Teil 7: Die amerikanische Leere
Wer die Gemälde von Edward Hopper
(z.B.: Nighthawks) kennt, wird sofort
wissen, wovon ich spreche. Manchmal überfällt sie Juliane und mich, die
amerikanische Leere. Sie kommt völlig unerwartet, und dann ist sie da.
Raumgreifend und spürbar. Und Raum gibt es sehr viel in den USA. Ich glaube,
darum laufen ständig irgendwo ein Musikprogramm, ein Talkradio und/oder ein
Screen, um die Leere zu füllen. Dabei hat sie auch etwas Wunderschönes.
Besonders in der Natur, oder besser gesagt: auf den Inseln aus Natur zwischen
den Ballungszentren. Weniger schön finde ich sie, sobald die amerikanische
Leere Gemeinschaft aus Vergessen schafft. Wenn angesichts all der Weite und des
Raums nur noch geglaubt wird, was man sich auf den Küchentisch stellen oder in
den Mund stecken kann. Oder noch schlimmer, bloß für Dollars kaufen kann. Ist
jede Philosophie und alle Religion vergessen, gedeiht die Nation. Einen
Schmarren tut sie, was gedeiht, ist die Segregation.
Alle Engel und Heiligenfiguren im Krankenhausshop sind farbig. Schreiend davonlaufen
möchte ich allerdings auch, wenn man mir treuen Auges versichert, Jesus wähle
republikanisch. Käme Jesus von einem Besuch aus den USA zurück, käme sehr bald dort
oben die Durchsage: „Paulus ins Büro zum Chef! So war das alles nicht gemeint.“
Ich habe es bisher noch immer nicht
geschafft, trotz heißen Bemühens und Beratung, ein unabhängiges
Nachrichtenprogramm zu finden. Es gibt keine Nachrichtensendung, die keine,
immerhin klar ausgewiesene politische Richtung bedient. Die privaten Fernseh-
und Radiostationen sind für mich unverdaulich. Klingt wie weiland Tante Erna
beim erstmaligen Angucken deutschen Privatfernsehens mit Werbeunterbrechung Ende
der Achtziger: „Da habe ich inzwischen vergessen, welches Programm ich
angesehen habe.“ Klingt albern, ist aber wirklich so. Wir haben uns entschieden,
ohne TV zu leben. Uns geht nichts ab. Hunderte Privatsender, und was sehe ich?
Werbung! Im Radio beinahe dasselbe, außer im Talkradio. Vor dem Anhören (und
Zustimmen) sollte man aber unbedingt wissen, welcher Partei oder Gruppierung
die Macher nahestehen. Meine Suche nach unabhängiger Information blieb bislang
erfolglos. Ausnahme: New York Times. Streaming-Dienste
habe ich probiert. Zum einen dünsten sie mich im eigenen Saft, weil ich nichts
außerhalb meiner Algorithmen angeboten bekomme. Ich lerne auf die Art und Weise
nichts, oder kaum etwas Neues kennen. Zum anderen empfinde ich sie als Bauernfängerei.
Die ersten Serienfolgen sind im Abo, die restlichen muss ich einzelnen oder im
Block bezahlen. Natürlich zusätzlich zum Mitgliedsbeitrag. Falls das Kaufen der
Programme überhaupt funktioniert. Einmal geht es nicht, weil ich keine Kreditkarte
von einer US-amerikanischen Bank habe. Ein andermal nicht, weil mein
Hauptwohnsitz nicht in den USA liegt, ich aber eine US-Adresse habe. Oder
umgekehrt. Zum Schreien! Ich vermisse die öffentlich-rechtlichen Sender! Tatsächlich
höre ich auch hier täglich die Ö1-Journale. Aber obwohl ich brav GIS bezahle,
sehe ich in der ORF Tvthek auch nicht
mehr als die Werbung und den freundlichen Hinweis, dass dieses Video in meinem
Land nicht angezeigt wird. Bei ARD und ZDF übrigens genau dasselbe. (Gilt nicht
für Nachrichten, aber für Sportübertragungen und Dokus.) Was ich also überall
zu sehen und zu hören bekomme, ist Werbung! Also bleiben TV und Radio aus.
Leere herrscht auch in meiner
Garage. Ich habe schon einmal eingeräumt, dass wir zusammen mit dem Apartment
eine Garage mieten, und ich das als seltsam empfinde. Im Land der Freien und
Tapferen ist es aber schließlich meine Sache, wenn ich das Ding miete, um es
leer stehen zu lassen! Dachte ich, und ich war überrascht, wie vieles an so
einer einfachen Sache hängt wie ein Rattenschwanz. Zunächst einmal ist das
Haus, in dem unser Apartment ist, das einzige in Privatbesitz ringsum. Alle
anderen gehören Yale, inklusive der teilweise leerstehenden Fabrik. Kann ich
verstehen, wäre ich Walter White statt David Weiss, dort würde ich meine
Meth-Küche einrichten. Niemand will ein Drogenlabor in der neighbourhood. Letzte Nacht fand auch ohne eine Schießerei ganz in
der Nähe statt. Und darum geht es letztlich auch. Die Universität kauft
sukzessive alle angrenzenden Gebäude, Geschäftslokale und Betriebsgelände auf,
um zu kontrollieren, wer sich in ihrem Umfeld ansiedelt und Geschäfte macht. Das
Präsidium bestimmt sogar die Öffnungszeiten der Läden, bis 20:00 Uhr. Der Witz
an der Sache, die Uni zahlt keine Steuern, weil sie, anders als bei uns, frei
ist und als non-profit-organisation
gilt. Zählt man jetzt Eins und Eins zusammen, dann wundern die Spannungen
zwischen Stadtregierung und Universität niemanden mehr. Aber was hat das mit
mir und meiner Garage zu tun? Die Nachbarhäuser gehören Yale-Housing. Die Bewohner gehören zu Yale. Eine lange Geschichte
kurz gemacht: Da stand ein schwarzer Lexus
in meiner Garage! Zuerst dachte ich, lass ihn halt. Ich brauche das Ding nicht.
Aber dann: Come on! Das ist ein Lexus. Du zahlst Miete für einen Lexus. Dass der gut behaust Nacht und
Wetter übersteht. So etwas nagt an einem, an mir jedenfalls. Da ich den Eigner
nie angetroffen habe, habe ich in meinem charmantesten Denglish ein Briefchen verfasst: Wenn er oder sie das möchte, dann
ist diese Garage zu mieten. Ich gebe sie gerne ab. Dazu gab ich die
Kontaktadresse meines Vermieters an. Seither herrschen in meiner Garage die
amerikanische Leere und die amerikanische Freiheit! Ich sitze also jeden Abend schmallippig
wie Clint Eastwood auf der Veranda und genieße den Anblick meiner leeren
Garage. Mit einer Flasche Ginger Brew,
jedes Ginger Ale erblasst vor seiner erfrischenden Schärfe, oder Cream Soda, schmeckt wie Werthers Echte Karamellbonbons aufgelöst
in Soda. God bless America!
Nichts schlägt die Weite und die
Stille über dem Ozean. Niemand vergisst jemals den Augenblick auf einem
Segelschiff, wenn der Motor erstmals schweigt und Wind und Takelage zum ersten
Mal im Leben das Tempo machen. Juliane und ich haben den Hafen und das
Museumsdorf von Mystique, CT besucht, und es ist und bleibt wie es James T.
Kirk gesagt hat (TOS/ The Ultimate
Computer, nach einem Gedicht von John Masefield):
“’All I ask is a tall ship and a star
to steer it by.’
You could feel the wind at your back in those days.
The sounds of the sea beneath you. Even if you take away the wind and the water, it's still the same.
The ship is yours. You can feel her.
And the stars are still there, Bones.”
You could feel the wind at your back in those days.
The sounds of the sea beneath you. Even if you take away the wind and the water, it's still the same.
The ship is yours. You can feel her.
And the stars are still there, Bones.”
In Mystique im Hafen liegen
mehrere historische Schiffe. Die drei berühmtesten sind die Charles W. Morgan, das letzte erhaltene
Walfangschiff aus Holz, das Segelschulschiff Joseph Conrad und das größte Wikingerschiff der Gegenwart, der Draken Harald Hårfagre. Unnötig zu
sagen, dass ich mich hier gefühlt habe wie ein Fisch im Wasser. Einzig in den
USA war es mir möglich, zum Opfer einer Fotobombe aus Amish zu werden. Bei
dieser Begegnung habe ich gelernt, dass Amish nichts vom Fasten halten.
Trotzdem, oder gerade darum war
mein erster Eindruck, wie zutreffend und passend alle Proportionen der Welt von
damals waren, die noch keine vollen hundert Jahre vorbei ist. Kein Haus, kein
Schiff, kein Boot war größer als es der Zweck erforderte. Nichts wirkte
ärmlich, aber geschmackvoll. Auf dem Walfänger war ich, bisher nur historische
Kriegs- bzw. Expeditionsschiffe oder Ostasienfahrer „gewohnt“, überrascht wie
viel Platz im Vergleich die Mannschaft zum Leben hatte. Die Holländer bauten um
einen Lagerraum einen Antrieb, die Kriegsmarinen einen um die Stücke und
Kanonen. Hier gab es im Vorderkastell ein Mannschaftsquartier mit Kojen. Industriell
gefertigte Produkte aus Kunststoffen oder Plastik aus fossilen Rohstoffen gab
es nicht, oder in vergleichsweise winzigen Mengen, z.B.: Benzin als
Fleckputzmittel.
Der klassische Walfänger, der sich mit Beiboot und Harpune auf
die Jagd gemacht hat, ist heute restlos verschwunden. Der US-amerikanische
Autor Herman Melville, der selbst Walfänger gewesen war, sah sich als Anwalt
des in seinen Augen zu Unrecht als unrein verschrienen Schlächter-und-Fleischer-Handwerks.
Er schrieb seinen heute weltberühmten Roman „Moby-Dick“ (1851). Kaum zu glauben, dass er sich mit dem Buch zeitlebens
die Karriere ruiniert hatte. Im Bauch der Charles
W. Morgan habe ich seinen Captain Ahab besser verstehen gelernt. Bisher
hatte ich mich auf Schiffen immer problemlos bewegt, niemals habe ich mir unter
Deck auch nur den Kopf angeschlagen. Diesmal bewegte ich mich durch den Rumpf
wie eine mit Sandsäcken behängte Schildkröte. Hätte mir die Behinderung ein Wal
angetan wie Moby-Dick dem Ahab, ich würde diesen Wal jagen bis an die Tore der
Hölle.
Was in der Gegenwart auf und in
den Schiffen fehlte, war der Geruch bzw. der Gestank. Die Mayflower II, die in der Werft zur Reparatur auf Dock liegt, stinkt,
sagt meine Frau. Ich würde sagen, sie verströmt jenen brunftigen Geruch des
Meeres, den Seeleute mit etwas verglichen haben das ich hier nicht wiederholen
werde.
Das Leben vor fünf Generationen
ohne Kunststoffe und Plastik muss sich für sensible Gemüter und Veganer
anfühlen, wie das Leben in einem Leichnam. Wenigstens wie auf einem
Komposthaufen. Beinahe jeder Gebrauchsgegenstand beinhaltete oder bestand
vollständig aus totem Tier. Ebenso die Kleidung und alle Accessoires.
Konsumartikel gab es bereits reichlich, aber sie wurden wie alles andere nachhaltig
und wiederverwertbar produziert. Möbel waren aus Vollholz gefertigt, sie wurden
über Generationen vererbt. Warf jemand etwas weg, konnte sie oder er sicher
sein, dass es fast vollständig verrottete. Was auf dem Abfall landete, zerfiel
mehrheitlich in seine Bestandteile. Übrig blieb im Grund nur das Übliche,
nämlich Glas, Metall und Tonware. Somit alle Rohstoffe, die nicht aus oder von
Pflanzen und Tieren gewonnen waren. Dummerweise hat sich das Abfallverhalten
seit damals nicht geändert, die Rohstoffe schon.
In der stilechten Taverne
wurden Essen und Getränke auf Plastik serviert, auch das Besteck bestand aus
Kunststoff. Wer jetzt denkt, dass das Konsumation und Bedienung billiger
gemacht hat, der irrt. Im Restaurant neben dem Museumsareal, mit Concierge,
persönlicher Bedienung und Geschirr aus Keramik und Metall, haben wir exakt
dieselbe Summe für unser (riesiges) Abendessen wie für den Mittagssnack
bezahlt.
Die Schwellenangst brachte es mit
sich, von den Ausflüglern traute sich kaum jemand in das Restaurant, Juliane
und ich saßen bald alleine im Gastgarten bei Sonnenuntergang im Neuenglandidyll.
Der Blick über Flussmündung und Hafen, das Glitzern über dem Wasser und das
Rauschen der Bäume, all das beschwor sie herauf, die amerikanische Leere. Ich
liebe sie!
Fortsetzung folgt…
(Diesmal nicht in einer, eher in zwei Wochen!)