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Freitag, 4. Mai 2018

Ein Ösi in Connecticut (Teil 30)


Teil 30: Be careful what you wish…

Careful what you wish
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it
… ist nicht nur eine passende Textpassage aus einem Metallica-Song (King Nothing, 1996), sondern auch ein erwiesenes Sprichwort: Pass auf, was Du dir wünscht, Du könntest es bekommen (und bereuen). Nicht nur die Dschinn im Märchen verführen und täuschen ihre Opfer, sich um Kopf und Kragen zu wünschen. Allzu oft trügt der schöne Schein, und dann haben wir den Salat.
Vor wenigen Tagen war noch Winter in New Haven, ein paar Nächte später herrschte schon Hochsommer. Vorgestern noch regennasses und dämmriges Zwielicht, heute schon tropenfeucht und sonnendurchflutet. Am Beginn des vierten Monats dieses Jahres brachen die Brunnen der Tiefe auf und öffneten sich die Fenster des Himmels über Neu-England. Und ein Regen kam über Connecticut vierzehn Tage und vierzehn Nächte. Kaum war die Flut versickert, stieg die Sonne hoch auf den Zenit, sprossen die Blumen und die Bäume blühten. Und wir schwitzten im Schatten ihrer Äste wie unsere Vorfahren und alle anderen mächtigen Affen. Die heiße Brise trieb die trockenen weißen Blütenblätter über die Straßenkreuzungen wie noch vor kurzem die Schneewehen. Dabei hatten wir uns bloß angenehmes Übergangswetter gewünscht, so um die 20 Grad Celsius. Doch die Frühjahrsgarderobe meiner Zwanziger ist nur noch eine Erinnerung. In meinen Vierzigern wechsle ich direkt vom Wintermantel in die Bermuda. Und aus der langen Unterhose in die Zinkcreme. Wie in jeder Reisebeschreibung, die ich jemals von Europäern über die Neue Welt gelesen habe, sind die Winter hart, das Frühjahr feucht, die Sommer heiß und die Entzündungen wund. Zum Abend ziehen sich Stürme über dem Meer zusammen, deren Wolken geschwind die Sonne verfinstern. Die Böen peitschen einem den Regen ins Gesicht. Mitten in der eigenen Wohnung, direkt vor dem Badezimmer. Quer durchs benachbarte Zimmer, durch das offene Fenster und das Fliegengitter, an der zum Trocknen aufgehängten Wäsche vorbei. Und weil das alles schon einmal geschehen war, im April 1800 von der Wissenschaft ganz ähnliche Temperaturen gemessen worden waren, konnte dies alles nur natürlichen Ursprungs sein, meinen die üblichen Verdächtigen. Folgerichtiger Beweis für einen ganz normalen Prozess. Für den es in der Vergangenheit zwar nur einen beispielhaften und dokumentierten Einzelfall gab, der sich inzwischen aber jährlich wiederholte. Aber es wurde dieser Tage in allen Bereichen des Lebens eine bemerkenswerte Eigenschaft von bedauerlichen und lässlichen Einzelfällen, dass sie mehr und mehr dem Gesetz der Serie folgen wollten.
Ganz New Haven schien auf der Straße. Die Gehsteige zwischen den Colleges und Unigebäuden ähnelten Ameisenstraßen. Alle Welt war auf den Beinen. Die Sonne brachte uns an den Tag. Was schon bemerkenswert war, da sich das Leben in den USA normalerweise nicht unter freiem Himmel, sondern zwischen vier Wänden und mit Klimaanlage abspielte. Das Konzept Schanigarten hat sich hierzulande trotz Wärme und Blütenpracht nicht durchgesetzt. Einen Gastgarten nach europäischen Verständnis suchte ich bisher in ganz New Haven vergebens. Dabei würde ich mich gerne zu einer Tasse Kaffee oder einem Glas Bier hinsetzen. Wenn ich das erleben möchte, in gepflegter Umgebung im Freien sitzen, muss ich nach Disneyland. So lautete der Rat der meisten US-Amerikaner. Dort gibt es neben der von Mäusen, Prinzessinnen und Enten bevölkerten Welt aus Pappmaschee auch eine Zone für die Erwachsenen. Mit französischen Straßencafés und ohne Müll in den Beeten und Rabatten wie sonst überall. Walt Disneys Geschäftsmodell des familienfreundlichen Vergnügungsparks funktioniert auch noch im 21igsten Jahrhundert bestens.
Es erscheint völlig logisch, eher in einen anderen Bundesstaat und in ein Ressort zu fliegen, als daheim einen Besen in die Hand zu nehmen, den Gehsteig zu kehren und ein paar Tische und Sessel vor sein Lokal zu stellen. Aber richtig, bevor ich dort meine Gäste unbehelligt bewirten könnte, müssten grundlegendere Probleme angesprochen und gelöst werden. Dann schon lieber in einem künstlichen Paradies seine „Freiheit“ kaufen, als das allgegenwärtige Diesseits etwas gerechter zu gestalten. Die Zeit steht still, solange die Kreditkarte tickt. Der Glaube versetzt Berge! Nichts hinterfragen. Reflektion ist rückwärtsgerichtet. Und das einzige, das zählt, ist der technische und wirtschaftliche Fortschritt.
Thomas Paine (1737-1809), politischer Intellektueller und einer der Gründungsväter der USA, klassifizierte das seinerzeitige ancien régime, die traditionelle Erbmonarchie, als ein „entirely fictive system of government and society“ („komplett erdichtetes System von Regierung und Gesellschaft“) und „entirely the creature of imagination“ („zur Gänze die Kreatur der Einbildung.“) Mit anderen Worten, was und wen wir, die Untertanen, zu kennen und wahrzunehmen glauben, ist nichts anderes als Fantasie und Mummenschanz. Mithilfe einer in den Medien bewusst gewählten language of sentiment (Sprache der Rührseligkeit) werden Gefühle für und mit dem Königshaus geweckt. Besonders im Zusammenhang mit Schicksalsschlägen wie Unfällen oder Krankheit. Mit dieser besonderen Sprache wird die Bevölkerung ermuntert, sich ihre Beziehung zu dem Monarchen und seiner Familie als vertraut, gefühlsbezogen und persönlich vorzustellen. Auf diese Weise wird es zum Beispiel zur Gewohnheit, Angehörige der Herrscherfamilie nur mit dem Vornamen zu benennen als handele es sich bei ihnen um enge Freunde oder Bekannte. So sehr sind sie (bzw. unsere Vorstellung von ihnen) schon Anteil unseres täglichen Lebens. Mit dem vocabulary of loyalism (Wortschatz der Treue) wurde und wird das Volk an die königliche Familie und die Institutionen der Monarchie gebunden.
Und das System hat sich vielfältig bewährt. Hand aufs Herz, wie oft adressiere ich in Gedanken den einen besonderen Sportler, oder die eine tolle Musikerin nur mit ihrem Vornamen?
In den 1830ern und 1840ern gelang der jungen britischen Königin Victoria mithilfe ihrer Allgegenwart in der Reportage und als Bild der Meisterkniff. Sie fügte den klassischen Motiven des Königtums erstmals eine bis heute funktionierende Dimension hinzu: Victoria und ihr Ehemann Albert entwickelten das Gottesgnadentum weiter zum Medienevent. Nirgends, außer bei einer (von der scheinbaren Dummheit des einfachen Mannes frustrierten) politischen Minderheit, herrschte das Empfinden eines ancien régime. Im Gegenteil: Die öffentlich repräsentierte und repräsentable jungfräuliche Königin verkörperte die Hoffnung auf die Zukunft. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Wie volksnah und sympathisch werden Parteiobmänner, Spitzenkandidatinnen, angebliche Wunderwuzzis und sonstige Führer politischer Bewegungen von modernen Medien an den Mann und an die Frau gebracht? Das Resultat: Der Grad der Glaubwürdigkeit verhält sich zum Sympathiewert ausgeglichen. Oder anders gesagt: Den ich mag, dem glaube ich. Populismus ist nur ein anderes Wort dafür.
Seit Victoria, Albert und ihrer Medien-Revolution war der Staatskörper auf moderne Weise virtuell geworden. Und damit zunehmend zerbrechlicher und flüchtiger. Es reichten fortan keine prachtvollen Zeremonien, Staatsporträts und Grabfiguren mehr, um das Übermenschliche des Herrschers und all dessen, was er durch Gott und sein Recht repräsentierte, sichtbar zu machen. Illusion und Vorstellung mussten lebendig gehalten werden. Das Idol musste gefüttert werden. Nicht mehr buchstäblich wie in heidnischen Götter- und Ahnenkulten, aber im übertragenen Sinn. Ruf und Echo der Monarchie wurden nicht länger von den Hymnen und Chorälen in den Kathedralen angestimmt, sondern durch das Zwitschern und Rauschen im Blätterwald. Egal, was die Leute über dich redeten, Hauptsache, sie taten es. Idealerweise verbreiteten Journalisten und Illustratoren fortlaufend Positives. Die königliche Familie war zwar noch weit davon entfernt, über eine selbstgeschneiderte Berichterstattung zu verfügen, aber sie bemühte sich von Anfang an um eine angemessene.
Das Amt des US-Präsidenten verfügt über eine verfassungsrechtliche Machtfülle wie ein europäischer Fürst im achtzehnten Jahrhundert. Die bis dato vorhandene Ähnlichkeit der Wahrnehmung und Repräsentanz des gewählten Staatsoberhauptes mit gekrönten aus Geschichte und Gegenwart ist augenfällig. Wie ausgeprägt diese Parallelen sind, belegt ein Beispiel aus dem US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016:
Der Hobbyfotograf Zdenek Gazda hat am 11. September 2016 nach einer Gedenkfeier am Ground Zero gefilmt, wie die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton aufgrund eines Schwächeanfalls die Balance und scheinbar das Bewusstsein verloren hat. Sie musste gestützt und von ihren Personenschützern in einen schwarzen Wagen gehoben werden. Das Video von Hillary Clintons Schwächeanfall in New York verbreitete sich innerhalb von Stunden via Internet rund um die Welt. Zum Zeitpunkt ihres Zusammenbruchs im Zentrum Manhattans war keine einzige Fernsehkamera in ihrer Nähe. Nur Zdenek Gazda hat reflexartig mit der Kamera draufgehalten, das Video gepostet und damit ungewollt (wie er gegenüber Veit Medick behauptete) Hillary Clintons Wahlkampagne ins Wanken und den US-Präsidentschaftswahlkampf gefährlich durcheinander gebracht. Danach versteckte er sich und gab (dennoch) Interviews, wie sehr ihn das alles fertiggemacht hat. Wieder einmal zeigte sich: Wer vorher über die Konsequenzen seines Tun und Lassens nachdenkt, ist klar im Vorteil.
Spontaneität und Authentizität sind überbewertet. Körperliche Gesundheit und Stärke sind in den USA der Gegenwart nach wie vor Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur. Das erscheint zunächst vielleicht archaisch und unzeitgemäß, aber für die Mehrheit der US-Amerikaner gilt ihr Staatsoberhaupt noch immer als der mächtigste Politposten der Welt. Der US-Präsident hat nicht nur verfassungsmäßige Rechte wie ein europäischer Fürst des achtzehnten Jahrhunderts, für ihn oder sie gelten auch nach wie vor dieselben Anforderungen. Und da gehört ein perfekter state body dazu.
Mit Ronald Reagan wurde 1981 bis 1989 erstmals ein Hollywood-Schauspieler zum 40. Präsident der Vereinigten Staaten gewählt. 2016 war es bereits ein Reality-TV-Star. Und als dessen Gegenkandidatin im Wahlkampf 2020 wird in den bundesweiten Medien laut über eine Talkshowmasterin nachgedacht.
Die Wochenzeitung Penny Satirist äußerte bemerkenswerter Weise bereits am 28. September 1844 den Wunsch: „we want a queen who will speak to the nation, who will show us her mind by the expression of her thoughts“ („wir wünschen eine Königin, die zur Nation sprechen wird, die uns ihren Sinn vermittels des Ausdrucks ihrer Gedanken zeigen möchte”).
Ein jahrhundertealter Traum ist dank Social Media wahr geworden, wir sind direkt mit Kopf und Herz der Monarchie verlinkt. Heute vergleichen Präsidenten mit Diktatoren via Twitter die Größe ihrer Atomknöpfe. Und alle sind wir live dabei.
Careful what you wish
You may regret it
Careful what you wish
You just might get it

SAD!


Fortsetzung folgt…