Teil 32: Das österreichische Landgasthaus
Austrian Country Cuisine, österreichische Landküche, das klang wie ein Versprechen, gleichzeitig aber auch wie eine Drohung. Das europäische Vorurteil über den US-amerikanischen Gaumen lautet: Verbranntes Fleisch, Fett und Zucker. Dazu Makkaroni mit Käse. Garniert mit Zucker. Zentnerweise serviert. Ebenso viele Vorurteile gibt es von US-amerikanischer Seite gegen das europäische Essen. Nur was Chinesen essen gilt als schlimmer. Manchmal stimmt´s von beiden Seiten, mehrheitlich jedoch gar nicht. Wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über, genau darum reden und schreiben Österreicher gerne und häufig übers Essen. Das Abendessen im österreichischen Landgasthof im nahen und idyllischen Cheshire war als End- und Höhepunkt eines Seminars über österreichische Literatur gedacht. Das auf Papierweiß gedruckte Wort schmeckt und riecht aber nur nach Druckerschwärze, und grau bleibt darum jede Theorie. Daher lautete die Idee: Da hilft nur der Praxistest, die Probe aufs Exempel. Doch erstens kommt es immer anders und zweitens als man denkt, die Studentinnen und Teilnehmer zeigten nach dem Abholen ihrer Note fürs Lesen keinen Appetit aufs Erholen beim Essen. Sie hatten kein Interesse, ihren Horizont über den Burger-Tellerrand zu erweitern. Wie langweilig. Ich bin zwar manchmal ein Frosch, aber immer einer, der zum Sprung über den Brunnenrand bereit ist. Wir nahmen es wie es kam. Der Gruppenausflug wurde ein Abend unter acht Augen. Ein Abendessen, das unter anderem dadurch als bemerkenswert angesprochen wurde, weil es völlig ohne Jobtalk auskam. Wenn Charakter dadurch ausgedrückt wird, wie sich ein Mensch gegenüber jemanden verhält, der nichts für einen Tun kann, dann besteht die Natur der meisten Beziehungen an diesem Ort darin, keinen zu haben. Entsprechend freuten sich die um den „Stammtisch“ Versammelten über jede und jeden, den sie zurückgelassen hatten.
Schon die Autofahrt nach Cheshire
war sehenswert. Nicht ohne Grund galt der Ort als Platz, an dem man leben
möchte. Gepflegte Häuser und Gärten reihten sich im besten Neuengland-Klischee
aneinander. Cheshire mit seiner weißen Holzkirche und den Backsteinhäusern im
Kolonialstil ringsum wirkte wie eine Hollywoodkulisse, ganz wie jenes „Überall
in Amerika“, das wir bei der Warner Brothers Studiotour erlebt hatten. Dabei
hat Cheshire auch eine dunkle Seite, nämlich eine Strafvollzugsanstalt. Und die
sogenannten Cheshire-Morde hatten die letzten Diskussionen über die Todesstrafe
in Connecticut ausgelöst. Wir waren aber keine solchen Gruseltouristen. Mir
stand der Sinn nach einem anderen Thriller. Der Gedanke, in den USA ein
österreichisches Restaurant zu besuchen, weckte in mir den Reiz des Unbekannten
und der Gefahr, Vertrautes und Bekanntes seltsam entstellt serviert und
vorgesetzt zu bekommen. All das Mirakulöse und Monströse dann in den
schillerndsten Farben zuhause erzählen und hier schildern zu können, auch das
hatte seine Verlockung. Die Rechnung ging aber nicht auf. „The Watch Factory
Restaurant“ wird von einem waschechten Tiroler aus Brixen im Tale geführt und
bekocht. Schon beim Hereinkommen hatte ich das Gefühl, wirklich ein Gasthaus
auf dem Land irgendwo in Österreich zu betreten. Holzvertäfelung, Fliesenboden,
Herrgottswinkel, Stammtisch, weiße auf gemusterten und farbigen Tischdecken,
alles da. Obwohl es genug Themen gegeben hätte und wir an den „Stammtisch“
gesetzt wurden, ersparten wir uns die politischen Diskussionen, das Essen
sollte ja schmecken. Die Speisekarte las sich jedenfalls kaum anders als eine
österreichische. Mit der Ausnahme, dass unter „Entree“ wie landesüblich die
Hauptspeisen und nicht wie aus Europa gewohnt die Vorspeisen aufgelistet waren,
und mit ein paar Zugeständnissen an US-amerikanische Geschmäcker. Diese
Anpassungen fielen jedoch nicht viel skurriler aus, als wenn man sich von der
österreichischen Grenze nordwärts bewegt. Das Jägerschnitzel wurde in der
Panier (dt.: Panade) mit Schwammerl- (bzw. Champignon-) Sauce serviert. Und
nicht „Natur“ wie es „richtig“ erscheint. Bei manchen meiner Landsleute löst
das bekanntlich (und nachvollziehbar) Ekel aus, mir schmeckt das so eigentlich
ganz gut. Sachertorte mit Himbeermarmelade, das geht dann aber zu weit und
grenzt auch für mich an Barbarei. Das Wiener Schnitzel kam dafür korrekt vom
Kalb. Da ich aber keine Kinder esse, wurde es für mich das „Schweinswienerne“,
das heißt ein Schweinsschnitzel nach Wiener Art. Die zum Schnitzel erhältlichen
Beilagen lasen sich zunächst schon ein wenig exotisch. Salat stand nicht zur Auswahl,
weder Vogerl- noch Kartoffelsalat. Dafür Kartoffelpuffer und Erdäpfelpüree. Todesmutig
hatte ich letzteres schon zuvor bei anderer Gelegenheit probiert, auch schon
selbst gekocht, darum wählte ich diese Variante. Das Schnitzel nach Wiener Art wurde
nicht frittiert, sondern korrekt und schmackhaft in der Pfanne gewendet. Ich
glaube, sogar in Butterschmalz. Da gab es rein gar nichts zu mäkeln. Zuvor aß
ich eine eingebrannte bzw. legierte Gemüsesuppe wie ich sie schon als kleines
Kind im Gasthaus Daniel im Waldviertel gegessen hatte, vor mittlerweile unglaublichen
vier Jahrzehnten. Zum krönenden Abschluss unseres österreichischen Abendessens
kam Markus Patsch sogar aus der Küche und schüttelte uns die Hand. Er erzählte
uns, dass der Koch in seinem Lokal in München so ein seltsames Deutsch sprach,
weil er wie Juliane aus Sachsen kam. Die Welt ist ein Dorf.
Die Begegnung mit einem anderen, berühmten
Sachsen und seiner besonderen Sprache blieb bei mir nicht ohne Folgen. Juliane
hat mir aus einer der zahlreichen Bibliotheken der Universität ein paar Bücher
mitgebracht. Die ausgemusterten Bibliotheksbände werden zur freien Entnahme an
den Instituten ausgelegt. Da es sich dabei ganz fachspezifisch recht oft um
fremd- also deutschsprachige Titel handelt, sind wir als Muttersprachler im klaren
Startvorteil. Und das in jeder Hinsicht. Diesmal hat mir Juliane nämlich ein
paar „Exoten“ mitgebracht. Es erscheint mir völlig logisch, warum diese Bücher
aussortiert worden sind. Und weshalb einige Zaungäste zunächst große Augen machten,
als sie Juliane heimtrug. Nach ihrer Erklärung meines bibliophilen Interesses
wich dieses Erstaunen einer anderen Verwunderung. Die Bücher stammen aus den
1920igern und sind augenscheinlich von, na sagen wir mal, nationalem Inhalt. Augenscheinlich.
„Das Heilige Reich der Deutschen“ von 1925 handelt tatsächlich und rein
wörtlich (wenn auch etwas geschwurbelt formuliert) vom Heiligen Römischen Reich
deutscher Nation, seiner Geschichte und von nichts anderem. Layout und Satz
verströmen einen giftigen Brodem der Deutschtümelei, der sich allerdings noch
nicht im Geist und Gebrüll von Feldherrnhalle und Hofbräuhaus manifestiert
hatte. Diesen Unterschied muss man allerdings schon einmal gesehen haben, um
ihn zu erkennen. Er zeigt sich vor allem daran, dass die Texte in Latein und
nicht Fraktur bzw. Kurrent gedruckt sind wie es bis 1941 üblich gewesen ist,
weil sie für ein ausländisches, in diesem Fall englischsprachiges Publikum
lesbar sein wollten. Ein anderer Titel ist ein Kommentar über die
psychologischen Errungenschaften Friedrich Nietzsches von 1926. Rein optisch
dasselbe Problem. Zudem umweht den Philosophen aus Sachsen in den USA immer
noch der braune Mief der Fehlinterpretation und des Missverständnisses. Sowie
der plumpen Fälschung des Willens zur Macht. Als Nietzsche-Fan hat es mir
dieses Buch besonders angetan. Es stammt von Ludwig Klages, einem zu seiner
Zeit populären Denker und Publizisten um den man damals einfach nicht herumkam.
Wenn wundert es, dass Juliane dieser Name sofort ins Auge springt, verfasst sie
im Moment das letzte Kapitel ihrer Habilitationsschrift über die „Klage“. Klages
indes war in der Zwischenkriegszeit ungefähr das, was ein Richard David Precht
für die Philosophie heute ist und ein Richard Dawkins für eh alles. Wie dem
auch sei! Ich begann dieses Buch zu lesen. Aus Neugier und Begeisterung. Eine
Frau hat vor etlichen Jahrzehnten ihr Lesezeichen darin vergessen, mit ihrem
Namen und ihren Notizen darauf. Sie interessierte sich für Zeitungsartikel über
Tee. Jeder Druckfehler ist unterstrichen und ein ganz besonders arger ist in professoralem
Unmut und gestochener Kurrenthandschrift mit „glatter Satzfehler“ kommentiert. Seither
leide ich unter etwas wie einem aufgewühlten und anachronistischen
Prosadurchfall. Und auch bei mir wurde die Tragödie aus dem Geist der Musik
geboren:
Wir können uns inzwischen wieder
gefahrlos ohne Schwimmflügerl ins Freie wagen. Anders als die Leute im Süden,
die sich auf Sturm und Überschwemmungen gefasst machen müssen. In New Haven sind
die Abende lau, die Nächte heiß und dunstig. Die Balkonsaison ist eröffnet.
Etliche unserer jugendlichen Nachbarn versammeln sich auf dem Vorbau des
Nebenhauses zu Stuhlrunde mit Bier und Plauderei. Das ist zwar nett, aber laut.
Frequenz und Tonlage der aufgrund der Entfernung unverständlichen Gespräche
sind schwer auszuhalten. Und die Lektüre von Nietzsche hilft dabei nicht. Immer
die Zeile verloren. Das liegt am eigentümlichen Klangbild des geselligen
Zusammenseins. Meiner bisherigen Beobachtung nach klingen derartige
Gesprächsrunden in allen Sprachen der westlichen Hemisphäre gleich. Unabhängig
vom Inhalt, der aber wahrscheinlich auch überall derselbe ist. Für meine Ohren
und den gequälten Geist dazwischen hört sich das dann so an: Ein gemurmeltes
Adagio con moto hebt zu einem Andante an, das fast augenblicklich in ein
Allegro con brio übergeht, welches seinerseits in ein Crescendo mündet, in eine
Lachsalve. Das nun folgende Presto risoluto erstirbt schon im nächsten Takt zu
einem Adagio. Ab hier dann weiter wie zuvor. Das Schema wiederholt sich. Bis
zur totalen Ermattung oder wütenden Raserei des unbeteiligten Zuhörers. Und
zwei Häuser weiter heult schon der Hund im Garten. Und man möge mir verzeihen,
dass ich einem Miniatur-Nietzsche gleich nur Florettstöße des Hasses und
Hammerschläge des Zorns für diese Sesselkreise und Nudelsalatrunden übrig habe,
da ich in deren Alter wenn nicht gleich ausgeschlossen, so doch an den Rand
oder die Eselsbank gesetzt worden bin. Weil ich schon früh als
Orchesterinstrument verstimmt nie den richtigen Ton getroffen habe, in den
notwendigen Gleichklang einzustimmen, um ein erfolgreiches oder auch nur von
meinen Zuhörern respektiertes Stück abzuliefern. Sodass ein objektiv nur
Misstöne quäkendes Instrument, solange es nur die richtige, das heißt:
gefällige Tonart trifft, im Konzert besser gelitten ist als ich. Vor allem wenn
ich in meiner jugendlichen Begeisterung bei meiner Rede die Zügel schleifen
ließ, gingen mir allzu oft die Pferde durch. Der größte Dummkopf erscheint
klug, hält er nur lange genug seinen Mund. Und umgekehrt.
In klaren Momenten weiß ich
heute, dass jemand schon ein gehöriges Maß an verbitterter Feindseligkeit samt
Minderwertigkeitsgefühl mitbringen muss, um einen derart enthusiastisch daher
schwafelnden jungen Menschen seine Galle schmecken zu lassen. Gern bezeichnet
man die oder den dann als Histio oder Narziss, dabei handelt es sich bloß um
ein Fohlen auf der Weide. Ich denke, die Welt würde ein besserer Ort, sobald
die Menschen mehr achteten, was jemand sagt und weniger darauf, wie oder in
welcher Weise jemand etwas sagt. Eine Antwort lässt vielleicht einmal etwas
länger auf sich warten, weil sich der Angesprochene die Mühe macht, vor dem Reden
über seine Worte nachzudenken. Die Erwiderung erfolgt natürlich schneller, wenn
sie vorbereitet und nach dem Allerweltsgaumen abgeschmeckt daherkommt. Hätten Populisten
mehr aufmerksame Zuhörer, sie hätten automatisch weniger Publikum.
Dergleichen überkommt es mich, Nachtens
schlaflos schwitzend, beim Versuch, in Ruhe Nietzsche zu lesen… O weh! Ich hoffe
das gibt sich wieder.