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Freitag, 16. Juni 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 6)



6. Schwitzen im Land der unbegrenzten Widersprüche


I asked for it“, könnte man sagen. Und man hätte Recht damit. Drei Wochen neuenglischer Dauerregen ließen mich meine Finger nicht aus den Augen verlieren. Es hätte durchaus sein können, dass sich dort bereits Schwimmhäute bildeten. Aber jetzt ist es soweit, die Temperaturanzeige ist von den 80igern in die 90iger geklettert. Das heißt wir hatten um die 34 Grad. Ich fand diese Umstände großartig. Irgendeinen Vorteil muss mein Zustand haben. Ich habe tatsächlich kaum geschwitzt, während Juliane sanft im eigenen Sud gedünstet wurde. Wehgetan hat mir auch relativ wenig. Stock wegwerfen und rumtanzen war nicht, aber es war angenehmer. Dass es wirklich schön warm geworden ist, habe ich bemerkt, als mir Nebel und Wolken aus dem Eisfach und dem Kühlschrank entgegen krochen wie von einem Andengipfel.
In den USA erfahre ich eine neue Dimension des Schwitzens, wie sie mir bisher nicht bekannt gewesen ist. Schwitzen ist hier dreidimensional. Schwitzen nicht bloß zum Quadrat, die gefühlte Hitze wird quasi in Kubik gemessen. Wir erinnern uns, in der Neuen Welt ist alles größer und intensiver. Das bedeutet, ein dritter Messpunkt gesellt sich zu den mir bisher bekannten, Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Dieser dritte Aspekt war und ist der Dew Point, wörtlich übersetzt, der Taupunkt. Kurz gesagt, es ist der Moment ab dem der abgegebene Schweiß den Körper nicht mehr abzukühlen imstande ist, sich die Luftfeuchtigkeit auf dem geschundenen Leib niederschlägt, und einem der Dreck nur so runterrinnt. Pardon, einem das Wasser den Körper herunterrinnt. Durchnässt von Kopf bis Fuß, wobei die Körpertemperatur steigt und steigt. Anders gesagt, der Dew Point misst die stickyness, die Klebrigkeit. Wenn also das Aufstehen und Ausziehen zum Kraftakt wird, weil man an allem und jedem haftet wie eine abgeleckte Briefmarke. Je weiter in den Süden der USA man reist, erzählte man mir, umso höher wird der Dew Point. Scherz beiseite, in Florida kann das für Asthmatiker lebensbedrohlich werden. Davon sind wir in New Haven weit entfernt, obwohl ich weder in Italien noch in Spanien jemals Vergleichbares erlebt habe.
Der Tierwelt ist das alles ziemlich egal. Ich sitze morgens und abends und schaue und lausche beim Fenster hinaus. Ich lese Henry David Thoreau, um mich mit meinem Leben, und Marcus Tullius Cicero, um mich mit meinem Tod zu versöhnen. Dank des ersten Herrn und einem Besuch im Peabody Museum habe ich einen Eindruck davon, wen ich im Botanischen Garten beobachte. Das amerikanische Rotkehlchen (naturgemäß dreimal so groß wie das europäische), Blauhäher und sogar einen Kardinal und einen Golden Eagle habe ich schon gesehen. Bemerkenswert, wenn sich der riesige Greifvogel mithilfe der Thermik über der brachliegenden Winchester-Fabrik in den Himmel schraubt. In der ersten lauen Sommernacht, besser gesagt, in der ersten Tropennacht (die Temperatur fiel nicht unter 20 Grad), hörten wir aufgeregte Tierstimmen aus dem Park. Sie klangen wie streitende Vögel. Es hätten auch unsere Freunde, die grauen Eichhorne, sein können, weil die sich nämlich untereinander weniger gut leiden können als wir sie mögen. Jedenfalls haben wir etwas Kleines, etwas Niedliches erwartet. Wir leben in der Stadt. Umso erschrockener reagierte Juliane, als sie im Zwielicht der Straßenbeleuchtung drei stattliche zottige Pelzviecher auf der Wiese hinter dem Zaun entdeckte. Gedrungen, kurzbeinig und übellaunig. Die drei Gesellen trafen sich dort, um sich sofort lauthals und in tief empfundener Apathie die Gesellschaft aufzukündigen. In ihrem authentischen und auch ein wenig asozialen Verhalten erinnerten sie mich an gewisse Mitmenschen. Aber indem mir die Assoziation glückte, misslang die Identifizierung unserer tierischen Nachbarn. Gestützt auf Thoreau denke ich, dass die drei Übellaunigen Murmeltiere sein könnten.
Ähnlich verhielt sich ein junger Mann, der sich unter den zentralen Baum zwischen den Universitätsgebäuden setzte, um von dort nachhause zu skypen. In seiner unverkennbaren Muttersprache. Ein wenig bemühter, und es wäre kein WiFi mehr für die Übertragung nötig gewesen, seine Stimme hätte seine Nachricht über den Ozean getragen. Auch wenn ich denke, dass seine eigentliche Botschaft an uns, seine unmittelbaren Mitmenschen, adressiert gewesen ist. Videotelefonie für die Galerie. Wir, die wir im Schatten der Bäume saßen und Erholung suchten, fanden eine detaillierte Ausführung der Erlebnisse und der Theorien über die englische Sprache jenes ungestümen jungen Mannes, der sich zu allem Überdruss auch noch eine Zigarette ansteckte. Da saß er nun und schrie in die Welt hinaus: „Schaut mich an, ich bin in Yale!“ Und das mitten in Yale, auf dem rauchfreien Campus vor dem German Department. Heast Oida, rate mal, wo wir gerade sind? Meine Ungeduld im Schatten stieg mit der Quecksilbersäule in der Sonne. Sein Geplärr im Ohr, seinen Rauch in der Nase war ich bald derart entnervt, ich hätte dem Typen am liebsten die Zigarette aus der Hand genommen und zur Strafe weggeraucht. „Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht. Ich habe es schon hundertmal geschafft“, sagte Mark Twain. Ich war wegen dem Schreihals so fertig, ich hätte einen Aschenbecher auslecken können. Juliane kam rechtzeitig und hat mich abgeführt.
Den besten Double Cheeseburger esse ich im Krankenhaus. Klingt seltsam, ist es auch, entspricht aber den örtlichen Gepflogenheiten. Wahres Krankenhausessen, schmackhaft und nahrhaft. Das bedeutet für mich: Doppelter Burger mit doppelt Käse frisch vom Grill. Die Semmel ist bissfest, sie hat nichts mit den karamellisierten Schaumstoffdingern aus den Franchiseunternehmen gemeinsam. Dazu Gewürzgurke, Salat, Tomate und (verbotenerweise) Zwiebel, man ernährt sich ja bewusst. Gemüse muss sein, sagt meine Frau. Zum Ausgleich jeweils zwei Päckchen Mayonnaise und Ketchup auf das Grünzeug. Fertig ist das Diät-Gericht aus der Spitalsküche. Zum Runterspülen einen großen Pappeimer Pepsi. Beim Genießen erfreue ich mich an wogenden und schnaufenden amerikanischen Körperformen. Und ich weigere mich (wie jene), einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem, was meine Augen sehen, und was ich auf der Zunge schmecke. Beim letzten Mal habe ich meine ersten echten Police Detectives gesehen, true detectives sozusagen. Mit polierter Dienstmarke und allem. Sie speisten zeitgleich mit mir und am Tisch gleich gegenüber. Echt beeindruckend. Zwei richtige Kerls, die garantiert jeden Gesundheitscheck im Herumkugeln schaffen, zum Einsatz rollen und den zu Verhaftenden niederwälzen. Im Fernsehen sehen die Detectives immer anders aus.
Juliane hat mir, damit ich auch Ordentliches esse, Kaiser Rolls gekauft. Kaisersemmeln! Einige weisen sogar das typische Sonnenradmuster auf. Auch die Größe passt in etwa. Was die Kaisersemmeln hier von denen zuhause unterscheidet, ist das Krachen. Diese Semmeln krachen nicht. Hier ist es weich, ein Brot zu sein! Um ein traditionelles, resches Brot oder Gebäck zwischen die unterbeschäftigten Zähne zu bekommen, muss man sich vertrauensvoll an die Amish wenden. Kein Witz, die Sekte, die aus religiöser Überzeugung noch wie im neunzehnten Jahrhundert lebt, vertreibt traditionell gebackenes Brot und Gebäck. Für alte Einwanderungsländer typisch fällt alles Deutschsprachige unter den Oberbegriff German. German (deutsch) waren Mann und Frau auch wenn sie aus der Schweiz, den Niederlanden (dutch), Österreich oder eben Deutschland kamen. Da war man großzügig. Entsprechend gibt es die echten Kaisersemmeln unter dem Label German Deli. Und auch einiges mehr. Den Rest der alt-österreichischen Nahrungsmittel wie etwa Suppennudeln vertreiben jüdische Firmen und werden als US-amerikanisch wahrgenommen, z.B. die Traditionsfirma Manischewitz. Diese Sachen schmecken genau wie daheim.
Wir haben uns außerdem einen George Foreman-Grill angeschafft. Und ich muss sagen, ich liebe dieses Teil. Getreu dem Motto, dass ein amerikanischer Mann zwar Fleisch verspeisen muss, dazu aber nicht unbedingt jede einzelne Unze Fett mitverschlingen muss, wurde dieses fabelhafte Gerät entwickelt Und es wirkt, ich ernähre mich total gesund seither, esse jeden Mittag einen Schinken-Käse-Toast. Außer ich muss zur Behandlung, dann gibt es einen Double Cheeseburger.
Mein Leben rotiert nicht nur um den Tellerrand, meine Gedanken kreisen nicht bloß um die nächste Mahlzeit. Weit gefehlt. Ich gehe auch spazieren. Und die Blütenpracht dieser Tage ist unbeschreiblich. Der Botanische Garten um das alte Mash-Anwesen leuchtet in allen Farben. Einer der schönsten Eindrücke der USA für den europäischen Besucher ist meiner Meinung nach, dass man hier die Bäume in Ruhe lässt. Diese fantastischen Geschöpfe erreichen hier Höhen und Ausmaße, bei denen der Hausbesitzer und Spaziergänger bei uns sich längst in Angstkrämpfen auf dem Rücken windet. Die White Oaks und viele andere überragen das zwei- bis dreistöckige Gebäude um ein vielfaches. Kein Sturm kann sie brechen, kein Gewitter sie knicken, und kein Baumdoktor zu Tode kurieren. Gefahr droht den Pflanzen einzig von den StudentInnen der hiesigen Forstwirtschaft. Ich habe sie bereits liebevoll Gartenvernichter getauft. Ich maße mir nicht an, Experte für Gartenkultur zu sein. Aber ich wunderte mich, weshalb der fleißige junge Student der Forstkultur gegen 11 Uhr Vormittag die Blühpflanzen goss. Als nachmittags der ältere Glatzkopf im Ruderhemd, der dort sonst den Rasen mähte, einen Wutanfall bekam, weil alle Lilien und Sträucher von der Mittagssonne verbrannt worden waren, wusste ich, dass ich immer noch mehr Ahnung hatte als die Mädels und Burschen, denen bisher Mutti und Vati die Gartenarbeit abgenommen hatten. Falls es nicht Afro-Amerikaner und hispanische Mitbürger gewesen sind wie sonst üblich. Leider sieht auch die herrliche Stechpalme inzwischen wie eine Unglückliche mit Dauerwelle aus, die eine markante Begegnung mit einem Rasierer ohne Scherkopfaufsatz hatte. Eine Landebahn bzw. ein Loch geschoren. Den Baumschnitt haben sie in einen Plastiksack gepackt und eine Nacht und einen weiteren Tag in der grünen Wiese stehen lassen. Die Stelle sieht jetzt goldig aus. Aber die jungen Leute sind begeistert, das ist wichtig. Sie machen das auch alles ganz chic. Sie selbst drapieren sich in jeder Pause ansehnlich in der Wiese. Ich bin mir sicher, dass es in den sozialen Netzwerken jede Menge fesche Fotos von ihnen in ihrer Funktionskleidung gibt.
Ich selbst trage endlich die Kleidung, die mir am liebsten ist. Und mit mir tun es fast alle. Wer mag kurze Hosen? Ich mag kurze Hosen! Es leben die amerikanischen Cargo Shorts!
Leider sind unsere Nachbarskinder weggezogen. Ich vermisse schon jetzt den kleinen Kerl, der redlich mit Umhang und Holzschwert im Garten auf und ab gelaufen ist. Weniger vermisse ich das allmorgendliche Ritual, dass Daddy eingeführt hatte, und bei dem es darum gegangen ist, wer bei seiner Fahrt zur Arbeit am Department am lautesten „Bye!“ rufen konnte. Das ertönt jetzt andernorts, und wir sind gespannt, wer als Nächstes nebenan einziehen wird.

Fortsetzung folgt…

Rollstuhlfahrer werden ein wenig agiler wahrgenommen...