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Samstag, 24. Juni 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 7)



Teil 7: Die amerikanische Leere


Wer die Gemälde von Edward Hopper (z.B.: Nighthawks) kennt, wird sofort wissen, wovon ich spreche. Manchmal überfällt sie Juliane und mich, die amerikanische Leere. Sie kommt völlig unerwartet, und dann ist sie da. Raumgreifend und spürbar. Und Raum gibt es sehr viel in den USA. Ich glaube, darum laufen ständig irgendwo ein Musikprogramm, ein Talkradio und/oder ein Screen, um die Leere zu füllen. Dabei hat sie auch etwas Wunderschönes. Besonders in der Natur, oder besser gesagt: auf den Inseln aus Natur zwischen den Ballungszentren. Weniger schön finde ich sie, sobald die amerikanische Leere Gemeinschaft aus Vergessen schafft. Wenn angesichts all der Weite und des Raums nur noch geglaubt wird, was man sich auf den Küchentisch stellen oder in den Mund stecken kann. Oder noch schlimmer, bloß für Dollars kaufen kann. Ist jede Philosophie und alle Religion vergessen, gedeiht die Nation. Einen Schmarren tut sie, was gedeiht, ist die Segregation. Alle Engel und Heiligenfiguren im Krankenhausshop sind farbig. Schreiend davonlaufen möchte ich allerdings auch, wenn man mir treuen Auges versichert, Jesus wähle republikanisch. Käme Jesus von einem Besuch aus den USA zurück, käme sehr bald dort oben die Durchsage: „Paulus ins Büro zum Chef! So war das alles nicht gemeint.“
Ich habe es bisher noch immer nicht geschafft, trotz heißen Bemühens und Beratung, ein unabhängiges Nachrichtenprogramm zu finden. Es gibt keine Nachrichtensendung, die keine, immerhin klar ausgewiesene politische Richtung bedient. Die privaten Fernseh- und Radiostationen sind für mich unverdaulich. Klingt wie weiland Tante Erna beim erstmaligen Angucken deutschen Privatfernsehens mit Werbeunterbrechung Ende der Achtziger: „Da habe ich inzwischen vergessen, welches Programm ich angesehen habe.“ Klingt albern, ist aber wirklich so. Wir haben uns entschieden, ohne TV zu leben. Uns geht nichts ab. Hunderte Privatsender, und was sehe ich? Werbung! Im Radio beinahe dasselbe, außer im Talkradio. Vor dem Anhören (und Zustimmen) sollte man aber unbedingt wissen, welcher Partei oder Gruppierung die Macher nahestehen. Meine Suche nach unabhängiger Information blieb bislang erfolglos. Ausnahme: New York Times. Streaming-Dienste habe ich probiert. Zum einen dünsten sie mich im eigenen Saft, weil ich nichts außerhalb meiner Algorithmen angeboten bekomme. Ich lerne auf die Art und Weise nichts, oder kaum etwas Neues kennen. Zum anderen empfinde ich sie als Bauernfängerei. Die ersten Serienfolgen sind im Abo, die restlichen muss ich einzelnen oder im Block bezahlen. Natürlich zusätzlich zum Mitgliedsbeitrag. Falls das Kaufen der Programme überhaupt funktioniert. Einmal geht es nicht, weil ich keine Kreditkarte von einer US-amerikanischen Bank habe. Ein andermal nicht, weil mein Hauptwohnsitz nicht in den USA liegt, ich aber eine US-Adresse habe. Oder umgekehrt. Zum Schreien! Ich vermisse die öffentlich-rechtlichen Sender! Tatsächlich höre ich auch hier täglich die Ö1-Journale. Aber obwohl ich brav GIS bezahle, sehe ich in der ORF Tvthek auch nicht mehr als die Werbung und den freundlichen Hinweis, dass dieses Video in meinem Land nicht angezeigt wird. Bei ARD und ZDF übrigens genau dasselbe. (Gilt nicht für Nachrichten, aber für Sportübertragungen und Dokus.) Was ich also überall zu sehen und zu hören bekomme, ist Werbung! Also bleiben TV und Radio aus.
Leere herrscht auch in meiner Garage. Ich habe schon einmal eingeräumt, dass wir zusammen mit dem Apartment eine Garage mieten, und ich das als seltsam empfinde. Im Land der Freien und Tapferen ist es aber schließlich meine Sache, wenn ich das Ding miete, um es leer stehen zu lassen! Dachte ich, und ich war überrascht, wie vieles an so einer einfachen Sache hängt wie ein Rattenschwanz. Zunächst einmal ist das Haus, in dem unser Apartment ist, das einzige in Privatbesitz ringsum. Alle anderen gehören Yale, inklusive der teilweise leerstehenden Fabrik. Kann ich verstehen, wäre ich Walter White statt David Weiss, dort würde ich meine Meth-Küche einrichten. Niemand will ein Drogenlabor in der neighbourhood. Letzte Nacht fand auch ohne eine Schießerei ganz in der Nähe statt. Und darum geht es letztlich auch. Die Universität kauft sukzessive alle angrenzenden Gebäude, Geschäftslokale und Betriebsgelände auf, um zu kontrollieren, wer sich in ihrem Umfeld ansiedelt und Geschäfte macht. Das Präsidium bestimmt sogar die Öffnungszeiten der Läden, bis 20:00 Uhr. Der Witz an der Sache, die Uni zahlt keine Steuern, weil sie, anders als bei uns, frei ist und als non-profit-organisation gilt. Zählt man jetzt Eins und Eins zusammen, dann wundern die Spannungen zwischen Stadtregierung und Universität niemanden mehr. Aber was hat das mit mir und meiner Garage zu tun? Die Nachbarhäuser gehören Yale-Housing. Die Bewohner gehören zu Yale. Eine lange Geschichte kurz gemacht: Da stand ein schwarzer Lexus in meiner Garage! Zuerst dachte ich, lass ihn halt. Ich brauche das Ding nicht. Aber dann: Come on! Das ist ein Lexus. Du zahlst Miete für einen Lexus. Dass der gut behaust Nacht und Wetter übersteht. So etwas nagt an einem, an mir jedenfalls. Da ich den Eigner nie angetroffen habe, habe ich in meinem charmantesten Denglish ein Briefchen verfasst: Wenn er oder sie das möchte, dann ist diese Garage zu mieten. Ich gebe sie gerne ab. Dazu gab ich die Kontaktadresse meines Vermieters an. Seither herrschen in meiner Garage die amerikanische Leere und die amerikanische Freiheit! Ich sitze also jeden Abend schmallippig wie Clint Eastwood auf der Veranda und genieße den Anblick meiner leeren Garage. Mit einer Flasche Ginger Brew, jedes Ginger Ale erblasst vor seiner erfrischenden Schärfe, oder Cream Soda, schmeckt wie Werthers Echte Karamellbonbons aufgelöst in Soda. God bless America!
Nichts schlägt die Weite und die Stille über dem Ozean. Niemand vergisst jemals den Augenblick auf einem Segelschiff, wenn der Motor erstmals schweigt und Wind und Takelage zum ersten Mal im Leben das Tempo machen. Juliane und ich haben den Hafen und das Museumsdorf von Mystique, CT besucht, und es ist und bleibt wie es James T. Kirk gesagt hat (TOS/ The Ultimate Computer, nach einem Gedicht von John Masefield):
’All I ask is a tall ship and a star to steer it by.’
You could feel the wind at your back in those days.
The sounds of the sea beneath you. Even if you take away the wind and the water, it's still the same.
The ship is yours. You can feel her.
And the stars are still there, Bones.”

In Mystique im Hafen liegen mehrere historische Schiffe. Die drei berühmtesten sind die Charles W. Morgan, das letzte erhaltene Walfangschiff aus Holz, das Segelschulschiff Joseph Conrad und das größte Wikingerschiff der Gegenwart, der Draken Harald Hårfagre. Unnötig zu sagen, dass ich mich hier gefühlt habe wie ein Fisch im Wasser. Einzig in den USA war es mir möglich, zum Opfer einer Fotobombe aus Amish zu werden. Bei dieser Begegnung habe ich gelernt, dass Amish nichts vom Fasten halten.
Trotzdem, oder gerade darum war mein erster Eindruck, wie zutreffend und passend alle Proportionen der Welt von damals waren, die noch keine vollen hundert Jahre vorbei ist. Kein Haus, kein Schiff, kein Boot war größer als es der Zweck erforderte. Nichts wirkte ärmlich, aber geschmackvoll. Auf dem Walfänger war ich, bisher nur historische Kriegs- bzw. Expeditionsschiffe oder Ostasienfahrer „gewohnt“, überrascht wie viel Platz im Vergleich die Mannschaft zum Leben hatte. Die Holländer bauten um einen Lagerraum einen Antrieb, die Kriegsmarinen einen um die Stücke und Kanonen. Hier gab es im Vorderkastell ein Mannschaftsquartier mit Kojen. Industriell gefertigte Produkte aus Kunststoffen oder Plastik aus fossilen Rohstoffen gab es nicht, oder in vergleichsweise winzigen Mengen, z.B.: Benzin als Fleckputzmittel. 

Der klassische Walfänger, der sich mit Beiboot und Harpune auf die Jagd gemacht hat, ist heute restlos verschwunden. Der US-amerikanische Autor Herman Melville, der selbst Walfänger gewesen war, sah sich als Anwalt des in seinen Augen zu Unrecht als unrein verschrienen Schlächter-und-Fleischer-Handwerks. Er schrieb seinen heute weltberühmten Roman „Moby-Dick“ (1851). Kaum zu glauben, dass er sich mit dem Buch zeitlebens die Karriere ruiniert hatte. Im Bauch der Charles W. Morgan habe ich seinen Captain Ahab besser verstehen gelernt. Bisher hatte ich mich auf Schiffen immer problemlos bewegt, niemals habe ich mir unter Deck auch nur den Kopf angeschlagen. Diesmal bewegte ich mich durch den Rumpf wie eine mit Sandsäcken behängte Schildkröte. Hätte mir die Behinderung ein Wal angetan wie Moby-Dick dem Ahab, ich würde diesen Wal jagen bis an die Tore der Hölle.
Was in der Gegenwart auf und in den Schiffen fehlte, war der Geruch bzw. der Gestank. Die Mayflower II, die in der Werft zur Reparatur auf Dock liegt, stinkt, sagt meine Frau. Ich würde sagen, sie verströmt jenen brunftigen Geruch des Meeres, den Seeleute mit etwas verglichen haben das ich hier nicht wiederholen werde.
Das Leben vor fünf Generationen ohne Kunststoffe und Plastik muss sich für sensible Gemüter und Veganer anfühlen, wie das Leben in einem Leichnam. Wenigstens wie auf einem Komposthaufen. Beinahe jeder Gebrauchsgegenstand beinhaltete oder bestand vollständig aus totem Tier. Ebenso die Kleidung und alle Accessoires. Konsumartikel gab es bereits reichlich, aber sie wurden wie alles andere nachhaltig und wiederverwertbar produziert. Möbel waren aus Vollholz gefertigt, sie wurden über Generationen vererbt. Warf jemand etwas weg, konnte sie oder er sicher sein, dass es fast vollständig verrottete. Was auf dem Abfall landete, zerfiel mehrheitlich in seine Bestandteile. Übrig blieb im Grund nur das Übliche, nämlich Glas, Metall und Tonware. Somit alle Rohstoffe, die nicht aus oder von Pflanzen und Tieren gewonnen waren. Dummerweise hat sich das Abfallverhalten seit damals nicht geändert, die Rohstoffe schon.
In der stilechten Taverne wurden Essen und Getränke auf Plastik serviert, auch das Besteck bestand aus Kunststoff. Wer jetzt denkt, dass das Konsumation und Bedienung billiger gemacht hat, der irrt. Im Restaurant neben dem Museumsareal, mit Concierge, persönlicher Bedienung und Geschirr aus Keramik und Metall, haben wir exakt dieselbe Summe für unser (riesiges) Abendessen wie für den Mittagssnack bezahlt.
Die Schwellenangst brachte es mit sich, von den Ausflüglern traute sich kaum jemand in das Restaurant, Juliane und ich saßen bald alleine im Gastgarten bei Sonnenuntergang im Neuenglandidyll. Der Blick über Flussmündung und Hafen, das Glitzern über dem Wasser und das Rauschen der Bäume, all das beschwor sie herauf, die amerikanische Leere. Ich liebe sie!


Fortsetzung folgt…
(Diesmal nicht in einer, eher in zwei Wochen!)


Freitag, 16. Juni 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 6)



6. Schwitzen im Land der unbegrenzten Widersprüche


I asked for it“, könnte man sagen. Und man hätte Recht damit. Drei Wochen neuenglischer Dauerregen ließen mich meine Finger nicht aus den Augen verlieren. Es hätte durchaus sein können, dass sich dort bereits Schwimmhäute bildeten. Aber jetzt ist es soweit, die Temperaturanzeige ist von den 80igern in die 90iger geklettert. Das heißt wir hatten um die 34 Grad. Ich fand diese Umstände großartig. Irgendeinen Vorteil muss mein Zustand haben. Ich habe tatsächlich kaum geschwitzt, während Juliane sanft im eigenen Sud gedünstet wurde. Wehgetan hat mir auch relativ wenig. Stock wegwerfen und rumtanzen war nicht, aber es war angenehmer. Dass es wirklich schön warm geworden ist, habe ich bemerkt, als mir Nebel und Wolken aus dem Eisfach und dem Kühlschrank entgegen krochen wie von einem Andengipfel.
In den USA erfahre ich eine neue Dimension des Schwitzens, wie sie mir bisher nicht bekannt gewesen ist. Schwitzen ist hier dreidimensional. Schwitzen nicht bloß zum Quadrat, die gefühlte Hitze wird quasi in Kubik gemessen. Wir erinnern uns, in der Neuen Welt ist alles größer und intensiver. Das bedeutet, ein dritter Messpunkt gesellt sich zu den mir bisher bekannten, Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Dieser dritte Aspekt war und ist der Dew Point, wörtlich übersetzt, der Taupunkt. Kurz gesagt, es ist der Moment ab dem der abgegebene Schweiß den Körper nicht mehr abzukühlen imstande ist, sich die Luftfeuchtigkeit auf dem geschundenen Leib niederschlägt, und einem der Dreck nur so runterrinnt. Pardon, einem das Wasser den Körper herunterrinnt. Durchnässt von Kopf bis Fuß, wobei die Körpertemperatur steigt und steigt. Anders gesagt, der Dew Point misst die stickyness, die Klebrigkeit. Wenn also das Aufstehen und Ausziehen zum Kraftakt wird, weil man an allem und jedem haftet wie eine abgeleckte Briefmarke. Je weiter in den Süden der USA man reist, erzählte man mir, umso höher wird der Dew Point. Scherz beiseite, in Florida kann das für Asthmatiker lebensbedrohlich werden. Davon sind wir in New Haven weit entfernt, obwohl ich weder in Italien noch in Spanien jemals Vergleichbares erlebt habe.
Der Tierwelt ist das alles ziemlich egal. Ich sitze morgens und abends und schaue und lausche beim Fenster hinaus. Ich lese Henry David Thoreau, um mich mit meinem Leben, und Marcus Tullius Cicero, um mich mit meinem Tod zu versöhnen. Dank des ersten Herrn und einem Besuch im Peabody Museum habe ich einen Eindruck davon, wen ich im Botanischen Garten beobachte. Das amerikanische Rotkehlchen (naturgemäß dreimal so groß wie das europäische), Blauhäher und sogar einen Kardinal und einen Golden Eagle habe ich schon gesehen. Bemerkenswert, wenn sich der riesige Greifvogel mithilfe der Thermik über der brachliegenden Winchester-Fabrik in den Himmel schraubt. In der ersten lauen Sommernacht, besser gesagt, in der ersten Tropennacht (die Temperatur fiel nicht unter 20 Grad), hörten wir aufgeregte Tierstimmen aus dem Park. Sie klangen wie streitende Vögel. Es hätten auch unsere Freunde, die grauen Eichhorne, sein können, weil die sich nämlich untereinander weniger gut leiden können als wir sie mögen. Jedenfalls haben wir etwas Kleines, etwas Niedliches erwartet. Wir leben in der Stadt. Umso erschrockener reagierte Juliane, als sie im Zwielicht der Straßenbeleuchtung drei stattliche zottige Pelzviecher auf der Wiese hinter dem Zaun entdeckte. Gedrungen, kurzbeinig und übellaunig. Die drei Gesellen trafen sich dort, um sich sofort lauthals und in tief empfundener Apathie die Gesellschaft aufzukündigen. In ihrem authentischen und auch ein wenig asozialen Verhalten erinnerten sie mich an gewisse Mitmenschen. Aber indem mir die Assoziation glückte, misslang die Identifizierung unserer tierischen Nachbarn. Gestützt auf Thoreau denke ich, dass die drei Übellaunigen Murmeltiere sein könnten.
Ähnlich verhielt sich ein junger Mann, der sich unter den zentralen Baum zwischen den Universitätsgebäuden setzte, um von dort nachhause zu skypen. In seiner unverkennbaren Muttersprache. Ein wenig bemühter, und es wäre kein WiFi mehr für die Übertragung nötig gewesen, seine Stimme hätte seine Nachricht über den Ozean getragen. Auch wenn ich denke, dass seine eigentliche Botschaft an uns, seine unmittelbaren Mitmenschen, adressiert gewesen ist. Videotelefonie für die Galerie. Wir, die wir im Schatten der Bäume saßen und Erholung suchten, fanden eine detaillierte Ausführung der Erlebnisse und der Theorien über die englische Sprache jenes ungestümen jungen Mannes, der sich zu allem Überdruss auch noch eine Zigarette ansteckte. Da saß er nun und schrie in die Welt hinaus: „Schaut mich an, ich bin in Yale!“ Und das mitten in Yale, auf dem rauchfreien Campus vor dem German Department. Heast Oida, rate mal, wo wir gerade sind? Meine Ungeduld im Schatten stieg mit der Quecksilbersäule in der Sonne. Sein Geplärr im Ohr, seinen Rauch in der Nase war ich bald derart entnervt, ich hätte dem Typen am liebsten die Zigarette aus der Hand genommen und zur Strafe weggeraucht. „Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht. Ich habe es schon hundertmal geschafft“, sagte Mark Twain. Ich war wegen dem Schreihals so fertig, ich hätte einen Aschenbecher auslecken können. Juliane kam rechtzeitig und hat mich abgeführt.
Den besten Double Cheeseburger esse ich im Krankenhaus. Klingt seltsam, ist es auch, entspricht aber den örtlichen Gepflogenheiten. Wahres Krankenhausessen, schmackhaft und nahrhaft. Das bedeutet für mich: Doppelter Burger mit doppelt Käse frisch vom Grill. Die Semmel ist bissfest, sie hat nichts mit den karamellisierten Schaumstoffdingern aus den Franchiseunternehmen gemeinsam. Dazu Gewürzgurke, Salat, Tomate und (verbotenerweise) Zwiebel, man ernährt sich ja bewusst. Gemüse muss sein, sagt meine Frau. Zum Ausgleich jeweils zwei Päckchen Mayonnaise und Ketchup auf das Grünzeug. Fertig ist das Diät-Gericht aus der Spitalsküche. Zum Runterspülen einen großen Pappeimer Pepsi. Beim Genießen erfreue ich mich an wogenden und schnaufenden amerikanischen Körperformen. Und ich weigere mich (wie jene), einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem, was meine Augen sehen, und was ich auf der Zunge schmecke. Beim letzten Mal habe ich meine ersten echten Police Detectives gesehen, true detectives sozusagen. Mit polierter Dienstmarke und allem. Sie speisten zeitgleich mit mir und am Tisch gleich gegenüber. Echt beeindruckend. Zwei richtige Kerls, die garantiert jeden Gesundheitscheck im Herumkugeln schaffen, zum Einsatz rollen und den zu Verhaftenden niederwälzen. Im Fernsehen sehen die Detectives immer anders aus.
Juliane hat mir, damit ich auch Ordentliches esse, Kaiser Rolls gekauft. Kaisersemmeln! Einige weisen sogar das typische Sonnenradmuster auf. Auch die Größe passt in etwa. Was die Kaisersemmeln hier von denen zuhause unterscheidet, ist das Krachen. Diese Semmeln krachen nicht. Hier ist es weich, ein Brot zu sein! Um ein traditionelles, resches Brot oder Gebäck zwischen die unterbeschäftigten Zähne zu bekommen, muss man sich vertrauensvoll an die Amish wenden. Kein Witz, die Sekte, die aus religiöser Überzeugung noch wie im neunzehnten Jahrhundert lebt, vertreibt traditionell gebackenes Brot und Gebäck. Für alte Einwanderungsländer typisch fällt alles Deutschsprachige unter den Oberbegriff German. German (deutsch) waren Mann und Frau auch wenn sie aus der Schweiz, den Niederlanden (dutch), Österreich oder eben Deutschland kamen. Da war man großzügig. Entsprechend gibt es die echten Kaisersemmeln unter dem Label German Deli. Und auch einiges mehr. Den Rest der alt-österreichischen Nahrungsmittel wie etwa Suppennudeln vertreiben jüdische Firmen und werden als US-amerikanisch wahrgenommen, z.B. die Traditionsfirma Manischewitz. Diese Sachen schmecken genau wie daheim.
Wir haben uns außerdem einen George Foreman-Grill angeschafft. Und ich muss sagen, ich liebe dieses Teil. Getreu dem Motto, dass ein amerikanischer Mann zwar Fleisch verspeisen muss, dazu aber nicht unbedingt jede einzelne Unze Fett mitverschlingen muss, wurde dieses fabelhafte Gerät entwickelt Und es wirkt, ich ernähre mich total gesund seither, esse jeden Mittag einen Schinken-Käse-Toast. Außer ich muss zur Behandlung, dann gibt es einen Double Cheeseburger.
Mein Leben rotiert nicht nur um den Tellerrand, meine Gedanken kreisen nicht bloß um die nächste Mahlzeit. Weit gefehlt. Ich gehe auch spazieren. Und die Blütenpracht dieser Tage ist unbeschreiblich. Der Botanische Garten um das alte Mash-Anwesen leuchtet in allen Farben. Einer der schönsten Eindrücke der USA für den europäischen Besucher ist meiner Meinung nach, dass man hier die Bäume in Ruhe lässt. Diese fantastischen Geschöpfe erreichen hier Höhen und Ausmaße, bei denen der Hausbesitzer und Spaziergänger bei uns sich längst in Angstkrämpfen auf dem Rücken windet. Die White Oaks und viele andere überragen das zwei- bis dreistöckige Gebäude um ein vielfaches. Kein Sturm kann sie brechen, kein Gewitter sie knicken, und kein Baumdoktor zu Tode kurieren. Gefahr droht den Pflanzen einzig von den StudentInnen der hiesigen Forstwirtschaft. Ich habe sie bereits liebevoll Gartenvernichter getauft. Ich maße mir nicht an, Experte für Gartenkultur zu sein. Aber ich wunderte mich, weshalb der fleißige junge Student der Forstkultur gegen 11 Uhr Vormittag die Blühpflanzen goss. Als nachmittags der ältere Glatzkopf im Ruderhemd, der dort sonst den Rasen mähte, einen Wutanfall bekam, weil alle Lilien und Sträucher von der Mittagssonne verbrannt worden waren, wusste ich, dass ich immer noch mehr Ahnung hatte als die Mädels und Burschen, denen bisher Mutti und Vati die Gartenarbeit abgenommen hatten. Falls es nicht Afro-Amerikaner und hispanische Mitbürger gewesen sind wie sonst üblich. Leider sieht auch die herrliche Stechpalme inzwischen wie eine Unglückliche mit Dauerwelle aus, die eine markante Begegnung mit einem Rasierer ohne Scherkopfaufsatz hatte. Eine Landebahn bzw. ein Loch geschoren. Den Baumschnitt haben sie in einen Plastiksack gepackt und eine Nacht und einen weiteren Tag in der grünen Wiese stehen lassen. Die Stelle sieht jetzt goldig aus. Aber die jungen Leute sind begeistert, das ist wichtig. Sie machen das auch alles ganz chic. Sie selbst drapieren sich in jeder Pause ansehnlich in der Wiese. Ich bin mir sicher, dass es in den sozialen Netzwerken jede Menge fesche Fotos von ihnen in ihrer Funktionskleidung gibt.
Ich selbst trage endlich die Kleidung, die mir am liebsten ist. Und mit mir tun es fast alle. Wer mag kurze Hosen? Ich mag kurze Hosen! Es leben die amerikanischen Cargo Shorts!
Leider sind unsere Nachbarskinder weggezogen. Ich vermisse schon jetzt den kleinen Kerl, der redlich mit Umhang und Holzschwert im Garten auf und ab gelaufen ist. Weniger vermisse ich das allmorgendliche Ritual, dass Daddy eingeführt hatte, und bei dem es darum gegangen ist, wer bei seiner Fahrt zur Arbeit am Department am lautesten „Bye!“ rufen konnte. Das ertönt jetzt andernorts, und wir sind gespannt, wer als Nächstes nebenan einziehen wird.

Fortsetzung folgt…

Rollstuhlfahrer werden ein wenig agiler wahrgenommen...