Bisher erschienen:

Bisher erschienen:

Donnerstag, 8. Juni 2017

Ein Ösi in Connecticut (Teil 5)



5. Warten auf den Sommer – Vermischtes aus dem Land der unbegrenzten Widersprüche

Es ist getan, ich habe meine Sommergarderobe. Zwei Cargo Shorts, zwei Sonnenhüte zum Wechseln und alles. Was mir jetzt noch fehlt, sind die sommerlichen Temperaturen. Die Quecksilbersäule im Thermometer, tatsächlich ganz zeitgemäß das Handydisplay (in Celsius und in Fahrenheit), lässt sich aber noch bitten. Und der Wetterbericht gelobt Besserung zum Wochenende. Das gibt Hoffnung. Der Dauerregen, der die Natur grünen und gedeihen lässt, bringt den menschlichen Humor zum Welken. Während draußen also die Blätter sprießen, gehen mir derweil die Blüten aus. Wäre dazu nicht längst alles notiert und wieder vergessen worden, ich käme auf den Gedanken, dass menschliches Temperaturempfinden anerzogen ist. Ich habe nicht wie Charles Darwin gebürtige Feuerländer als Informanten zur Verfügung, niemand hat das mehr, aber die Nachbarskinder tollen in der Unterhose und barfuß im Garten. Ihre Mütter stehen in der langärmligen Fleecejacke daneben, und zu meinen Füßen knackt anheimelnd die Heizung. Auf dem Nummernschild der Eltern steht Florida: The Sunshine State. Naja, vielleicht doch irgendwie genetisch? Dagegen sprechen die Joggerinnen und Läufer aus aller Herren Länder, die bei steigenden Temperaturen und mehr Sonnenstunden demnächst zu Lendenschnur und Peniskalebasse greifen.
Commencement ist endgültig vorbei. Das Feuerwerk war heuer enttäuschend. Zwei Böller quälten sich durch den Niederschlag in die Luft und verpufften. Das Pulver war nass. Immerhin hat es geknallt. Was zur Mitternacht folgte, war nicht imstande mich zu wecken, so dass ich davon ausgehen durfte, nichts versäumt zu haben. Juliane und ich sind dieser Tage im Yale Shuttle aber zwei jungen Herren in pastellfarbenen Kleidern begegnet. Diese beiden boten ein dem Anlass entsprechendes Spektakel: Die beiden Burschen, es waren keine Jungs mehr und noch keine Männer, präsentierten sich und uns, den in ihren Augen mitreisenden Claqueuren, den Bestellkatalog der Absolventenringe. Ihre Darbietung imitierte perfekt die Vor- und Zurschaustellung von Reichtum, mit der Will Smith als Fresh Prince von Bel Air ein Millionenpublikum unterhalten hatte. Das war vor 27 Jahren (O Gott!). Entsprechend fesselte es niemanden mehr im Bus. Im Gegenteil, die meisten waren peinlich berührt. Außerdem war die Bühne falsch gewählt, wir alle hatten entweder einen Abschluss, oder eine Yale-ID. Auch und vor allem der Busfahrer. Das war der Yale-Shuttlebus! Bitte, es stand schon in der Bibel (einem noch viel älterem Blockbuster): Was soll dem Toren Geld in der Hand, Weisheit zu kaufen, wo er doch ohne Verstand ist? (Sprüche 17,16)
Der Science March war eine tolle und vor allem laute Angelegenheit. Da wurden Lieder gesungen und Parolen gerufen. Für die Weisheit, gegen den Präsidenten und vor allem gegen die Dummheit. Wie anno dazumal. In allen keimte die Hoffnung, und sie lebt noch immer, dass Donald Trumps erhobene zwei Daumen demnächst zu einem gleichwertigen historischen Symbol werden wie Richard Nixons erhobene zwei Zeigefinger. Wir marschierten eine Straße hoch/hinauf und die nächste wieder runter. Die Stimmung war großartig. Wir zogen alle an einem Strang. Alle bekannten sich zur Demokratie, zur Republik, zur Wissenschaft und einem aufgeklärten Weltbild. Links und rechts der Straße winkten die Menschen aus den Fenstern und Gärten. In dem Viertel wohnten nur Yalies. Die anderen Gebäude gehörten der Uni. Auch an der Theologie am Ende der Route wehte die Regenbogenfahne. Ein gutes Gefühl! Wir standen alle auf der moralisch richtigen Seite. Wir bekräftigten uns gegenseitig so sehr, dass wir gar nicht merkten, wie sehr das Bild, das wir boten, Schlagseite bekam, und das Schiff, das sich Gesellschaft nannte, langsam kenterte.
Als ich nämlich am Eingang zum Krankenhaus die kurze Treppe zum nächsten Aufzug hinaufmusste, der erste Lift war kaputt, kamen mir erst eine Rettungsfahrerin und dann eine Frau entgegen. Die Frau war entsetzlich dünn, sie sah aus wie ihre eigene Großmutter. Sie fragte die Rettungsfahrerin, ob ihre Sozialarbeiterin wusste, dass sie nachhause kommt. Das wusste wiederum die Gefragte nicht, und sie antwortete, die Frau sollte die Sozialarbeiterin besser anrufen. Aber das ging nicht. Die Frau hatte keine Minuten mehr auf dem Prepaid-Handy.
Ich will in keiner Gesellschaft leben, in der es Zäune gibt. In der Bobos und Reverends vom Elend in Palästina oder sonst wo predigen, während ihnen die Ungerechtigkeit vor der eigenen Haustür völlig egal scheint. In der es Wohngegenden für die einen, und Ghettos für die anderen gibt. Dazu muss ich kein Gutmensch sein. Auch von einem Standpunkt, der geprägt ist von purer Egozentrik, möchte ich niemanden leiden sehen. Der Anblick ruiniert mir den Tag. Und kommt dann auch noch Empathie hinzu, Mitgefühl nicht Mitleid, dann wird es überhaupt unerträglich. Eine Krankenschwester meinte zu mir, man müsse Leid am eigenen Leib erfahren haben, um zu verstehen, was es bedeutet. Ich hoffe, das können wir billiger haben und eher Abhilfe schaffen.
Um die Gegenwart zu verstehen, soll man von und aus der Geschichte lernen. Vor allem um die alten Fehler in Zukunft zu vermeiden. Yale ist ein hervorragender Ort dazu. Hier gibt es fantastische Sammlungen und Museen. Zusammengetragen von Privaten und Universitätsinstituten. Man darf sich also kein kaiserlich-königlich gegründetes Kunsthistorisches oder Naturhistorisches Museum erwarten, man wird trotzdem oder gerade darum begeistert sein. Für Yale-Bulldogs ist der Eintritt frei. Ich bekomme sogar einen Rollstuhl gestellt. Auf dem kann ich durch die Säle rasen und um die Kurven driften. In den Galerien fühle ich mich nämlich rasch alleine. Die Gemälde ziehen wenige Besucher an. Und von den Aufsehern werden wir ganz genau beäugt. Klar, ich habe das lange genug selbst gemacht, ich weiß, zu Versicherungszwecken abgestellt, sehnt man sich nach menschlicher Gesellschaft und Ablenkung. Juliane nimmt das weniger locker, sie fühlt sich wie ein Ausstellungsobjekt oder die Dame mit Bart im Zirkus. Im Peabody Museum, dem Naturkundehaus, trafen wir zahlreiche Eltern mit ihren Kindern.
Juliane und ich haben uns vor allem auf den Saal über die Native American Cultures gefreut. Wie ein Omen waren die Vitrinen leer, mit Backpapier verklebt. Der Staub, erklärten die ausgehängten Texte, setzte den Objekten zu, und die Schau müsse modernisiert werden. Das war enttäuschend. Da halfen auch die Saurierskelette in der großen Halle nicht drüber weg. Die Mineraliensäle sind Wahnsinn. Ich habe noch nie so große und perfekt ausgestrahlte Kristalle und Steinformationen gesehen. Ein paar sehen aus wie aus quietschbunten Plastik und vom Szenenbilder der Originalserie Raumschiff Enterprise entworfen. 
Im Shop am Ende der Tour durchs Haus waren meine Finger weiß und taub, und Juliane klapperten die Zähne vor Kälte. Die Klimaanlage probte die nächste Eiszeit, während im Kassenbereich die Heizkörper auf Hochtouren strahlten. Geht das hier so weiter, unter diesem Präsidenten, dann können wir uns bald die letzte Vitrine im Saal der menschlichen Evolution einrichten. Falls es den Bereich dann noch geben sollte, und sich bis dahin niemand ein Beispiel an der Bildungspolitik von Ankara genommen hat.





Fortsetzung folgt...