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Samstag, 24. Juni 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 7)



Teil 7: Die amerikanische Leere


Wer die Gemälde von Edward Hopper (z.B.: Nighthawks) kennt, wird sofort wissen, wovon ich spreche. Manchmal überfällt sie Juliane und mich, die amerikanische Leere. Sie kommt völlig unerwartet, und dann ist sie da. Raumgreifend und spürbar. Und Raum gibt es sehr viel in den USA. Ich glaube, darum laufen ständig irgendwo ein Musikprogramm, ein Talkradio und/oder ein Screen, um die Leere zu füllen. Dabei hat sie auch etwas Wunderschönes. Besonders in der Natur, oder besser gesagt: auf den Inseln aus Natur zwischen den Ballungszentren. Weniger schön finde ich sie, sobald die amerikanische Leere Gemeinschaft aus Vergessen schafft. Wenn angesichts all der Weite und des Raums nur noch geglaubt wird, was man sich auf den Küchentisch stellen oder in den Mund stecken kann. Oder noch schlimmer, bloß für Dollars kaufen kann. Ist jede Philosophie und alle Religion vergessen, gedeiht die Nation. Einen Schmarren tut sie, was gedeiht, ist die Segregation. Alle Engel und Heiligenfiguren im Krankenhausshop sind farbig. Schreiend davonlaufen möchte ich allerdings auch, wenn man mir treuen Auges versichert, Jesus wähle republikanisch. Käme Jesus von einem Besuch aus den USA zurück, käme sehr bald dort oben die Durchsage: „Paulus ins Büro zum Chef! So war das alles nicht gemeint.“
Ich habe es bisher noch immer nicht geschafft, trotz heißen Bemühens und Beratung, ein unabhängiges Nachrichtenprogramm zu finden. Es gibt keine Nachrichtensendung, die keine, immerhin klar ausgewiesene politische Richtung bedient. Die privaten Fernseh- und Radiostationen sind für mich unverdaulich. Klingt wie weiland Tante Erna beim erstmaligen Angucken deutschen Privatfernsehens mit Werbeunterbrechung Ende der Achtziger: „Da habe ich inzwischen vergessen, welches Programm ich angesehen habe.“ Klingt albern, ist aber wirklich so. Wir haben uns entschieden, ohne TV zu leben. Uns geht nichts ab. Hunderte Privatsender, und was sehe ich? Werbung! Im Radio beinahe dasselbe, außer im Talkradio. Vor dem Anhören (und Zustimmen) sollte man aber unbedingt wissen, welcher Partei oder Gruppierung die Macher nahestehen. Meine Suche nach unabhängiger Information blieb bislang erfolglos. Ausnahme: New York Times. Streaming-Dienste habe ich probiert. Zum einen dünsten sie mich im eigenen Saft, weil ich nichts außerhalb meiner Algorithmen angeboten bekomme. Ich lerne auf die Art und Weise nichts, oder kaum etwas Neues kennen. Zum anderen empfinde ich sie als Bauernfängerei. Die ersten Serienfolgen sind im Abo, die restlichen muss ich einzelnen oder im Block bezahlen. Natürlich zusätzlich zum Mitgliedsbeitrag. Falls das Kaufen der Programme überhaupt funktioniert. Einmal geht es nicht, weil ich keine Kreditkarte von einer US-amerikanischen Bank habe. Ein andermal nicht, weil mein Hauptwohnsitz nicht in den USA liegt, ich aber eine US-Adresse habe. Oder umgekehrt. Zum Schreien! Ich vermisse die öffentlich-rechtlichen Sender! Tatsächlich höre ich auch hier täglich die Ö1-Journale. Aber obwohl ich brav GIS bezahle, sehe ich in der ORF Tvthek auch nicht mehr als die Werbung und den freundlichen Hinweis, dass dieses Video in meinem Land nicht angezeigt wird. Bei ARD und ZDF übrigens genau dasselbe. (Gilt nicht für Nachrichten, aber für Sportübertragungen und Dokus.) Was ich also überall zu sehen und zu hören bekomme, ist Werbung! Also bleiben TV und Radio aus.
Leere herrscht auch in meiner Garage. Ich habe schon einmal eingeräumt, dass wir zusammen mit dem Apartment eine Garage mieten, und ich das als seltsam empfinde. Im Land der Freien und Tapferen ist es aber schließlich meine Sache, wenn ich das Ding miete, um es leer stehen zu lassen! Dachte ich, und ich war überrascht, wie vieles an so einer einfachen Sache hängt wie ein Rattenschwanz. Zunächst einmal ist das Haus, in dem unser Apartment ist, das einzige in Privatbesitz ringsum. Alle anderen gehören Yale, inklusive der teilweise leerstehenden Fabrik. Kann ich verstehen, wäre ich Walter White statt David Weiss, dort würde ich meine Meth-Küche einrichten. Niemand will ein Drogenlabor in der neighbourhood. Letzte Nacht fand auch ohne eine Schießerei ganz in der Nähe statt. Und darum geht es letztlich auch. Die Universität kauft sukzessive alle angrenzenden Gebäude, Geschäftslokale und Betriebsgelände auf, um zu kontrollieren, wer sich in ihrem Umfeld ansiedelt und Geschäfte macht. Das Präsidium bestimmt sogar die Öffnungszeiten der Läden, bis 20:00 Uhr. Der Witz an der Sache, die Uni zahlt keine Steuern, weil sie, anders als bei uns, frei ist und als non-profit-organisation gilt. Zählt man jetzt Eins und Eins zusammen, dann wundern die Spannungen zwischen Stadtregierung und Universität niemanden mehr. Aber was hat das mit mir und meiner Garage zu tun? Die Nachbarhäuser gehören Yale-Housing. Die Bewohner gehören zu Yale. Eine lange Geschichte kurz gemacht: Da stand ein schwarzer Lexus in meiner Garage! Zuerst dachte ich, lass ihn halt. Ich brauche das Ding nicht. Aber dann: Come on! Das ist ein Lexus. Du zahlst Miete für einen Lexus. Dass der gut behaust Nacht und Wetter übersteht. So etwas nagt an einem, an mir jedenfalls. Da ich den Eigner nie angetroffen habe, habe ich in meinem charmantesten Denglish ein Briefchen verfasst: Wenn er oder sie das möchte, dann ist diese Garage zu mieten. Ich gebe sie gerne ab. Dazu gab ich die Kontaktadresse meines Vermieters an. Seither herrschen in meiner Garage die amerikanische Leere und die amerikanische Freiheit! Ich sitze also jeden Abend schmallippig wie Clint Eastwood auf der Veranda und genieße den Anblick meiner leeren Garage. Mit einer Flasche Ginger Brew, jedes Ginger Ale erblasst vor seiner erfrischenden Schärfe, oder Cream Soda, schmeckt wie Werthers Echte Karamellbonbons aufgelöst in Soda. God bless America!
Nichts schlägt die Weite und die Stille über dem Ozean. Niemand vergisst jemals den Augenblick auf einem Segelschiff, wenn der Motor erstmals schweigt und Wind und Takelage zum ersten Mal im Leben das Tempo machen. Juliane und ich haben den Hafen und das Museumsdorf von Mystique, CT besucht, und es ist und bleibt wie es James T. Kirk gesagt hat (TOS/ The Ultimate Computer, nach einem Gedicht von John Masefield):
’All I ask is a tall ship and a star to steer it by.’
You could feel the wind at your back in those days.
The sounds of the sea beneath you. Even if you take away the wind and the water, it's still the same.
The ship is yours. You can feel her.
And the stars are still there, Bones.”

In Mystique im Hafen liegen mehrere historische Schiffe. Die drei berühmtesten sind die Charles W. Morgan, das letzte erhaltene Walfangschiff aus Holz, das Segelschulschiff Joseph Conrad und das größte Wikingerschiff der Gegenwart, der Draken Harald Hårfagre. Unnötig zu sagen, dass ich mich hier gefühlt habe wie ein Fisch im Wasser. Einzig in den USA war es mir möglich, zum Opfer einer Fotobombe aus Amish zu werden. Bei dieser Begegnung habe ich gelernt, dass Amish nichts vom Fasten halten.
Trotzdem, oder gerade darum war mein erster Eindruck, wie zutreffend und passend alle Proportionen der Welt von damals waren, die noch keine vollen hundert Jahre vorbei ist. Kein Haus, kein Schiff, kein Boot war größer als es der Zweck erforderte. Nichts wirkte ärmlich, aber geschmackvoll. Auf dem Walfänger war ich, bisher nur historische Kriegs- bzw. Expeditionsschiffe oder Ostasienfahrer „gewohnt“, überrascht wie viel Platz im Vergleich die Mannschaft zum Leben hatte. Die Holländer bauten um einen Lagerraum einen Antrieb, die Kriegsmarinen einen um die Stücke und Kanonen. Hier gab es im Vorderkastell ein Mannschaftsquartier mit Kojen. Industriell gefertigte Produkte aus Kunststoffen oder Plastik aus fossilen Rohstoffen gab es nicht, oder in vergleichsweise winzigen Mengen, z.B.: Benzin als Fleckputzmittel. 

Der klassische Walfänger, der sich mit Beiboot und Harpune auf die Jagd gemacht hat, ist heute restlos verschwunden. Der US-amerikanische Autor Herman Melville, der selbst Walfänger gewesen war, sah sich als Anwalt des in seinen Augen zu Unrecht als unrein verschrienen Schlächter-und-Fleischer-Handwerks. Er schrieb seinen heute weltberühmten Roman „Moby-Dick“ (1851). Kaum zu glauben, dass er sich mit dem Buch zeitlebens die Karriere ruiniert hatte. Im Bauch der Charles W. Morgan habe ich seinen Captain Ahab besser verstehen gelernt. Bisher hatte ich mich auf Schiffen immer problemlos bewegt, niemals habe ich mir unter Deck auch nur den Kopf angeschlagen. Diesmal bewegte ich mich durch den Rumpf wie eine mit Sandsäcken behängte Schildkröte. Hätte mir die Behinderung ein Wal angetan wie Moby-Dick dem Ahab, ich würde diesen Wal jagen bis an die Tore der Hölle.
Was in der Gegenwart auf und in den Schiffen fehlte, war der Geruch bzw. der Gestank. Die Mayflower II, die in der Werft zur Reparatur auf Dock liegt, stinkt, sagt meine Frau. Ich würde sagen, sie verströmt jenen brunftigen Geruch des Meeres, den Seeleute mit etwas verglichen haben das ich hier nicht wiederholen werde.
Das Leben vor fünf Generationen ohne Kunststoffe und Plastik muss sich für sensible Gemüter und Veganer anfühlen, wie das Leben in einem Leichnam. Wenigstens wie auf einem Komposthaufen. Beinahe jeder Gebrauchsgegenstand beinhaltete oder bestand vollständig aus totem Tier. Ebenso die Kleidung und alle Accessoires. Konsumartikel gab es bereits reichlich, aber sie wurden wie alles andere nachhaltig und wiederverwertbar produziert. Möbel waren aus Vollholz gefertigt, sie wurden über Generationen vererbt. Warf jemand etwas weg, konnte sie oder er sicher sein, dass es fast vollständig verrottete. Was auf dem Abfall landete, zerfiel mehrheitlich in seine Bestandteile. Übrig blieb im Grund nur das Übliche, nämlich Glas, Metall und Tonware. Somit alle Rohstoffe, die nicht aus oder von Pflanzen und Tieren gewonnen waren. Dummerweise hat sich das Abfallverhalten seit damals nicht geändert, die Rohstoffe schon.
In der stilechten Taverne wurden Essen und Getränke auf Plastik serviert, auch das Besteck bestand aus Kunststoff. Wer jetzt denkt, dass das Konsumation und Bedienung billiger gemacht hat, der irrt. Im Restaurant neben dem Museumsareal, mit Concierge, persönlicher Bedienung und Geschirr aus Keramik und Metall, haben wir exakt dieselbe Summe für unser (riesiges) Abendessen wie für den Mittagssnack bezahlt.
Die Schwellenangst brachte es mit sich, von den Ausflüglern traute sich kaum jemand in das Restaurant, Juliane und ich saßen bald alleine im Gastgarten bei Sonnenuntergang im Neuenglandidyll. Der Blick über Flussmündung und Hafen, das Glitzern über dem Wasser und das Rauschen der Bäume, all das beschwor sie herauf, die amerikanische Leere. Ich liebe sie!


Fortsetzung folgt…
(Diesmal nicht in einer, eher in zwei Wochen!)