6. Schwitzen im Land der unbegrenzten Widersprüche
„I asked
for it“, könnte man sagen. Und man hätte Recht damit. Drei Wochen
neuenglischer Dauerregen ließen mich meine Finger nicht aus den Augen
verlieren. Es hätte durchaus sein können, dass sich dort bereits Schwimmhäute
bildeten. Aber jetzt ist es soweit, die Temperaturanzeige ist von den 80igern
in die 90iger geklettert. Das heißt wir hatten um die 34 Grad. Ich fand diese
Umstände großartig. Irgendeinen Vorteil muss mein Zustand haben. Ich habe
tatsächlich kaum geschwitzt, während Juliane sanft im eigenen Sud gedünstet
wurde. Wehgetan hat mir auch relativ wenig. Stock wegwerfen und rumtanzen war
nicht, aber es war angenehmer. Dass es wirklich schön warm geworden ist, habe
ich bemerkt, als mir Nebel und Wolken aus dem Eisfach und dem Kühlschrank entgegen
krochen wie von einem Andengipfel.
In den USA erfahre ich eine neue
Dimension des Schwitzens, wie sie mir bisher nicht bekannt gewesen ist. Schwitzen
ist hier dreidimensional. Schwitzen nicht bloß zum Quadrat, die gefühlte Hitze
wird quasi in Kubik gemessen. Wir erinnern uns, in der Neuen Welt ist alles
größer und intensiver. Das bedeutet, ein dritter Messpunkt gesellt sich zu den
mir bisher bekannten, Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Dieser dritte Aspekt war
und ist der Dew Point, wörtlich
übersetzt, der Taupunkt. Kurz gesagt,
es ist der Moment ab dem der abgegebene Schweiß den Körper nicht mehr
abzukühlen imstande ist, sich die Luftfeuchtigkeit auf dem geschundenen Leib niederschlägt,
und einem der Dreck nur so runterrinnt. Pardon, einem das Wasser den Körper
herunterrinnt. Durchnässt von Kopf bis Fuß, wobei die Körpertemperatur steigt
und steigt. Anders gesagt, der Dew Point misst die stickyness, die Klebrigkeit.
Wenn also das Aufstehen und Ausziehen zum Kraftakt wird, weil man an allem und
jedem haftet wie eine abgeleckte Briefmarke. Je weiter in den Süden der USA man
reist, erzählte man mir, umso höher wird der Dew Point. Scherz beiseite, in Florida kann das für Asthmatiker
lebensbedrohlich werden. Davon sind wir in New Haven weit entfernt, obwohl ich
weder in Italien noch in Spanien jemals Vergleichbares erlebt habe.
Der Tierwelt ist das alles
ziemlich egal. Ich sitze morgens und abends und schaue und lausche beim Fenster
hinaus. Ich lese Henry David Thoreau, um mich mit meinem Leben, und Marcus Tullius
Cicero, um mich mit meinem Tod zu versöhnen. Dank des ersten Herrn und einem Besuch
im Peabody Museum habe ich einen
Eindruck davon, wen ich im Botanischen Garten beobachte. Das amerikanische
Rotkehlchen (naturgemäß dreimal so groß wie das europäische), Blauhäher und
sogar einen Kardinal und einen Golden Eagle
habe ich schon gesehen. Bemerkenswert, wenn sich der riesige Greifvogel
mithilfe der Thermik über der brachliegenden Winchester-Fabrik in den Himmel schraubt. In der ersten lauen
Sommernacht, besser gesagt, in der ersten Tropennacht (die Temperatur fiel
nicht unter 20 Grad), hörten wir aufgeregte Tierstimmen aus dem Park. Sie klangen
wie streitende Vögel. Es hätten auch unsere Freunde, die grauen Eichhorne, sein
können, weil die sich nämlich untereinander weniger gut leiden können als wir
sie mögen. Jedenfalls haben wir etwas Kleines, etwas Niedliches erwartet. Wir
leben in der Stadt. Umso erschrockener reagierte Juliane, als sie im Zwielicht
der Straßenbeleuchtung drei stattliche zottige Pelzviecher auf der Wiese hinter
dem Zaun entdeckte. Gedrungen, kurzbeinig und übellaunig. Die drei Gesellen
trafen sich dort, um sich sofort lauthals und in tief empfundener Apathie die
Gesellschaft aufzukündigen. In ihrem authentischen und auch ein wenig asozialen
Verhalten erinnerten sie mich an gewisse Mitmenschen. Aber indem mir die
Assoziation glückte, misslang die Identifizierung unserer tierischen Nachbarn. Gestützt
auf Thoreau denke ich, dass die drei Übellaunigen Murmeltiere sein könnten.
Ähnlich verhielt sich ein junger
Mann, der sich unter den zentralen Baum zwischen den Universitätsgebäuden setzte,
um von dort nachhause zu skypen. In seiner unverkennbaren Muttersprache. Ein wenig
bemühter, und es wäre kein WiFi mehr für die Übertragung nötig gewesen, seine
Stimme hätte seine Nachricht über den Ozean getragen. Auch wenn ich denke, dass
seine eigentliche Botschaft an uns, seine unmittelbaren Mitmenschen, adressiert
gewesen ist. Videotelefonie für die Galerie. Wir, die wir im Schatten der Bäume
saßen und Erholung suchten, fanden eine detaillierte Ausführung der Erlebnisse
und der Theorien über die englische Sprache jenes ungestümen jungen Mannes, der
sich zu allem Überdruss auch noch eine Zigarette ansteckte. Da saß er nun und
schrie in die Welt hinaus: „Schaut mich an, ich bin in Yale!“ Und das mitten in
Yale, auf dem rauchfreien Campus vor dem German Department. Heast Oida, rate mal, wo wir gerade
sind? Meine Ungeduld im Schatten stieg mit der Quecksilbersäule in der Sonne. Sein
Geplärr im Ohr, seinen Rauch in der Nase war ich bald derart entnervt, ich
hätte dem Typen am liebsten die Zigarette aus der Hand genommen und zur Strafe weggeraucht.
„Mit dem Rauchen aufzuhören ist
kinderleicht. Ich habe es schon hundertmal geschafft“, sagte Mark Twain. Ich
war wegen dem Schreihals so fertig, ich hätte einen Aschenbecher auslecken
können. Juliane kam rechtzeitig und hat mich abgeführt.
Den besten Double Cheeseburger esse ich im Krankenhaus. Klingt seltsam, ist es
auch, entspricht aber den örtlichen Gepflogenheiten. Wahres Krankenhausessen,
schmackhaft und nahrhaft. Das bedeutet für mich: Doppelter Burger mit doppelt
Käse frisch vom Grill. Die Semmel ist bissfest, sie hat nichts mit den karamellisierten
Schaumstoffdingern aus den Franchiseunternehmen gemeinsam. Dazu Gewürzgurke,
Salat, Tomate und (verbotenerweise) Zwiebel, man ernährt sich ja bewusst. Gemüse
muss sein, sagt meine Frau. Zum Ausgleich jeweils zwei Päckchen Mayonnaise und
Ketchup auf das Grünzeug. Fertig ist das Diät-Gericht aus der Spitalsküche. Zum
Runterspülen einen großen Pappeimer Pepsi.
Beim Genießen erfreue ich mich an wogenden und schnaufenden amerikanischen Körperformen.
Und ich weigere mich (wie jene), einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem,
was meine Augen sehen, und was ich auf der Zunge schmecke. Beim letzten Mal
habe ich meine ersten echten Police Detectives
gesehen, true detectives sozusagen. Mit
polierter Dienstmarke und allem. Sie speisten zeitgleich mit mir und am Tisch gleich
gegenüber. Echt beeindruckend. Zwei richtige Kerls, die garantiert jeden
Gesundheitscheck im Herumkugeln schaffen, zum Einsatz rollen und den zu
Verhaftenden niederwälzen. Im Fernsehen sehen die Detectives immer anders aus.
Juliane hat mir, damit ich auch
Ordentliches esse, Kaiser Rolls
gekauft. Kaisersemmeln! Einige weisen sogar das typische Sonnenradmuster auf. Auch
die Größe passt in etwa. Was die Kaisersemmeln hier von denen zuhause unterscheidet,
ist das Krachen. Diese Semmeln krachen nicht. Hier ist es weich, ein Brot zu
sein! Um ein traditionelles, resches Brot oder Gebäck zwischen die unterbeschäftigten
Zähne zu bekommen, muss man sich vertrauensvoll an die Amish wenden. Kein Witz, die Sekte, die aus religiöser Überzeugung
noch wie im neunzehnten Jahrhundert lebt, vertreibt traditionell gebackenes
Brot und Gebäck. Für alte Einwanderungsländer typisch fällt alles Deutschsprachige
unter den Oberbegriff German. German (deutsch) waren Mann und Frau auch
wenn sie aus der Schweiz, den Niederlanden (dutch),
Österreich oder eben Deutschland kamen. Da war man großzügig. Entsprechend gibt
es die echten Kaisersemmeln unter dem Label German
Deli. Und auch einiges mehr. Den Rest der alt-österreichischen Nahrungsmittel
wie etwa Suppennudeln vertreiben jüdische Firmen und werden als US-amerikanisch
wahrgenommen, z.B. die Traditionsfirma Manischewitz.
Diese Sachen schmecken genau wie daheim.
Wir haben uns außerdem einen George Foreman-Grill angeschafft. Und
ich muss sagen, ich liebe dieses Teil. Getreu dem Motto, dass ein
amerikanischer Mann zwar Fleisch verspeisen muss, dazu aber nicht unbedingt
jede einzelne Unze Fett mitverschlingen muss, wurde dieses fabelhafte Gerät
entwickelt Und es wirkt, ich ernähre mich total gesund seither, esse jeden
Mittag einen Schinken-Käse-Toast. Außer ich muss zur Behandlung, dann gibt es
einen Double Cheeseburger.
Mein Leben rotiert nicht nur um
den Tellerrand, meine Gedanken kreisen nicht bloß um die nächste Mahlzeit. Weit
gefehlt. Ich gehe auch spazieren. Und die Blütenpracht dieser Tage ist unbeschreiblich.
Der Botanische Garten um das alte Mash-Anwesen leuchtet in allen Farben. Einer
der schönsten Eindrücke der USA für den europäischen Besucher ist meiner
Meinung nach, dass man hier die Bäume in Ruhe lässt. Diese fantastischen
Geschöpfe erreichen hier Höhen und Ausmaße, bei denen der Hausbesitzer und Spaziergänger
bei uns sich längst in Angstkrämpfen auf dem Rücken windet. Die White Oaks und viele andere überragen
das zwei- bis dreistöckige Gebäude um ein vielfaches. Kein Sturm kann sie
brechen, kein Gewitter sie knicken, und kein Baumdoktor zu Tode kurieren.
Gefahr droht den Pflanzen einzig von den StudentInnen der hiesigen Forstwirtschaft.
Ich habe sie bereits liebevoll Gartenvernichter
getauft. Ich maße mir nicht an, Experte für Gartenkultur zu sein. Aber ich wunderte
mich, weshalb der fleißige junge Student der Forstkultur gegen 11 Uhr Vormittag
die Blühpflanzen goss. Als nachmittags der ältere Glatzkopf im Ruderhemd, der dort
sonst den Rasen mähte, einen Wutanfall bekam, weil alle Lilien und Sträucher von
der Mittagssonne verbrannt worden waren, wusste ich, dass ich immer noch mehr
Ahnung hatte als die Mädels und Burschen, denen bisher Mutti und Vati die Gartenarbeit
abgenommen hatten. Falls es nicht Afro-Amerikaner und hispanische Mitbürger
gewesen sind wie sonst üblich. Leider sieht auch die herrliche Stechpalme
inzwischen wie eine Unglückliche mit Dauerwelle aus, die eine markante Begegnung
mit einem Rasierer ohne Scherkopfaufsatz hatte. Eine Landebahn bzw. ein Loch geschoren.
Den Baumschnitt haben sie in einen Plastiksack gepackt und eine Nacht und einen
weiteren Tag in der grünen Wiese stehen lassen. Die Stelle sieht jetzt goldig
aus. Aber die jungen Leute sind begeistert, das ist wichtig. Sie machen das
auch alles ganz chic. Sie selbst drapieren sich in jeder Pause ansehnlich in
der Wiese. Ich bin mir sicher, dass es in den sozialen Netzwerken jede Menge fesche
Fotos von ihnen in ihrer Funktionskleidung gibt.
Ich selbst trage endlich die
Kleidung, die mir am liebsten ist. Und mit mir tun es fast alle. Wer mag kurze
Hosen? Ich mag kurze Hosen! Es leben die amerikanischen Cargo Shorts!
Leider sind unsere Nachbarskinder
weggezogen. Ich vermisse schon jetzt den kleinen Kerl, der redlich mit Umhang
und Holzschwert im Garten auf und ab gelaufen ist. Weniger vermisse ich das
allmorgendliche Ritual, dass Daddy eingeführt hatte, und bei dem es darum
gegangen ist, wer bei seiner Fahrt zur Arbeit am Department am lautesten „Bye!“
rufen konnte. Das ertönt jetzt andernorts, und wir sind gespannt, wer als
Nächstes nebenan einziehen wird.
Fortsetzung folgt…
Rollstuhlfahrer werden ein wenig agiler wahrgenommen... |