigten Staaten gewählt. 2016 war es bereits ein Reality-TV-Star. Und als dessen Gegenkandidatin im Wahlkampf 2020 wird in den bundesweiten Medien laut über eine Talkshowmasterin nachgedacht.
Die Wochenzeitung Penny Satirist äußerte bemerkenswerter Weise bereits am 28. September 1844 den Wunsch: „we want a queen who will speak to the nation, who will show us her mind by the expression of her thoughts“ („wir wünschen eine Königin, die zur Nation sprechen wird, die uns ihren Sinn vermittels des Ausdrucks ihrer Gedanken zeigen möchte”).
Ein jahrhundertealter Traum ist dank Social Media wahr geworden, wir sind direkt mit Kopf und Herz der Monarchie verlinkt. Heute vergleichen Präsidenten mit Diktatoren via Twitter die Größe ihrer Atomknöpfe. Und alle sind wir live dabei.
Careful what you wish
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it

SAD!


Fortsetzung folgt…