Teil 31: Kommen und Gehen
In Yale steht das 317th Commencement vor der
Tür. Die Graduierungsfeiern werden am Pfingstmontag stattfinden. Stadt
und Universität füllen sich mit Eltern und Personen in schwarzen Talaren. Die
Graduierung scheint eine der zwei Lebensgelegenheiten zu sein, an denen sich
US-Amerikaner fein machen. Die eigene Beerdigung nicht eingerechnet. Bun
(Haarknoten), Frotteesocken, Schlabberpulli und kurze Hosen sind Fönfrisur,
Anzug und High heels gewichen. Während sich die Dormitorys leeren (die
Wohncolleges), schwellen stolz die Elternbrüste. Die Undergraduates fahren
heim, Auszuzeichnende und Gratulanten scharen sich, das Semester ist zu Ende.
Das Ende der Regenfälle zu
verkünden war dagegen leider ein wenig verfrüht. Die Tage des Dauerregens
wechseln sich rhythmisch mit den Frühlingsgewittern ab. Die Temperaturen
pendeln von kühl nach heiß und wieder zurück, was nicht nur atmosphärische
Entladungen zur Folge hat. Auch die Gelenke und das Genick sind verspannt.
Quasi über Nacht waren alle Bäume, Sträucher und Hecken grün. Der Anblick
dieser hoffnungsfrohen und lebensbejahenden Farbe lässt alles Wintergrau und -braun
vergessen. Wie fortgewischt ist die Erinnerung an alles Trostlose und Leichenblasse.
Es fühlt sich an, als wären Kälte und Dunkelheit niemals geschehen. Glücklich
ist, wer vergisst.
Die Baumblüte ist nach wie vor
beeindruckend. Die Farben verlaufen vom sprichwörtlichen Blütenweiß ins Pink
bzw. Magenta, weiter ins Magentarot, und von da bis tief ins Blauviolett. In
den Gärten der eleganten Häuser im Kolonialen und Viktorianischen Stil rings um
das Büro meiner Therapeutin gedeihen mit den Neurosen auch die prächtigsten
Pflanzen. Die umsichtigen Gärtner pflanzten sie in Etagen, so dass seit den
Veilchen, Schneeglöckchen, Krokussen und Narzissen immer eine neue Gruppe
Blühpflanzen zu bewundern und zu schnuppern ist. Schade, dass ich als Patient
bzw. Besucher dieser Wohngegend mehr von dieser Pracht habe als ihre Besitzer. Die
sind nämlich nie zuhause, oder nur selten. Und wenn, dann wohl nur abends. Die
Menschen, die ich hier unter Tags treffe, sind Haushälterinnen, Paketzusteller,
Therapeut*innen und ihre Patient*innen. Gelegentlich mischt sich auch mal eine
Gattin mit kleinem Hund in unsere illustre Runde.
Wenn ich mit Juliane aus diesem
Viertel zurück auf den Science Hill spaziere, ertappe ich mich gelegentlich
dabei wie ich vor einem der Bäume stehenbleibe und minutenlang in die Blüten
und auf die dazwischen herumsummenden Insekten schaue. Da kommt es schon mal
vor, dass ein Student an mir vorbei eilt, kurz innehält und amüsiert
schmunzelt. Es sind meistens junge Männer. Sie wirken erst belustigt, dann sofort
wieder gehetzt. Sie laufen weiter. Etwas später treffe ich sie wieder, z.B. in
der Warteschlange bei den Food Trucks an der Eisporthalle oder vor einem
Hörsaal, den Blick starr auf das Smartphone in ihrer Hand geheftet. Das
erinnert mich dann wiederum an jemanden, der mich mal ziemlich angefressen
angepflaumt hat, dass er ganz sicher nicht ignorant wäre, wenn er in einem Baum
„halt nur einen Baum“ sah. Derselbe Mensch erzählt inzwischen jeder und jedem,
die es hören wollen oder auch nicht, dass er „mit den Augen eines staunenden
Kindes“ durch die Welt streift. Gusto und Ohrfeigen sind halt verschieden.
Dieselben umsichtigen Gärtner,
die die Gärten jener edlen Wohngegend bepflanzten, kümmerten sich mit der
derselben saisonalen Umsicht auch um die Beete und Rabatten vor den Dormitorys.
Die Tulpen, Märzenbecher und Narzissen sind pünktlich verblüht. Nachsprießen tut
indes nichts. Die zahlenden Küken haben jahreszeitlich bedingt das Nest
verlassen, und wie der Campus für uns andere Vögel aussieht ist egal. Für
Anrainer und Angestellte braucht es keine Blumen. Uns bleiben ja noch die Bäume
und die imposante Architektur.
Die gewaltigen gotischen Hallen,
die neben sich alle Prachtbauten jedes mittelalterlichen Potentaten wie
Bauernkaten aussehen lassen, haben sich dieser Tage bestens bewährt. Ich war
jedenfalls froh, Juliane in den ehrwürdigen Hallen der Sterling Library zu
wissen, während mein Handy und alle anderen Mobiltelefone der Stadt laut Alarm
quäkten. Die Regierung verschickte eine Tornadowarnung. In wenigen Minuten
wurde der sonnenhelle Nachmittag stockfinster. In Windeseile bedeckten dunkle tief
hängende Wolkenbänke den Himmel. Der kurz darauf einsetzende Gewittersturm brachte
unser Holzhaus ins Ächzen und Schwanken, und die Mülltonnen der Nachbarschaft
zum Fliegen. Bäume stürzten auf Häuser, Autos und Stromleitungen. Ein paar
weniger privilegierte Viertel waren zwei Tage lang ohne Strom. In der
Bibliothek fühlte sich das alles wie ein lauer Wind an. Das Ausmaß der Verheerung
wurde Juliane erst beim Verlassen der Wissenskathedrale sichtbar. Der
Abendhimmel nach Thors nachmittäglichem Hammerschwingen zeigte sich wiederum in
Farben, die ich noch nirgends zuvor gesehen hatte. Umrandet von starkem
Anthrazit glühte ein Streifen aus Blau, Silbergrau und Magenta vor dem
Horizont. Den Eindruck muss man sich zusammen mit dem Geruch von nassem Asphalt
und aus Wiesen und Bäumen aufsteigendem Dunst vorstellen.
Und zwischen all dem Chaos lag
eine elektrische Heckenschere in der Wiese gegenüber im Botanischen Garten. Sie
liegt immer noch dort. Gelb, gut sichtbar und seit Tagen im anhaltenden
Dauerregen. Ich nehme bösartig an, dass sie von Student*innen für ein Selfie
oder ein Youtube-Video aus dem Werkzeugschrank geholt und danach einfach an Ort
und Stelle liegenlassen und vergessen worden ist. Bemerkbare Arbeiten wurden
nicht damit verrichtet. Der kahlköpfige Herr im Feinrippunterhemd wird sich
freuen, der so unverkennbar osteuropäisch wirkt und sich tatsächlich um den Garten
und seine Glashäuser kümmert. Die Heckenschere ist meiner Meinung nach
inzwischen verschieden. Und dabei gilt hier das Klischee als Wahrheit, dass
alle Dinge im Kommunismus kaputt gegangen sind, weil sie niemanden gehörten.
Wenn Juliane in einem Gespräch erwähnt,
dass sie im Kommunismus aufgewachsen ist, nämlich in den letzten Zügen der DDR,
bekommen zuhörende junge Frauen große Augen und ausgewachsene Mannsbilder
erblassen. Ähnlich verblüffte Blicke zieht umgekehrt ihr entsetztes Gesicht auf
sich, wenn sich das Seitenfenster eines geparkten Autos öffnet, und eine Hand
den Müll einfach auf den Gehsteig wirft. Und genau dieses erstaunte Reagieren der
Leute ringsum auf ihre erschreckte Reaktion (und nicht auf die Respektlosigkeit
und Verschmutzung) ist meiner Meinung nach der Grund, warum es hierzulande niemand
nirgends schön haben kann. Außer in Disneyland. Und der Restmüll den alles
erklärenden Namen „Landfiller“ bekommen hat (dt.: Landschaftsfüller).
Auch die örtliche Eigenart barfuß
nach draußen, auf die Straße oder zu den Mülltonnen zu gehen, ist eine Lebensrealität,
mit deren Datenverarbeitung ich mir schwer tue. Nichtsdestotrotz ist es gängige
Praxis, ob ich dieses Verhalten unserer Nachbar*innen verstehe oder nicht. Ich
will mir gar nicht vorstellen, welchen Schmutz und wie viele garstige Keime ich
mir so auf die Fußsohlen und in meinen innersten Wohnbereich hole. Und mich
quälen auch wieder andere trübe Gedanken: Besorgt trete ich ans Fenster und
betrachte die leeren Garagen in unserem Hinterhof. Nachdem ein Universitätsjahr
vergangen ist, haben auch zwei unserer Mitbewohner sowohl Yale als auch unser
Haus verlassen. Darunter auch der nette Junge aus Tennessee, dem wir unseren
Stellplatz abgetreten haben. Sein Auto hat er natürlich mitgenommen. Und ich
frage mich, wie lange es dauern wird, bis die unter den hiesigen Youngstern
herrschende „Alles gehört jedem, darum zernutze ich alles“-Einstellung wieder schlagend
wird, und irgendwelche Nachbarn ohne die Miete dafür zu bezahlen ihre Autos
unter unserem Dach abstellen. Würden sich diese Kids auf ihrem Weg durch die
Welt nicht gebärden wie die Heuschreckenschwärme und allerorts unbewohnbare
Wüsteneien hinterlassen, hätte ich auch gar nichts dagegen. Ich bin leider
nicht in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass eine Consuela oder ein Jose ständig
hinter mir herräumt, oder dass, wenn ich etwas demoliere oder verliere, es von
den Eltern sofort ersetzt wird. Und hier angelangt und meiner selbst wieder
bewusst, frage ich mich, ob ich langsam zum grantigen alten Furz degeneriere. Aber
tatsächlich schließt sich genau an dieser Stelle der Kreis zur verlassenen Heckenschere
in der Wiese.
Fortsetzung folgt...