Teil 30: Be
careful what you wish…
“Careful what you wish
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it”
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it”
… ist nicht nur eine passende
Textpassage aus einem Metallica-Song
(King Nothing, 1996), sondern auch ein
erwiesenes Sprichwort: Pass auf, was Du
dir wünscht, Du könntest es bekommen (und bereuen). Nicht nur die Dschinn
im Märchen verführen und täuschen ihre Opfer, sich um Kopf und Kragen zu wünschen.
Allzu oft trügt der schöne Schein, und dann haben wir den Salat.
Vor wenigen Tagen war noch Winter
in New Haven, ein paar Nächte später herrschte schon Hochsommer. Vorgestern noch
regennasses und dämmriges Zwielicht, heute schon tropenfeucht und
sonnendurchflutet. Am Beginn des vierten Monats dieses Jahres brachen die
Brunnen der Tiefe auf und öffneten sich die Fenster des Himmels über
Neu-England. Und ein Regen kam über Connecticut vierzehn Tage und vierzehn
Nächte. Kaum war die Flut versickert, stieg die Sonne hoch auf den Zenit, sprossen
die Blumen und die Bäume blühten. Und wir schwitzten im Schatten ihrer Äste wie
unsere Vorfahren und alle anderen mächtigen Affen. Die heiße Brise trieb die trockenen
weißen Blütenblätter über die Straßenkreuzungen wie noch vor kurzem die Schneewehen.
Dabei hatten wir uns bloß angenehmes Übergangswetter gewünscht, so um die 20
Grad Celsius. Doch die Frühjahrsgarderobe meiner Zwanziger ist nur noch eine
Erinnerung. In meinen Vierzigern wechsle ich direkt vom Wintermantel in die
Bermuda. Und aus der langen Unterhose in die Zinkcreme. Wie in jeder
Reisebeschreibung, die ich jemals von Europäern über die Neue Welt gelesen
habe, sind die Winter hart, das Frühjahr feucht, die Sommer heiß und die
Entzündungen wund. Zum Abend ziehen sich Stürme über dem Meer zusammen, deren
Wolken geschwind die Sonne verfinstern. Die Böen peitschen einem den Regen ins
Gesicht. Mitten in der eigenen Wohnung, direkt vor dem Badezimmer. Quer durchs benachbarte
Zimmer, durch das offene Fenster und das Fliegengitter, an der zum Trocknen aufgehängten
Wäsche vorbei. Und weil das alles schon einmal geschehen war, im April 1800 von
der Wissenschaft ganz ähnliche Temperaturen gemessen worden waren, konnte dies
alles nur natürlichen Ursprungs sein, meinen die üblichen Verdächtigen. Folgerichtiger
Beweis für einen ganz normalen Prozess. Für den es in der Vergangenheit zwar nur
einen beispielhaften und dokumentierten Einzelfall gab, der sich inzwischen aber
jährlich wiederholte. Aber es wurde dieser Tage in allen Bereichen des Lebens
eine bemerkenswerte Eigenschaft von bedauerlichen und lässlichen Einzelfällen,
dass sie mehr und mehr dem Gesetz der Serie folgen wollten.
Ganz New Haven schien auf der
Straße. Die Gehsteige zwischen den Colleges und Unigebäuden ähnelten
Ameisenstraßen. Alle Welt war auf den Beinen. Die Sonne brachte uns an den Tag.
Was schon bemerkenswert war, da sich das Leben in den USA normalerweise nicht
unter freiem Himmel, sondern zwischen vier Wänden und mit Klimaanlage abspielte.
Das Konzept Schanigarten hat sich hierzulande trotz Wärme und Blütenpracht nicht
durchgesetzt. Einen Gastgarten nach europäischen Verständnis suchte ich bisher in
ganz New Haven vergebens. Dabei würde ich mich gerne zu einer Tasse Kaffee oder
einem Glas Bier hinsetzen. Wenn ich das erleben möchte, in gepflegter Umgebung
im Freien sitzen, muss ich nach Disneyland. So lautete der Rat der meisten
US-Amerikaner. Dort gibt es neben der von Mäusen, Prinzessinnen und Enten
bevölkerten Welt aus Pappmaschee auch eine Zone für die Erwachsenen. Mit französischen
Straßencafés und ohne Müll in den Beeten und Rabatten wie sonst überall. Walt
Disneys Geschäftsmodell des familienfreundlichen Vergnügungsparks funktioniert
auch noch im 21igsten Jahrhundert bestens.
Es erscheint völlig logisch, eher
in einen anderen Bundesstaat und in ein Ressort zu fliegen, als daheim einen
Besen in die Hand zu nehmen, den Gehsteig zu kehren und ein paar Tische und
Sessel vor sein Lokal zu stellen. Aber richtig, bevor ich dort meine Gäste
unbehelligt bewirten könnte, müssten grundlegendere Probleme angesprochen und gelöst
werden. Dann schon lieber in einem künstlichen Paradies seine „Freiheit“
kaufen, als das allgegenwärtige Diesseits etwas gerechter zu gestalten. Die
Zeit steht still, solange die Kreditkarte tickt. Der Glaube versetzt Berge! Nichts
hinterfragen. Reflektion ist rückwärtsgerichtet. Und das einzige, das zählt,
ist der technische und wirtschaftliche Fortschritt.
Thomas Paine (1737-1809),
politischer Intellektueller und einer der Gründungsväter der USA,
klassifizierte das seinerzeitige ancien
régime, die traditionelle Erbmonarchie, als ein „entirely fictive system of government and society“ („komplett erdichtetes System von Regierung
und Gesellschaft“) und „entirely the
creature of imagination“ („zur Gänze
die Kreatur der Einbildung.“) Mit anderen Worten, was und wen wir, die
Untertanen, zu kennen und wahrzunehmen glauben, ist nichts anderes als Fantasie
und Mummenschanz. Mithilfe einer in den Medien bewusst gewählten language of sentiment (Sprache der Rührseligkeit) werden Gefühle
für und mit dem Königshaus geweckt. Besonders im Zusammenhang mit
Schicksalsschlägen wie Unfällen oder Krankheit. Mit dieser besonderen Sprache
wird die Bevölkerung ermuntert, sich ihre Beziehung zu dem Monarchen und seiner
Familie als vertraut, gefühlsbezogen und persönlich vorzustellen. Auf diese
Weise wird es zum Beispiel zur Gewohnheit, Angehörige der Herrscherfamilie nur
mit dem Vornamen zu benennen als handele es sich bei ihnen um enge Freunde oder
Bekannte. So sehr sind sie (bzw. unsere Vorstellung von ihnen) schon Anteil unseres
täglichen Lebens. Mit dem vocabulary of
loyalism (Wortschatz der Treue) wurde
und wird das Volk an die königliche Familie und die Institutionen der Monarchie
gebunden.
Und das System hat sich vielfältig
bewährt. Hand aufs Herz, wie oft adressiere ich in Gedanken den einen besonderen
Sportler, oder die eine tolle Musikerin nur mit ihrem Vornamen?
In den 1830ern und 1840ern gelang
der jungen britischen Königin Victoria mithilfe ihrer Allgegenwart in der Reportage
und als Bild der Meisterkniff. Sie fügte den klassischen Motiven des Königtums erstmals
eine bis heute funktionierende Dimension hinzu: Victoria und ihr Ehemann Albert
entwickelten das Gottesgnadentum weiter zum Medienevent. Nirgends, außer bei einer
(von der scheinbaren Dummheit des einfachen Mannes frustrierten) politischen
Minderheit, herrschte das Empfinden eines ancien
régime. Im Gegenteil: Die öffentlich repräsentierte und repräsentable
jungfräuliche Königin verkörperte die Hoffnung auf die Zukunft. Daran hat sich
bis heute wenig geändert. Wie volksnah und sympathisch werden Parteiobmänner,
Spitzenkandidatinnen, angebliche Wunderwuzzis und sonstige Führer politischer
Bewegungen von modernen Medien an den Mann und an die Frau gebracht? Das
Resultat: Der Grad der Glaubwürdigkeit verhält sich zum Sympathiewert ausgeglichen.
Oder anders gesagt: Den ich mag, dem glaube ich. Populismus ist nur ein anderes
Wort dafür.
Seit Victoria, Albert und ihrer
Medien-Revolution war der Staatskörper auf moderne Weise virtuell geworden. Und
damit zunehmend zerbrechlicher und flüchtiger. Es reichten fortan keine prachtvollen
Zeremonien, Staatsporträts und Grabfiguren mehr, um das Übermenschliche des
Herrschers und all dessen, was er durch Gott und sein Recht repräsentierte, sichtbar
zu machen. Illusion und Vorstellung mussten lebendig gehalten werden. Das Idol
musste gefüttert werden. Nicht mehr buchstäblich wie in heidnischen Götter- und
Ahnenkulten, aber im übertragenen Sinn. Ruf und Echo der Monarchie wurden nicht
länger von den Hymnen und Chorälen in den Kathedralen angestimmt, sondern durch
das Zwitschern und Rauschen im Blätterwald. Egal, was die Leute über dich redeten,
Hauptsache, sie taten es. Idealerweise verbreiteten Journalisten und
Illustratoren fortlaufend Positives. Die königliche Familie war zwar noch weit
davon entfernt, über eine selbstgeschneiderte Berichterstattung zu verfügen,
aber sie bemühte sich von Anfang an um eine angemessene.
Das Amt des US-Präsidenten
verfügt über eine verfassungsrechtliche Machtfülle wie ein europäischer Fürst
im achtzehnten Jahrhundert. Die bis dato vorhandene Ähnlichkeit der Wahrnehmung
und Repräsentanz des gewählten Staatsoberhauptes mit gekrönten aus Geschichte
und Gegenwart ist augenfällig. Wie ausgeprägt diese Parallelen sind, belegt ein
Beispiel aus dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016:
Der Hobbyfotograf Zdenek Gazda
hat am 11. September 2016 nach einer Gedenkfeier am Ground Zero gefilmt, wie die demokratische
Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton aufgrund eines Schwächeanfalls die
Balance und scheinbar das Bewusstsein verloren hat. Sie musste gestützt und von
ihren Personenschützern in einen schwarzen Wagen gehoben werden. Das Video von
Hillary Clintons Schwächeanfall in New York verbreitete sich innerhalb von
Stunden via Internet rund um die Welt. Zum Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs im
Zentrum Manhattans war keine einzige Fernsehkamera in ihrer Nähe. Nur Zdenek Gazda
hat reflexartig mit der Kamera draufgehalten, das Video gepostet und damit ungewollt
(wie er gegenüber Veit Medick behauptete) Hillary Clintons Wahlkampagne ins
Wanken und den US-Präsidentschaftswahlkampf gefährlich durcheinander gebracht. Danach
versteckte er sich und gab (dennoch) Interviews, wie sehr ihn das alles
fertiggemacht hat. Wieder einmal zeigte sich: Wer vorher über die Konsequenzen
seines Tun und Lassens nachdenkt, ist klar im Vorteil.
Spontaneität und Authentizität
sind überbewertet. Körperliche Gesundheit und Stärke sind in den USA der
Gegenwart nach wie vor Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur.
Das erscheint zunächst vielleicht archaisch und unzeitgemäß, aber für die
Mehrheit der US-Amerikaner gilt ihr Staatsoberhaupt noch immer als der
mächtigste Politposten der Welt. Der US-Präsident hat nicht nur
verfassungsmäßige Rechte wie ein europäischer Fürst des achtzehnten
Jahrhunderts, für ihn oder sie gelten auch nach wie vor dieselben
Anforderungen. Und da gehört ein perfekter state
body dazu.
Mit Ronald Reagan wurde 1981 bis
1989 erstmals ein Hollywood-Schauspieler zum 40. Präsident der Vereinigten
Staaten gewählt. 2016 war es bereits ein Reality-TV-Star. Und als dessen
Gegenkandidatin im Wahlkampf 2020 wird in den bundesweiten Medien laut über
eine Talkshowmasterin nachgedacht.
Die Wochenzeitung Penny Satirist äußerte bemerkenswerter
Weise bereits am 28. September 1844 den Wunsch: „we want a queen who will speak to the nation, who will show us her mind
by the expression of her thoughts“ („wir
wünschen eine Königin, die zur Nation sprechen wird, die uns ihren Sinn
vermittels des Ausdrucks ihrer Gedanken zeigen möchte”).
Ein jahrhundertealter Traum ist dank
Social Media wahr geworden, wir sind direkt mit Kopf und Herz der Monarchie
verlinkt. Heute vergleichen Präsidenten mit Diktatoren via Twitter die Größe
ihrer Atomknöpfe. Und alle sind wir live dabei.
“Careful what you wish
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it”
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it”
SAD!
Fortsetzung
folgt…